Friedrich, Sebastian:
“Polizei trägt Verantwortung für Eskalation” - Interview mit Hans-Christian Ströbele zum NATO-Gipfel
News-Beitrag auf stattweb.de vom 24.April 2009
Stattzeitung für Südbaden: Du
hast am 4.4. an der Demonstration gegen den NATO-Gipfel in Kehl
teilgenommen. War es deiner Meinung nach eine erfolgreiche
Demonstration?
Hans-Christian
Ströbele: Die Demonstration war bis zu dem Zeitpunkt ein Erfolg, an dem
sie an der Brücke angehalten und nicht nach Strasbourg gelassen wurde.
Ich habe mich, auch in Gesprächen mit dem Einsatzleiter der
Bundespolizei, dafür eingesetzt, dass die Demonstration auf die
französische Seite gelassen wird. Es bestand die Chance, dass sich dort
die Situation bei einem Zusammenschluss der beiden Demonstrationszüge
beruhigt hätte.
Als
Bundestagsabgeordneter wurde ich anders als andere Demonstranten über
die Brücke gelassen. Daher konnte ich mir ein Bild der Demonstration
auf der Strasbourger Seite machen. Ich fuhr zur Kundgebung dort und mit
meinem Fahrrad hin und her, um den Polizeieinsatz zu beobachten.
STZT: Mit welcher offiziellen Begründung wurde der Demonstrationszug von Kehl nicht nach Strasbourg gelassen?
HCS:
Das wurde zunächst mit den brennenden Barrikaden auf der französischen
Seite der Brücke begründet. Die Bundes- und Länderpolizei wollte zu
diesem Zeitpunkt nicht auf die Strasbourger Seite. Da ich ja
durchgelassen wurde, konnte ich mit den Leuten an der Barrikade
verhandeln. Es gab durchaus Bereitschaft, die Barrikade abzubauen. Als
der Einsatzleiter dann die Kehler Demonstration über den Rhein hätte
lassen können, kam dieser dann plötzlich mit seinem Stab und meinte,
sie hätten gerade mit dem Präfekten in Frankreich telefoniert. Der
hätte die strikte Anweisung gegeben, es dürfe keiner über die Brücke
einreisen.
STZT:
Letztlich gelang es nicht, gemeinsam zu demonstrieren oder gar in die
Innenstadt vorzudringen. Welche Schritte sollten jetzt unternommen
werden?
HCS:
Ich halte es zunächst für dringlich erforderlich, dass nach all dem,
was ich auf der französischen Seite gesehen und erlebt habe, die
dortigen Vorkommnisse öffentlich untersucht werden. Ich habe selbst
gesehen, wie sich die Einsatzkräfte für längere Zeit, ich nehme an für
Stunden, nicht um das Feuer des brennenden Hotels gekümmert haben,
obwohl die Straßen und damit die Zufahrtswege frei waren und sich nur
wenige Personen in der Nähe befanden. Ich sah auch lange Zeit keinen
französischen Polizisten in der Nähe des brennenden Zollhäuschens. Ein
deutscher Polizist meinte zu mir, die französiche Polizei würde das
immer so machen. Diesen Dingen muss nachgegangen werden.
Ich
kann natürlich überhaupt nichts dazu sagen, wie es zu den
Auseinandersetzungen gekommen ist, da ich anfangs auf der deutschen
Seite war. Ich habe die Demonstration auf der Strasbourger Seite erst
von dem Zeitpunkt an erlebt, als es gebrannt hat. Da litt ich selbst
unter den Rauchschwaden der brennenden Gebäude und vor allem unter dem
Tränengas der französischen Polizei.
STZT: Hast du gesehen, wie es zu Verhaftungen von Demonstrantinnen und Demonstranten kam?
HCS:
Ich habe konkret drei deutsche gefesselte Gefangene auf der
französischen Seite gesehen. Ich versuchte mit ihnen zu sprechen, wurde
aber zunächst abgewiesen. Es gelang mir dann aber noch mit einem
Offizier zu reden, der mich zu den Gefangenen ließ. Ich habe mir ihre
Namen geben lassen und als ich gerade dabei war, ihre Telefonnummern zu
notieren, fuhr dieses Auto, in dem sie saßen, plötzlich los. Mich
interessiert sehr das Schicksal dieser und anderer Gefangener. Ich weiß
nicht, was aus ihnen geworden ist und kann nur hoffen, dass sie wieder
frei sind oder auf jeden Fall ein rechtsstaatliches Verfahren bekommen.
STZT: Welche Konsequenzen sollte die Protestbewegung aus den Erfahrungen ziehen?
HCS:
Für Frankreich kann ich es nicht sagen. In Deutschland sah man aber,
dass die von den Offiziellen und Politikern vorausgesagten Bedrohungen
durch Militante nicht eingetroffen sind. Vielmehr ist durch
Ankündigungen und provozierenden Aussagen von Politkern eine
aufgeheizte Atmosphäre entstanden. Als ich beispielsweise mit dem Zug
von Offenburg nach Kehl gefahren bin, sah ich an jedem kleinen Bahnhof
links und rechts der Bahnsteige Polizisten mit ernsten Gesichtern, als
ob sie einen Terroristenzug geleiten müssten. Das war völlig daneben
und überzogen. Es müsse seitens der Veranstalter klargestellt werden,
dass die Polizei und die Politiker aufgrund unbegründet aufgebauter
Bedrohungsszenarien die Verantwortung für die Eskalation tragen.
STZT: Wie sollte künftig gegen Insitutionen wie die NATO protestiert werden?
HCS:
Ich halte die Entwicklung, die die NATO genommen hat, für
verhängnisvoll. Das betrifft vor allem die Planung, die NATO in eine
Art Welteingreiftruppe umzugestalten und den Ressourcenzufluss der
sogenannten entwickelten Ländern aus dem Süden abzusichern. Wenn diese
Vorstellungen vor 20 oder 30 Jahren geäußert worden wären, wäre sofort
der große Protest auf der Straße gewesen mit der Forderung, die NATO
augenblicklich zu zerschlagen. Heute regen sich leider viel zu wenige
darüber auf. Diese Enwicklung der NATO muss kritisch hinterfragt
werden. Deshalb sind Demos auch so notwendig. Natürlich muss das auch
in den Parlamenten diskutiert werden, doch einzelne Abgeordnete können
nur sehr wenig machen.
STZT:
Vor 10 Jahren stimmten große Teile der Bundestragsfraktion der Grünen
dem Kosovo-Einsatz zu. Wie siehst du heute innerhalb deiner Partei die
Möglichkeiten, grundlegende Kritik an Institutionen wie der NATO zu
äußern?
HCS:
Das Recht, grundlegende Kritik zu äußern, habe ich mir immer
rausgenommen. Und ich glaube, da bin ich bei den Grünen auch in guter
Gesellschaft.
In
der Frage der Einsätze im Kosovo und in Afghanistan habe ich 1999 bzw.
2001 entschieden, dagegen zu stimmen. Ich halte nach wie vor beide
Einsätze für falsch. Im Kosovo hat sich nicht das erfüllt, was vor dem
Einsatz versprochen wurde. Es konnte keine multikulturelle,
multiethnische Gesellschaft etabliert werden. Davon ist der Kosovo
heute wahrscheinlich weiter entfernt als zu Beginn des Einsatzes.
Ähnlich sehe ich das in Afghanistan. Dieser Krieg sollte
schnellstmöglich verantwortungsvoll beendet werden. Das sehen auch
viele in meiner Partei ähnlich.
Die
Grünen haben ihre Position zum Afghanistankrieg, besonders auf dem
Göttinger Parteitag, auf Initiative der Basis geändert. Das ist zwar
noch nicht genau meine Linie, aber in vielen Punkten ist das meiner
Meinung nach eine richtigere als zuvor.
Quelle: Interview (23.04.09)