Gedanken über Grundlagen unserer Solidarität

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Es gibt Streit in der Roten Hilfe e.V. Der Bundesvorstand stimmt mal mit knapper Mehrheit für die Kürzung einer Unterstützungszahlung von regulär 50 auf 30 Prozent, einige Zeit später im Rahmen eines Folgeantrages auf Gewährung voller Unterstützung, also schlussendlich 100 Prozent. Der Streit geht weiter: Nun wird auch noch gestritten, ob der zweite Antrag ein zulässiger Folgeantrag war ...

 

von Axel Hoffmann, Kiel

 

Aus der Broschüre „Bitte sagen Sie jetzt nichts!“ des BAT Aussageverweigerung der Roten Hilfe e.V.:

 

Es gibt keine ‚harmlosen‘ Aussagen! Jede Äußerung hilft der Polizei bei ihren Ermittlungen, entweder gegen dich oder gegen andere. Scheinbar „entlastende“ Aussagen können entweder andere belasten oder der Polizei Tipps geben, nach weiteren Beweisen gegen dich zu suchen oder sie zu erfinden. Deshalb: Bei Polizei und Staatsanwaltschaft konsequente Aussageverweigerung!

 

(...) In der Praxis zeigt sich, dass bei politisch geführten Prozessen mit der Frage, ob und welche Aussagen, Einlassungen und Erklärungen vor Gericht gemacht werden, sehr differenziert umgegangen werden muss. Alle Äußerungen, die von Seiten der/des Angeklagten gemacht werden, besitzen eine politische Tragweite, sowohl in der Prozessführung als auch nach außen. Dabei muss immer bedacht werden, dass Aussagen hier auch besonders viel Schaden anrichten können.

 

(...) Anders als gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaft ist die Strategie der konsequenten Aussageverweigerung vor Gericht differenzierter zu betrachten. Am Anfang sollte immer die Frage stehen, ob Aussagen wirklich notwendig sind, welches politische und persönliche Ziel hinter einer Aussage vor Gericht steht und zu welchem Ergebnis ein solches Verhalten führen soll. Auch alle Stellungnahmen vor Gericht sollten auf dem Grundsatz beruhen: Keine Zusammenarbeit mit der Justiz.

 

Der Streit

 

Es gibt Streit in der Roten Hilfe e.V. Der Bundesvorstand stimmt mal mit knapper Mehrheit für die Kürzung einer Unterstützungszahlung von regulär 50 auf 30 Prozent, einige Zeit später im Rahmen eines Folgeantrages auf Gewährung voller Unterstützung, also schlussendlich 100 Prozent. Der Streit geht weiter: Nun wird auch noch gestritten, ob der zweite Antrag ein zulässiger Folgeantrag war ...

 

Um was geht es? Zwei Genossen aus den ehemaligen Revolutionären Zellen (RZ) stellen sich nach 19-jährigem Leben im Untergrund der bundesdeutschen Justiz. Beide werden in unterschiedlichen Prozessen zu Bewährungsstrafen verurteilt – Preis für die Aussetzung der Strafe zur Bewährung ist offensichtlich die Abgabe eines Geständnisses in Form einer von der Verteidigung jeweils vorbereiteten schriftlichen Einlassung. Einer der beiden stellt einen Antrag bei der Roten Hilfe e.V.. Unterstützt wird er unter Hinweis auf den Grundsatz der Aussageverweigerung nicht mit 50 Prozent sondern nur mit 30 Prozent. Nachdem der Genosse einige Zeit später auch noch die Rechnung über die Verfahrenskosten erhalten hat, stellt er einen weiteren Antrag. Dieser wird zuerst unter Hinweis auf die besondere persönliche Situation mit 100 Prozent beschieden, später unter Abänderung dieser Entscheidung mit 60 Prozent. Das Diskussionsklima im Bundesvorstand spitzt sich zu, Vorwürfe werden laut.

 

Der Streit wirft viele Fragen auf, Fragen nach der Bedeutung und Stoßrichtung der Kampagne für Aussageverweigerung, nach Sinn und Zweck der Unterstützungsleistung der Roten Hilfe e.V. und nach der Bedeutung von Solidarität als kämpferisches Verhältnis zu politisch Verfolgten.

 

Bedeutung und Stoßrichtung der Kampagne für Aussageverweigerung

 

Die diesem Artikel vorangestellten Zitate aus der Aussageverweigerungsbroschüre der Roten Hilfe e.V. sind natürlich aus dem Zusammenhang gerissen, sie zeigen aber, dass die Kampagne keine einfachen Antworten liefert, insbesondere aber keine klaren Leitlinien für die Frage der möglichen finanziellen Unterstützung von GenossInnen. Klar ist, dass insbesondere im Ermittlungsverfahren jede Information für Polizei und Staatsanwaltschaft nützlich sein kann und weder die Beschuldigten noch die Zeugen und auch nicht die RechtsanwältInnen beurteilen können, welche Informationen gegebenenfalls zu weiteren Ermittlungen oder zu einer Anklage führen könnten. Jede/r StrafverteidigerIn würde daher die Forderung nach absolutem Schweigen während des Ermittlungsverfahrens unterstützen. Auch hier mag es Ausnahmesituationen geben – beispielsweise das Vortragen einer Notwehrsituation (vor allem zur Sicherung von Beweisen, die zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr beizubringen sind). Solche Konstellationen spielen aber nur selten eine Rolle.

 

Es muss gesehen werden, dass der überwiegende Teil der in den letzten Jahren gegen Linke geführten politischen Strafverfahren mit Geldstrafen oder Bewährungsstrafen endete. Der Anteil an Haftstrafen (auch zur Bewährung) ist relativ gering. Standardfälle sind versammlungsrechtliche Delikte wie Vermummung, Passivbewaffnung, aus Versammlungen entstandene Beleidigungen, Widerstandshandlungen oder (gefährliche) Körperverletzungen, vor allem auch im Bereich Antifa. In der absoluten Mehrheit dieser Fälle ist absolutes Schweigen nicht nur politisch, sondern auch juristisch die beste Handlungsoption. Das Schweigen als Beschuldigter, und darum geht es hier im Wesentlichen, kann in all diesen Fällen im Normalfall keine schädlichen Folgen für den/die Angeklagte/n haben. Aussagen, egal wie schlau oder kreativ man sie sich ausgedacht hat, können allerdings zu enormen Schäden, Verurteilungen, weiteren Strafverfahren und Ausspähung führen. Wichtig war in diesem Zusammenhang auch immer die Erfahrung, dass gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaft die beschuldigte Person alleine, isoliert und unter Druck ist, dass aufgrund fehlender Akteneinsicht nicht bekannt ist, welches Wissen die Gegenseite für das Strafverfahren verwenden kann.

 

Die Entscheidung der Roten Hilfe e.V., bei Aussagen im Ermittlungsverfahren normalerweise keine Unterstützung zu leisten, wird dem gerecht. Trotzdem hat es in Einzelfällen auch Unterstützung von Menschen gegeben, die gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaft Aussagen gemacht haben. Dem lagen aber immer wichtige Besonderheiten zu Grunde. Keine Unterstützung erhält, wer mit den Strafverfolgern „zusammenarbeitet“, ihnen also wissentlich neue Informationen gibt, die diese gegen andere verwenden können. Ein solcher – sagen wir mal altmodisch – Verrat führt immer zur Verweigerung von Unterstützung durch die Rote Hilfe e.V., ebenso wie die Abgabe einer „Reueerklärung“.

 

Aussagen vor Gericht sind sowohl nach der Broschüre als auch im Ergebnis der viele Jahre lang geführten Diskussion als ein Instrument einer Verteidigung nicht ausgeschlossen. Klar ist allerdings, dass Aussagen immer problematisch sind und nur in Ausnahmefällen und nach Rücksprache mit den RechtsanwältInnen und möglichst auch nach Diskussion mit GenossInnen im Rahmen einer klar bestimmten Prozessstrategie gemacht werden sollten. Aussagen von Angeklagten, seien es politische Erklärungen oder Angaben zur Tat, haben traditionell in politischen Prozessen eine bedeutende Rolle gespielt.

 

Die Verteidigungsreden Georgi Dimitrows oder Fidel Castros (um nur meine Favoriten zu nennen) waren zwar politische Erklärungen, aber natürlich der Sache nach Einlassungen. Das B-libi von Fritz Teufel war eine Einlassung, also eine Aussage des Angeklagten, die zur Feststellung entlastender Beweise führte. Die Erklärungen der RAF-Mitglieder zu ihrer Kollektivität dienten der deutschen Justiz in perverser Umkehrung zur Rechtfertigung der willkürlichen Verurteilung jedes Mitglieds für alle der RAF zugeschriebenen Aktionen. Ganz gezielt wurden auch von GenossInnen, die in den 80er Jahren aus dem antiimperialistischen Widerstand in die Illegalität geflohen waren, später Aussagen gemacht, um die Gesamt-RAF-Konstruktion der Bundesanwaltschaft anzugreifen, die alle Abgetauchten aus diesem Spektrum der RAF zuordnete. Die RAF bestätigte teilweise sogar solche Angaben. Zu keinem Zeitpunkt wäre die Rote Hilfe e.V. zu dem Schluss gekommen, wegen solchen Aussagen die Solidarität zu verweigern oder Unterstützungen zu kürzen.

 

Als im Jahr 1988 nach den Schüssen auf Polizeibeamte an der Startbahn West aufgrund einer Falschbelastung durch einen Mitangeklagten die Verurteilung eines Genossen drohte, riefen Autonome Gruppen dazu auf, Zeugenaussagen zu machen, um die Unschuld dieses Genossen zu beweisen.

 

Die Aussageverweigerungskampagne kann, soll und darf nicht darauf zielen, solche Aussagen, wie singulär die einzelnen Fälle auch erscheinen mögen, zu diskreditieren.

 

Aus vielen guten Gründen schien es den Angeklagten, ihren UnterstützerInnen und VerteidigerInnen in den RZ- Verfahren ab 1999 sinnvoll, gegen die von dem Kronzeugen Mousli gestützten BAW-Konstrukte mit Einlassungen der Angeklagten und Zeugenaussagen zu agieren. Ziel war es zum einen, einzelne Tatvorwürfe zu widerlegen und zum anderen, nicht der Bundesanwaltschaft die Hoheit über die Darstellung der RZ zu überlassen. So sagte beispielsweise das ehemalige RZ-Mitglied Gerd Schnepel in einem der Prozesse aus. Die Verteidigung konnte mit Hilfe dieser Aussage beweisen, dass Mousli Angeklagte falsch beschuldigte.

 

Die Rote Hilfe e.V. hat immer gefordert, dass Aussagen im Prozess nur im Rahmen einer gut abgewogenen, nach Möglichkeit auch mit Solistrukturen diskutierten Strategie erfolgen und im Vorfeld kritisch hinterfragt werden. Obwohl also die Rote Hilfe e.V. immer auch Aussagen beziehungsweise Einlassungen vor Gericht unter den genannten Vorgaben toleriert hat, hat dies unserer Kampagne für Aussageverweigerung nie geschadet.

 

Es hat in keinem der genannten Fälle Irritationen gegeben, soweit mir bekannt ist wurden auch nie einer Kürzung der Unterstützungsleistung die genannten oder ähnliche Fälle entgegen gehalten. Die Kampagne zur Aussageverweigerung ist ein Erfolg und bleibt dies, auch wenn die Maxime der Aussageverweigerung nicht zum unüberwindbaren Dogma erklärt wird.

 

Misstrauen oder Solidarität?

 

In dem diesem Artikel zu Grunde liegenden Unterstützungsfall hatten sich zwei Genossen nach fast zwanzigjähriger Illegalität entschieden, sich den deutschen Strafverfolgungsbehörden zu stellen. Sie waren subjektiv oder objektiv nicht mehr in der Lage, das Leben unter den besonderen Bedingungen der Illegalität fortzusetzen. Die politischen Strukturen, aus, wegen und mit denen sie in die Illegalität gegangen waren, waren längst nicht mehr existent und damit die gemeinsame Diskussion nicht mehr führbar, die notwendige Unterstützung gleich welcher Art nicht mehr vorhanden. Welche Revolutionäre Zelle sich wie, warum und wann aufgelöst hat, mag bei dieser Betrachtung dahingestellt bleiben. Die Beiden waren nicht in der Lage ihre Rückkehr mit all denjenigen zu diskutieren, mit denen sie ursprünglich gekämpft hatten, sie konnten allenfalls die strafrechtlichen Rahmenbedingungen für die Rückkehr klären. Obwohl sie beinahe zwanzig Jahre abgetaucht gewesen waren war nicht sicher, wie hoch eine Strafe für sie ausfallen würde. Immerhin konnten sie aushandeln, von Untersuchungshaft verschont zu werden. Hierfür wurden keine Einlassungen gemacht. Hauptgrund für dieses „Entgegenkommen“ der Bundesanwaltschaft (BAW) war die Tatsache, dass diese vorher keine Ahnung hatte, wo die beiden sich aufgehalten haben und mit der Stellung ein Prozess immerhin geführt werden konnte. Darüber hinaus war offensichtlich, dass bei Beschuldigten, die sich freiwillig der deutschen Strafjustiz ausliefern, Fluchtgefahr nicht besteht.

 

Bereits im Vorfeld des Prozesses wurde klar, dass eine Verurteilung zu zwei Jahren auf Bewährung angeboten werden würde, wenn dafür nach Anklage verurteilt werden könne. Von dem Angeklagten wird also verlangt, zumindest in einer schriftlichen Erklärung die Anklagevorwürfe zu bestätigen. Es wird weiter verlangt, dass diese Erklärung nicht nur „Ja, ich war‘s“ lautet, sondern ein „werthaltiges Geständnis“ erfolgt, auf das ein Urteil auch unanfechtbar gestützt werden kann. Es sollen also Tatsachen benannt werden, die den Tatvorwurf belegen. Hier wird auf die Aussagenkonstrukte des Kronzeugen Mousli zurückgegriffen und klar verlangt, dass bestimmte Details aus Mouslis Aussagen bestätigt werden. All diese Behauptungen waren bereits in den kurz zuvor geführten Prozessen gegen RZ-Mitglieder gerichtlich festgestellt worden.

 

Der Prozess inklusive Deal wird auf der Seite http://www.freilassung.de/prozess/thomas.htm wie folgt dokumentiert:

Wenn der Deal zustande kommt sind Gegenstand des Verfahrens nur Straftaten ab Anfang Januar 1985, der Vorwurf der Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung wird fallen gelassen und die Anklage auf Mitgliedschaft beschränkt. Im Falle einer „geständnisgleichen Erklärung“ des Angeklagten beträgt die Strafobergrenze zwei Jahre, die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Alle Beteiligten verzichten auf die Heranziehung zusätzlicher Beweismittel. Im Klartext bedeutete dies, dass die Bundesanwaltschaft auf den Kronzeugen Mousli verzichtet und sich mit einer Bewährungsstrafe zufrieden gibt, wenn der Genosse sich im Gegenzug zur Sache einlässt.

 

Kernpunkte der geforderten Einlassung waren, dass der Angeklagte

- in den 70er Jahren zum Kreis der RZ gehörte, dort allerdings relativ schnell als verbrannt galt und in der Folge einen Sonderstatus als assoziiertes Mitglied bekam, da er die Politik der RZ inhaltlich weiterhin teilte;

- sich ab 1985 als „Malte“ in die Debatten über die Flüchtlingskampagne einmischte und zu dem Zweck auch einmalig an einem außerordentlichen Treffen teilnahm;

- an der Produktion und dem Vertrieb einer Extraausgabe des „Revolutionärer Zorn“ zur Flüchtlingskampagne mitwirkte;

- nach dem 18. Dezember 1987 an einem zweiten außerordentlichen Gesamttreffen beteiligt war, bei dem es um die Konsequenzen aus der damaligen Polizeirazzia ging, danach persönlich keine ihm bekannten RZ-Mitglieder mehr traf und sich dennoch weiterhin als assoziiertes Mitglied der RZ bis zu deren Auflösung verstand;

- Anfang der 1990er Jahre einen Entwurf zu dem Text „Gerd Albartus ist tot“ verfasste.

 

Dieser Deal wurde eingegangen in Kenntnis der Akten auch aus den vorangegangenen RZ-Verfahren sowie drohender weiterer Aussagen des Kronzeugen Mousli. Die Inhalte der Einlassungen waren mit vielen solidarischen Genossen, aber auch einigen Personen, die unter Umständen von den Angaben betroffen sein könnten, besprochen. Es gab gegen die Einlassung keinen Einspruch von außen. Natürlich ist das allerdings nur die halbe Wahrheit, denn eine offene Diskussion mit allen möglichen Betroffenen war natürlich angesichts der fortlaufenden Repression, der Abwesenheit anderer Illegaler und der Auflösung der alten Strukturen nicht möglich. Trotzdem wurde die Diskussion über den Prozess und einen möglichen Deal beispielsweise mit den als RZ-Mitglieder verurteilten GenossInnen und Ihrem politischen Umfeld diskutiert, zu denen in Berlin Kontakt bestand, andere Personen wurden diesbezüglich kontaktiert. Es bleibt also festzuhalten, dass der angeklagte Genosse sein Prozessverhalten nicht individualistisch festgelegt hat, sondern gemeinsam mit seiner Umgebung versucht hat, die möglichen Folgen einzuschätzen.

 

Jedes Eingeständnis stützt die Konstrukte von Kronzeugen

 

Angesichts der Realität der deutschen Strafjustiz muss aber auch gesehen werden, dass jedes Eingeständnis im Rahmen einer solchen Einlassung die Konstrukte aus den Aussagen des Kronzeugen zwar nicht schafft, aber doch stützt und jedenfalls legitimiert. Die Einlassung könnte damit theoretisch für weitere Verfahren verwendet werden. Nachdem allerdings die Aussagen des Kronzeugen Mousli ausgereicht haben, um in den ersten beiden großen RZ-Verfahren zu verurteilen, darf sicherlich bezweifelt werden, dass es für die Zukunft auf die Einlassung des Genossen ankommen wird. Zu weiteren noch offenen Ermittlungen beispielsweise wegen der Tötung des damaligen hessischen Wirtschaftsministers Heinz-Herbert Karry (FDP) ist in der Einlassung nichts enthalten. Es bestand aber auch die Befürchtung, ohne Deal könne der Kronzeuge Mousli nochmals in den Zeugenstand gezerrt werden und weitere Falschaussagen und Konstrukte präsentieren, im schlimmsten Fall also noch mehr Menschen ins Visier der Ermittlungsbehörden zerren – lange genug dabei war er ja, um notfalls weitere „Mittäter“ präsentieren zu können. Auch die Drohung, die gerade verurteilten RZ- Mitglieder als Zeugen zu benennen (nach rechtskräftiger Verurteilung hatten sie ja kein Schweigerecht mehr) und dann mit Beugehaft zu traktieren, hat bei der Entscheidung eine Rolle gespielt.

 

Letztlich muss aber festgehalten werden, dass die schriftliche Einlassung des Genossen die „Ermittlungsergebnisse“ der Bundesanwaltschaft jedenfalls legitimiert hat. Dass hierdurch jedoch andere gefährdet wurden ist jedenfalls nicht bewiesen und reine Spekulation. Der Genosse versichert, nach allen Gesprächen mit VerteidigerInnen und seinem politischen Umfeld sicher davon ausgegangen zu sein und weiterhin davon auszugehen, dass seine Einlassung niemanden der Strafverfolgung aussetzt. Mir bekannte GenossInnen aus dem ehemaligen wie heutigen politischen Umfeld des Betroffenen haben mir gegenüber diese Einschätzung bestätigt.

 

Nun weiß niemand außer den damals Beteiligten, welche Aussagen heute theoretisch oder in Kombination mit den Erkenntnissen und Konstrukten der Bundesanwaltschaft anderen Menschen gefährlich werden können. In Verfahren, in denen es nur um eine Tat eines einzigen Menschen geht, kann eine Aussage höchstens diesen selbst belasten, hier sind Abwägungen einfach vorzunehmen. In Verfahren wegen gemeinschaftlich begangener Taten, die auch noch wegen krimineller oder terroristischer Vereinigung verfolgt werden, ist dies viel komplexer. Vermutlich gibt es überhaupt keine Art von Einlassung, die in einem solchen Verfahren nicht theoretisch eine Indizienkette der Staatsanwaltschaft stützen könnte und damit sich negativ auf andere auswirken könnte. Wir müssen uns also fragen, was das vor dem Hintergrund der Leitlinien der Rote Hilfe e.V. und der Aussageverweigerungskampagne bedeutet.

 

Da in dem hier zu diskutierenden Unterstützungsfall die schriftliche Einlassung vorher diskutiert wurde und eine genaue Abwägung der Situation stattgefunden hat, stellt sich die Frage, ob wir dem Genossen Glauben schenken oder ob wir aus grundsätzlichen Erwägungen in einem solchen Verfahren jede Einlassung, die eine konkrete Anklage bestätigt, die außer dem Angeklagten noch andere betreffen kann, als „Zusammenarbeit“ bewerten und die Unterstützung daher kürzen oder verweigern.

 

Der Genosse, der in seiner Einlassung keinerlei Distanzierung von seiner politischen Geschichte vorgenommen hat und nunmehr wiederum in linken Zusammenhängen lebt, hat nach meinem Verständnis von Solidarität einen Anspruch auf Vertrauen. Misstrauen auf der Basis von grundsätzlichen Erwägungen und rein theoretischen Zweifeln wäre das Ende einer Solidaritätsorganisation. Eine „Glaubensfrage“ kann vor diesem Hintergrund nicht bestehen. Natürlich glauben wir den AntragstellerInnen im Unterstützungsfallverfahren, dass sie nicht heimlich geplaudert haben, dass ihre Angaben richtig sind, dass sie aus politischen Motiven gehandelt haben, die der Roten Hilfe e.V. entsprechen. Zur Überprüfung werden nur das Urteil, die Rechnung und gegebenenfalls einzelne Unterlagen benötigt. Darüber hinaus stellen wir die Angaben, insbesondere zu nicht überprüfbaren Aspekten, nicht in Frage.

 

Wenn – wie in dem vorliegenden Fall geschehen – sogar behauptet wird, bei einem Deal würden regelmäßig neben den in der Hauptverhandlung, also öffentlich, abgegebenen Erklärungen weitere Aussagen gemacht, wird ein nicht widerlegbares Misstrauen aufgebaut. Dabei ist diese Behauptung schlichtweg falsch. Die Regeln eines „Deals“ sind seit kurzem sogar gesetzlich geregelt, der Inhalt muss öffentlich in der Hauptverhandlung protokolliert werden. Jede/r StrafverteidigerIn hätte auch in der Vergangenheit einen Deal ohne protokollierten Inhalt nicht abgeschlossen, da sonst keine Garantie der Einhaltung durch das Gericht gewährleistet ist. Es gab in der Vergangenheit tatsächlich Fälle, in denen aufgrund solcher Fehler der Angeklagte ein Geständnis gemacht hat und die vereinbarte Strafe deutlich überschritten wurde. Deshalb gehört seit vielen Jahren das Beharren auf Protokollierung eines Deals und Wiedergabe in öffentlicher Hauptverhandlung zu den wichtigsten Fortbildungsinhalten von StrafverteidigerInnen. Damit ist diese Behauptung nicht nur ein inakzeptabler Angriff auf den betroffenen Angeklagten, sondern auch auf die VerteidigerInnen. Hinzu kommt, dass eine solche Behauptung des Verrats im Geheimen natürlich niemals widerlegt werden kann. Auf der Basis solcher Gerüchte und Behauptungen kann und darf in der Roten Hilfe e.V. weder eine Diskussion geführt werden, noch dürfen sie zur Stimmungsmache akzeptiert werden.

 

Und nicht vergessen ... die Solidarität!

 

Die gesamte Arbeit in der Roten Hilfe e.V., also auch die Frage der Gewährung von materieller Unterstützung, ist untrennbar verbunden mit unserem Verständnis von Solidarität. Die Rote Hilfe e.V. als strömungsübergreifende Schutz- und Solidaritätsorganisation mutet jedem Mitglied hierbei allerlei zu. In der Mitgliedschaft der Roten Hilfe e.V. versammeln sich so viele Menschen, die in der alltäglichen politischen Praxis oft sogar gegeneinander arbeiten, die von vollständig unterschiedlichen sozialen und kulturellen Realitäten bestimmt sind. Es macht die enorme Kraft und Anziehung der Roten Hilfe e.V. aus, dass wir es geschafft haben, all diese Spaltungen in der gemeinsamen Solidaritätsarbeit zu überwinden. Und so werden Gefangene aus dem bewaffneten Kampf genauso unterstützt wie Totalverweigerer (solange dies notwendig war/ist) und gewaltfreie Blockierer. In der Roten Hilfe e.V. finden sich Menschen, denen vor allem die Unterstützung von Menschen am Herzen liegt, die Repression wegen Betriebskämpfen erfahren, und solche, die sich mit Menschen solidarisieren, die wegen des Kampfes um das Recht auf Faulheit verurteilt werden, um nur wenige Beispiele zu nennen.

 

Wir haben es nur deshalb geschafft, die breiten Gräben zwischen den verschiedenen Strömungen zu überwinden, weil wir gelernt haben eines nicht in Frage zu stellen: das Vertrauen in die Aufrichtigkeit der politischen Arbeit der anderen. Tatsächlich sind wir oft davon überzeugt, dass politische Aktivitäten, die zu Repression führen, „politisch unsinnig“, „falsch“, „schädlich“ oder schlimmeres sind. Weil wir aber davon ausgehen, dass all diese Aktivitäten stattfinden im Streben nach einer Welt ohne Unterdrückung, Ausbeutung und Krieg (so meine Zusammenfassung der Leitlinien der RH e.V.), unterstützen wir uns gegenseitig bei der Abwehr staatlicher Repression.

 

Damit ist einer der Grundsätze unserer Organisation wie schon genannt das Vertrauen, das nur auf der Basis konkreter Fakten in Frage gestellt werden darf. Ein weiterer sich hieraus ergebender Grundsatz muss aber auch die Achtung gegenüber anderen linken AktivistInnen sein.

 

Vor diesem Verständnis von Solidarität in der Roten Hilfe e.V. empfinde ich das in dem hier diskutierten Fall immer wiederkehrende Argument „Wie wirkt das auf junge Antifas, denen wir immer sagen, sie dürfen keine Aussage machen?“ als zutiefst verletzend. Abwegig ist ja schon die Vorstellung, junge Antifas würden sich gegenüber der Roten Hilfe e.V. auf den Fall eines RZlers berufen, der sich nach 19 Jahren Illegalität stellt.

 

Auf jeden Fall darf die Auseinandersetzung um einen solchen Unterstützungsfall auf keinen Fall dazu dienen, unsere Unterstützungsgrundsätze nach außen hin zu verdeutlichen. Ein solches Verhalten würde tatsächlich bedeuten, den Betroffenen zum Objekt unserer Propaganda zu machen, und das wäre das Gegenteil von Solidarität.

 

Ein Genosse, der aufgrund seiner politischen Aktivitäten 19 Jahre auf der Flucht war beziehungsweise illegal gelebt hat, muss von uns unbedingte Unterstützung erhalten, wenn er keinen bewussten Verrat begangen hat. Die besonderen Bedingungen des Lebens in der Illegalität machen es ihm ungleich schwerer, sein Verhalten so zu diskutieren und zu bestimmen, wie wir uns das in jahrelangen Diskussionen erarbeitet haben. Die Fehlertoleranz muss doch umso höher sein, je schwieriger die Lebensbedingungen für den Betroffenen sind und waren.

 

Die GenossInnen, die sich an militanten, bewaffneten Aktionen beteiligt haben, sind keine Helden. Überhöhung – sei es die Stilisierung zu Märtyrern, sei es die Erwartung heldenhaften Handelns – haben sie nicht verdient. Maßstab für die Unterstützung von GenossInnen, die in großem Umfang politische Verfolgung erlitten haben, die jahrelang auf der Flucht oder im Knast waren, denen erheblicher Knast droht, muss vor allem sein, ob sie zu ihrer Geschichte und ihrem Handeln stehen, sich weiterhin als Teil der Linken begreifen und sich Diskussionen über ihr Verhalten stellen.

 

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Hier kann man weiteres zu diesem Streit lesen: https://www.info.libertad.de/blogs/7/595