Innenminister spricht von »ablauforganisatorischen Mängeln«

Erstveröffentlicht: 
23.02.2011

Gießen (mö). Im Fall der unrechtmäßigen Verhaftung und viertägigen Ingewahrsamnahme des Saasener Politaktivisten Jörg Bergstedt im Mai 2006 in Gießen gibt es neue Erkenntnisse.

Wie der Hessische Innenminister Boris Rhein (CDU) jetzt auf Anfrage der SPD-Landtagsabgeordneten Nancy Faeser mitteilt, wusste am Morgen nach der Festnahme Bergstedts neben dem damaligen Leiter der Abteilung Einsatz auch Polizeipräsident Manfred Schweizer, dass Bergstedt die ihm zur Last gelegten Taten gar nicht begangen haben konnte, weil er in der vorherigen Nacht von einer Spezialeinheit der Polizei observiert worden war. Der Umstand, dass Bergstedt damit ein wasserdichtes Alibi hatte, hielt die Polizei nicht davon ab, den Gründer der Saasener Projektwerkstatt für vier Tage in einen sogenannten Unterbindungsgewahrsam zu nehmen. Über die Inhaftierung war der Polizeipräsident laut Rhein informiert worden.

 

Rückblende: Bergstedt war in der Nacht des 14. Mai 2006 festgenommen worden, als er sich radelnd auf dem Heimweg von Gießen nach Saasen befand. Die Polizei machte ihn verantwortlich für Schmierereien an einem Wohnhaus und eine Sachbeschädigung der CDU-Kreisgeschäftsstelle im Spenerweg. Und weil man ihm unterstellte, er werde weitere Straftaten begehen, blieb er vier Tage im Vorbeugegewahrsam. Später kam heraus: Bergstedt konnte es nicht gewesen sein, denn der selbsternannte Berufsrevolutionär spielte zeitgleich mit einem Gesinnungsgenossen Federball vor dem Landgericht an der Ostanlage und radelte im Anschluss Richtung Saasen davon. Lückenlos dokumentiert wurden seine Schritte in dieser Nacht, weil ein Mobiles Einsatzkommando der Polizei, das sich ansonsten eher um Schwerverbrecher wie Geiselnehmer kümmert, Bergstedt und Co. observierte.

Gegen seine Ingewahrsamnahme, die das Gießener Landgericht wenige Tage später bestätigte, legte Bergstedt beim Oberlandesgericht Frankfurt Beschwerde ein - und hatte Erfolg. Der Beschluss des OLG, die Inhaftierung für rechtswidrig zu erklären, sorgte im Juni 2007 für Aufsehen, weil das OLG - unter Bezugnahme auf die Praxis im Dritten Reich - vor einer missbräuchlichen Anwendung des im hessischen Polizeigesetz verankerten Unterbindungsgewahrsams in Richtung einer Schutzhaft warnte.

Dass Bergstedt die ihm zur Last gelegten Taten gar nicht begangen haben konnte, weil er zeitgleich observiert worden war, wurde freilich erst im besagten Verfahren vor dem Oberlandesgericht bekannt, da weder dem Amtsgericht und danach dem Landgericht ein entsprechender Vermerk der Polizei vorgelegt worden war.

Auf die Frage Faesers, warum der Vermerk erst im Verfahren vor dem OLG auftauchte, antwortet Rhein nun: »Nach derzeitiger vorläufiger Bewertung beruhte die verspätete Vorlage des Observationsvermerks auf ablauforganisatorischen Mängeln. Eine endgültige Beantwortung dieser Frage ist allerdings erst nach Einsichtnahme in die Akten möglich.«

 

Folgen wird der unrechtsmäßige Freiheitsentzug für die an dem Einsatz beteiligten Polizisten wohl nicht haben. Innenminister Rhein weiter: »Da den beteiligten Beamten des Polizeipräsidiums Mittelhessen nach derzeitigem Stand kein Vorwurf gemacht werden konnte, gab es keinen Anlass zu personellen Konsequenzen.«

Die strafrechtliche Würdigung des Falls ist laut Rhein aber noch nicht endgültig abgeschlossen, da die Staatsanwaltschaft Wiesbaden noch Beschwerden Bergstedts gegen die Einstellung von Ermittlungsverfahren prüft. Die Anklagebehörde in der Landeshauptstadt hatte fast 30 Strafanzeigen wegen Freiheitsberaubung gegen die eingesetzten Polizisten und den Haftrichter des Gießener Amtsgerichts verworfen, die Bergstedt selbst gestellt hatte.