Die tunesische Bewegung in anderen Formen weiterführen (Interview)

Revolution im Maghreb

Interview mit einem tunesischen Genossen. 16. Februar, Kollektiv Lieux Communs
Das Signal des Sieges des tunesischen Aufstands wirkt sich immer noch auf das Geschehen ausserhalb der tunesischen Grenzen aus: Das Ende Mubaraks in Ägypten, eine Schwerpunktregion der arabischen Welt, ist von kapitaler Wichtigkeit. Als tunesische Revolutionäre erlebt ihr seit zwei Monaten Momente, die extrem selten sind und ein ganzes Leben prägen. Inwiefern kann man diese Ereignisse mit den grossen Unabhängigkeitsbewegungen in der Nachkriegszeit vergleichen?

 

„Im Moment fühlen sich alle arabischen Völker von einer schweren Last befreit, obwohl der Sturz Mubaraks noch lange nicht alle Probleme gelöst hat. Aber dieser wichtige Sieg ist hauptsächlich symbolisch, denn er bedeutet, dass diese Völker mit der Angst und der freiwilligen und auferlegten Knechtschaft abgeschlossen haben. Es ist ein Ereignis, das weit wichtiger ist als die Epoche der nationalen Befreiungen, denn es öffnet grenzenlose Perspektiven: es ist der Beginn eines demokratischen Prozesses.

Die Bourgeoisie als Erbin der postkolonialen Situation profitierte von einer jahrzehntelang andauernden Waffenruhe, indem sie sich als Klasse präsentierte, die die nationalen Interessen vertritt und alle verschiedenen Komponenten der Gesellschaft mit einbezieht. Heute ist es jedem bewusst geworden, dass die politische Unabhängigkeit nur einen ausländischen Kolonisator durch einen nationalen Vertreter dieses Kolonialismus' ersetzt hat und dass eine Klasse lokaler, mit dem internationalen Kapital verbandelter Mafiosi damals die Macht an sich riss, um in jedem Land ein diktatorisches Regime zu installieren.“

Die sehr grossen Ähnlichkeiten im Ablauf der Aufstände in Tunesien und Ägypten sind extrem frappant. Die arabische Welt zeigt hier eine veritable Einheit: Kann das der Beginn einer Annäherung zwischen den arabophonen Völkern sein, oder sogar eines Internationalismus', der nichts religiöses oder stalinistisches mehr beinhaltet?

„Diese beiden Aufstände haben tatsächlich die Verbindungen zwischen den arabischen Völkern im Kampf gegen den Despotismus konsolidiert und jeder Sieg in einem Land wird auch als Sieg im anderen wahrgenommen.

Für die Zukunft ist das eine Frage, die wir in einem Text über die Identität entwickeln möchten, der nächstens erscheinen sollte. Wir verdeutlichen darin, dass der Begriff der Identität nicht nur auf Verbindungen sprachlicher oder historischer Art basiert, sondern sein Fundament in einem Zukunftsprojekt hat: Was wir sind, ist tief mit dem, was wir in der Gegenwart oder in der Zukunft sein wollen, verbunden.“

Eben genau. In beiden Ländern war von Anfang bis Ende der Aufstände keine politische Formation auf der Höhe der Ereignisse und es gab vor allem keinen echten Anführer oder Sprecher. Das macht die Rekuperationsversuche der linken und stalinistischen Apparate, in Tunesien prinzipiell die UGTT, umso offensichtlicher und schwieriger. Aber parallel zu dieser tief libertären Tendenz, gibt es da nicht auch Zeichen einer Schwierigkeit, einen radikalen politischen Diskurs nach dem Zusammenbruch der Ideologien auszuarbeiten, was das Risiko beinhaltet, in der Organisation einer Bewegung auf die Dauer hinderlich zu sein, wie in Frankreich im Mai 68?

„Im gleichen Mass wie der Aufstand spontan ist, was jegliche Perspektive stalinistischer, nationalistischer oder integristischer Rekuperation sehr unwahrscheinlich macht, haben die Aufständischen kein klares Projekt. Das wirft die schwierige Frage einer „Organisation“ auf, die aus den Kämpfen entstünde und mit den stalinistischen und bürokratischen Formen breche.

Übrigens ist es wichtig, ein Nachdenken über alle Fragen des Alltags (Arbeitslosigkeit, Arbeit, Entwicklung, Bildung, Gesundheit...) anzuregen und dies in einer Perspektive, die mit der produktivistischen und hierarchischen Ideologie bricht. Die Idee einer Führung lehnen wir ab, aber das heisst nicht, dass die Intellektuellen (diejenigen, die sich für die öffentlichen Fragen interessieren, die ihre Spezialität überschreiten) Däumchen drehen sollen. Sie sollen laut sprechen und ihre Ideen ausdrücken, jedoch darüber im klaren, dass sie sich in eine Volksbewegung als einfache Bürger integrieren müssen. Natürlich können sie autonome Organisationsformen vorschlagen.“

Einen Monat nach seinem Sieg geht der tunesische Aufstand in anderen Formen weiter: es sind heute die ärmsten Bevölkerungsschichten, in den auf sich selbst überlassenen Regionen, die Aktionen und Streiks durchführen, die genauso einen Bezug haben auf das Verbleiben von Kadern des RCD an der Führungsspitze wie auf Lohnforderungen. Diese Phänomen ist in Ägypten genauso offensichtlich. Diese enge Allianz in den Köpfen der Leute zwischen dem Politischen und dem Wirtschaftlichen, könnte sie der Grundstein sein für ein Projekt der Selbstregierung?

„Die Bewegung geht tatsächlich in Form wilder Streiks, Gebäudebesetzungen, sozialen Forderungen, Entmachtung von Gouverneuren und Verantwortlichen des RCD, korrupter Betriebsleiter und gegen die servilen Formen der Arbeit (die Fremdfertigung und die privaten Dienstleistungsbetriebe...) weiter. In Ägypten haben die Arbeiter des Suezkanals, der Mahalla [wichtige Stadt der Textilindustrie im Nildelta] und der Transportbetriebe den Sturz Mubaraks signifikant beschleunigt.

Während die Muslimbrüder und einige Fraktionen der Liberalen und der traditionellen Linken mit der Macht in Verhandlungen traten, verdoppelte sich die Anzahl der Demonstranten. Die unabhängige Bewegung „des 25. Januars“ weigerte sich, den Rückzug anzutreten und die Arbeiter der zentralen Sektoren begannen einen wilden Streik. Zu diesem Zeitpunkt zogen sich die politischen Formationen aus den Verhandlungen zurück und das Militär, sowie die USA, die die Ereignisse aufmerksam verfolgten,zwangen Mubarak zum Rücktritt. Wie in Tunesien muss man auch dort mit dem Anhalten der Bewegung in anderen Formen, vor allem sozialen, rechnen.“

Es kamen während der Ereignisse in Tunesien keine antifranzösischen Gefühle auf, obwohl die engen mafiösen Beziehungen zwischen den beiden Ländern allseits bekannt waren. Das selbe mit den USA in Ägypten, obwohl die diplomatische Intelligenz der USA sich tief von der Lächerlichkeit Alliot-Maries unterscheidet...Man weiss, dass der Westen das nicht hinterfragbare Modell für die ganze Welt geworden ist, können die arabischen Aufstände eventuell eine Zukunft eröffnen, die sich nicht nach dem selbstmörderischen westlichen Entwicklungsmodus richtet?

„Es muss gesagt werden, dass die arabischen Völker zwischen dem französischen Volk und seiner Regierung unterscheiden können, und das gleiche gilt für die Ägypter und die Amerikaner. Ausser den nationalistischen und jihadistischen Strömungen erinnern sich unsere Völker gut an die Unterstützung des irakischen Volkes durch die europäischen Völker gegen die amerikanische Invasion. Bezüglich Alliot-Marie wissen alle sehr gut über die Affäre der Lieferung von Repressionsmaterial an Ben Ali und ihre Beziehungen zu gewissen tunesischen Finanz- und Politikmilieus Bescheid.

Was die Zukunft betrifft: Man kann nichts vorhersagen, aber es ist sicher, dass die Bevölkerung die Art von Beziehungen, die in der Vergangenheit vorherrschten, nicht mehr akzeptieren werden. Die UGTT verspricht den Bewohnern der inneren Regionen die Ankunft von ausländischen Investoren und eine rosige Zukunft: Kabelfabriken zum Export für amerikanische Autos! Welche Entwicklung! Aber die Bevölkerung schert sich einen Dreck um diese Versprechen. In den Politik- und Finanzmilieu ertönt der Schlachtruf: „Invest in Democracy“. Eine neue Form der Rekuperation: Ihr wollt Arbeit? Wir geben sie euch in Form ausländischer Zulieferbetriebe, die für den globalen Markt produzieren...Die Bourgeoisie hat nur ein Projekt: zwischen der Bevölkerung und dem ausländischen Kapital zu vermitteln.“

Das israelisch-palästinensische Problem kondensiert enorm die globalen geopolitischen Kräfteverhältnisse und die despotischen arabischen Regime instrumentalisierten es stets, um die Volksmassen von den inneren Problemen ihrer Gesellschaften abzulenken. Wie könnten die aktuellen Volksaufstände helfen, dafür eine humane Lösung zu finden? Und besteht nicht das Risiko, dass die arabischen Bevölkerungen, die mit gravierenden politischen, sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten konfrontiert sind, in diesem Konflikt ein Ventil für ihre Frustrationen finden?

„Wir glauben, dass es keine unmittelbare Lösung der palästinensischen Frage gibt und sie wird vielleicht die letzte sein, die gelöst wird, weil sie aus allen globalen Widersprüchen resultiert.

Diesbezüglich sind wir gegen zwei separate Staaten, sondern für einen laizistischen, demokratischen und in die Region integrierten Einheitsstaat für Israelis und Palästinenser – das heisst ein Staat, der kein Mittel der Kontrolle der arabischen Bevölkerung ist. Junge Palästinenser riefen in Gaza und im Westjordanland zu einem Aufstand gegen die beiden aktuellen palästinensischen Führungen und gegen diese Machtkämpfe auf. Sie wurden sofort von Abbas und der Hamas verhaftet...Die palästinensische Frage ist eng mit den sozio-ökonomischen Bedingungen der arabischen Völker verbunden. Denn es muss gesagt werden, dass die arabische Bourgeoisie, die mit dem globalen Kapital verbündet ist, auch mit dem zionistischen Regime verbündet ist. Die beiden Fragen sind also sehr verwoben.“

Die arabischen Gesellschaften sind mit grossen kulturellen, politischen, demographischen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert und die schwerwiegenden geopolitischen Tendenzen werden sie zweifellos noch vergrössern: programmiertes Ende des Erdöls, globale landwirtschaftliche Unterproduktion und Wirtschaftskrise. Welches Wege können die arabischen Länder in Anbetracht dieser Herausforderungen gehen? Könnten die Aufstände in der arabischen Welt trotz allem das Ende des Islamismus', oder gar des politischen Islams bedeuten?

„Die beiden Aufstände waren spontan und vor allem die integristischen politischen Strömungen wurden von der Volksbewegung komplett überrumpelt. Was neu ist an der heutigen Situation ist die Tatsache, dass unsere Jugend die Momente des Aufkommens der integristischen Strömungen nicht kannten. Der Iran ist kein Modell mehr, umso weniger, da er auf keinen Fall gegen einen Aufstand der tunesischen oder ägyptischen Art immun ist. Übrigens geschieht mit den integristischen Bewegung im Moment genau, was mit den linken geschehen ist, nämlich eine Zersplitterung.

Aktuell haben vier islamistische Parteien in Tunesien ihre Legalisierung beantragt: ihre Anführer sind alle ehemalige Anführer der integristischen Bewegung Ennahdha und wichtige Meinungsverschiedenheiten trennen sie. Die integristische Herausforderung ist real, aber nicht unmittelbar und die Islamisierung (das Tragen des Hijabs zum Beispiel) war bis anhin in Tunesien nicht politisch. Die Mehrheit der Frauen die beispielsweise einen Hijab tragen, sagen, sie stimmen nicht für Ennahdha, das sie finden, dass diese zutiefst gegen Frauenrechte ist.“