Prozess zu Anti-Nazi-Demo in Dresden - Im Visier der sächsischen Justiz

Erstveröffentlicht: 
13.08.2017

Mehr als sechs Jahre lang verfolgte die Staatsanwaltschaft Tim H. als angeblichen Anstifter und Gewalttäter einer Anti-Nazi-Demo in Dresden. Nun könnte er endgültig freigesprochen werden. Von Julia Jüttner

 

Tim H. ist zuversichtlich. Wenn er am Montag das Oberlandesgericht Dresden verlässt, könnte er zum ersten Mal seit mehr als sechs Jahren einen Schlussstrich ziehen. Einen Schlussstrich unter einen Angsttraum, der am 19. Februar 2011 begann, als er sich in Dresden Neonazis in den Weg stellte.

 

Dieser Tag hat sein Leben verändert. Damals eskalierte die Demonstration, die alljährlich in der sächsischen Landeshauptstadt stattfindet, wenn Neonazis mit einem Aufmarsch der Bombardierung Dresdens 1945 gedenken wollen.

 

Im Jahr 2011 zogen 3000 Rechtsextreme durch die Straßen. Mehr als 10.000 Gegner traten ihnen entgegen: Einer von ihnen war Tim H., 40, ein auffallend großer Mann, er hatte ein Megafon in der Hand, in das er "Hau ab, du Nazi-Schwein!" gebrüllt haben soll, als er beobachtete, wie ein Polizist auf einen Demonstranten eindrosch.

 

Vermummte warfen Latten, Steine, Flaschen, sie attackierten Polizeibeamte und benutzten Pyrotechnik. Die Staatsanwaltschaft wollte durchgreifen, den Bürgern der Stadt zur Seite stehen, die Jahr für Jahr den Zusammenstoß Rechter und Linker auszuhalten haben. Die Strafen sollten hart sein, damit zukünftige Nachahmer davon abgehalten werden, extra zur Randale nach Dresden zu reisen. In ihrem Ermittlungseifer war die Behörde kaum zu bremsen.

 

Für Tim H. begann eine mehr als sechs Jahre währende Tortur: Er soll Rädelsführer gewesen sein, ein Anstifter, der mit seinem Megafon eine Menschenmenge zum Durchbruch einer Polizeisperre angeheizt und zu Gewaltexzessen aufgerufen habe. Davon sind die Ankläger überzeugt.

 

Gang durch die Instanzen


Nichts davon sei wahr, sagt Tim H. Er arbeitet seit vielen Jahren in der Bundesgeschäftsstelle der Linken, er ist verheiratet, Vater zweier Kinder, Alleinverdiener, nicht vorbestraft. Er kann es sich aus vielen Gründen nicht erlauben, gegen das Recht zu verstoßen, da braucht es nicht nur Moral.

 

Im Januar 2013 verurteilte ihn das Amtsgericht Dresden zu einer Haftstrafe von einem Jahr und zehn Monaten - ohne Bewährung. Wegen Beleidigung, aber vor allem wegen Körperverletzung und besonders schweren Landfriedensbruchs. Tim H. legte Berufung ein.

 

Die 11. Strafkammer des Landgerichts Dresden hob das Urteil im Januar 2015 auf und sprach Tim H. vom Vorwurf des besonders schweren sowie des einfachen Landfriedensbruchs frei. Der Richter lobte die "gute Arbeit der Verteidigung", die eigentlich die Arbeit der Polizei gemacht habe; wegen der Beleidigung des Polizeibeamten sollte Tim H. eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 45 Euro zahlen. Das ist knapp unterhalb der Grenze einer Vorstrafe.

 

Tim H. ging in Revision, die Staatsanwaltschaft auch. Ihm ging es um einen Freispruch; der Anklagebehörde um den Landfriedensbruch. Im dritten Prozess versuchten die Ankläger gar mit einem Stimmengutachten aufzutrumpfen.

 

Es half nichts. Im Januar 2017 wurde Tim H. freigesprochen. Im Urteil heißt es: Tim H. war nicht vermummt, nicht bewaffnet; er machte Ansagen durch sein Megafon - ob er zu Gewalt aufrief, konnte nicht festgestellt werden, und damit ebenso wenig vorsätzliche Körperverletzung und Landfriedensbruch.

 

Auch nicht festgestellt werden konnte, dass alle in der Menschenmenge, in der sich Tim H. mit seinem Megafon aufhielt, verabredet hatten, gewaltsam die Polizeiabsperrung zu durchbrechen. Sie bildeten nach Ansicht des Gerichts nicht die "Basis", sondern die "Kulisse" für die verübten Gewalthandlungen, die auf das Konto des sogenannten schwarzen Blocks gingen - eine unfriedliche Menge von etwa hundert Personen, zu denen Tim H. "weder aktiv noch passiv als Täter oder Teilnehmer" gehört habe.

 

Die Beleidigung des Polizisten ("Nazi-Schwein") sei erwiesen, so der Richter, aber nicht mehr zu verurteilen, da kein fristgerechter Strafantrag gegen Tim H. gestellt worden sei.

 

"Bekämpfung der Unschuldsvermutung"


Doch die Staatsanwaltschaft ließ auch nach diesem Urteil nicht locker und legte erneut Revision ein. Und um diese Revision wird es am Montag im Saal 0.2 des Oberlandesgerichts Dresden gehen.

 

Die Zuversicht von Tim H. speist sich aus einem knappen Schreiben des Oberlandesgerichts Dresden, in dem der am Montag verhandelnde Richter ankündigt, dass er die "revisionsbegründenden Mängel in der Beweiswürdigung", die die Staatsanwaltschaft sieht, nicht nachvollziehen könne. Für Tim H. sind es Worte der Hoffnung.

 

Denn die Generalstaatsanwaltschaft Dresden begründet die Revision vor allem damit, dass das Landgericht Dresden hätte klären müssen, zu welchem Zweck der Angeklagte damals überhaupt ein Megafon mit sich geführt habe - "wenn nicht, um die unfriedliche Menge, den schwarzen Block, zu koordinieren und anzutreiben".

 

"Die Staatsanwaltschaft führt damit ihre Bekämpfung der Unschuldsvermutung fort, ein Vorgehen, das das ganze Verfahren geprägt hat", sagt Verteidiger Sven Richwin.

 

Der Senat teilt in der Verfügung mit, dass die Staatsanwaltschaft einen sogenannten Erfahrungssatz aufstelle, wonach der, der bei Demonstrationen ein Megafon bei sich trage, auch zu Gewalttätigkeiten neige und aufrufe. "Eine Vielzahl friedlicher Demonstrationen, bei denen ebenfalls ein Megafon mitgeführt wird, beweist, dass es den angenommenen Erfahrungssatz nicht gibt", schreibt der Vorsitzende Richter.

 

Es wäre überraschend, wenn Tim H. am Montag keinen Schlussstrich ziehen könnte. Weniger überraschend hingegen ist, dass die Staatsanwaltschaft selbst im Falle eines endgültigen Freispruchs wohl das erreicht hätte, was sie wollte: ein Exempel statuieren, abschrecken. Menschen davon abhalten, auf die Straße zu gehen, ihre Meinung kundzutun.

 

Tim H. hat wegen des laufenden Verfahrens seit mehr als sechs Jahren keinen Hausausweis für den Deutschen Bundestag erhalten. Unbekannte haben sein Zuhause zerstört, ihn und seine Familie das Fürchten gelehrt. Die 10.000 Euro, die ihn die Strafverfahren gekostet haben, hat er gemeinsam mit seinem Freundeskreis aufgebracht.