Dienststelle Interne Ermittlungen geht auch Anzeige gegen Einsatzleitung nach. Viele mutmaßliche Opfer melden sich nicht.
Hamburg. Frank Björnson will gerade ein Bier trinken, als die Polizei ums Eck kommt. Der Anwohner sitzt am Freitagabend des G20-Gipfels mit Nachbarn vor einem Wohnhaus im Schanzenviertel; das brennende Schulterblatt ist nur eine Straße entfernt, aber "weit weg, wie eine andere Welt". Bis eine Hundertschaft der Polizei in die Straße biegt. "Ich dachte sofort, dass es übel für uns wird", sagt Björnson.
Sie seien doch nur Anwohner, will Frank Björnson den Beamten noch zugerufen haben, nichts weiter, keine Provokationen, einfach nichts, sagt er. Dann habe es geknallt. Ein Kamerateam filmt zufällig, wie die Beamten plötzlich ohne Vorwarnung vorpreschen. Schlagen, zerren, treten, mit Pfefferspray sprühen. Björnson sagt, er habe Hämatome erlitten, das Gesicht habe noch tagelang gebrannt.
Leitartikel: Aufklärung in Gefahr
"Ich kann verstehen, dass es ein schwieriger Einsatz war. Aber ein Polizist darf niemals Unschuldige angreifen." Der Vorfall, wie Björnson ihn erzählt, hat jetzt ein Aktenzeichen: Vorwurf eines Polizeiübergriffs.
49 formelle Ermittlungsverfahren gegen Polizisten zählt das Dezernat Interne Ermittlungen (D.I.E.) der Innenbehörde aktuell, 41 davon wegen Körperverletzung im Amt. Wie die Innenbehörde bestätigte, gehen die Ermittler im Rahmen von Prüfungen weiteren 75 Fällen gegen Beamte nach – die Gesamtzahl der verdächtigten Polizisten könnte so auf mehr als 100 Beamte steigen.
Noch kein Verdachtsfall durchermittelt
Nach Abendblatt-Informationen läuft zudem auch ein Ermittlungsverfahren gegen die Einsatzleitung um den Leitenden Polizeidirektor Hartmut Dudde. Zuvor war eine entsprechende Strafanzeige eingegangen. "Die Prüfung von Gesamtverantwortlichkeit für bestimmte Vorgänge ist Teil unserer Arbeit, sofern eine solche Anzeige erstattet wird", heißt es dazu aus dem D.I.E. Noch ist aber kein einziger Verdachtsfall durchermittelt, auch die angebliche Polizeigewalt gegen Frank Björnson nicht belegt.
Der Herr dieser Verfahren ist Georg Krüger, ein auffallend freundlicher Beamter. Er leitet seit drei Jahren die Dienststelle mit 50 Mitarbeitern und Räumlichkeiten extra in einem Bürogebäude in der Nähe der Innenbehörde, um eine Anlaufstelle zu bieten. Nur traute sich nach dem G20-Gipfel bislang nicht ein einziges mögliches Opfer von Polizeigewalt hierher.
Krüger sagt, es sei das vielleicht größte Problem, überhaupt mit den Geschädigten in Kontakt zu kommen: "Es ist leider so, dass viele mögliche Betroffene sich uns gegenüber nicht äußern wollen oder keine Anzeige stellen". In fast 40 Prozent der Ermittlungen nach dem G20-Gipfel fehlt dem D.I.E. noch die Identität des Opfers. Während die meisten Polizisten detailliert zu den Vorwürfen Stellung nehmen würden, blieben die Opfer oft unbekannt. "Das ist schade. Wir wollen alle Schilderungen hören, um jeden Fall bestmöglich aufklären zu können", sagt Krüger.
In der linken Szene gibt es nicht viel Vertrauen in die Dienststelle. Dort ermittelten Polizisten gegen Polizisten, es gebe ein "Kartell des Schweigens", behaupten Kritiker. Es sei außerdem "Basiswissen", dass betroffene Polizisten eine Gegenanzeige stellten, etwa wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt.
Experte: Polizeistrategie begünstigt Übergriffe
Olaf Scholz (SPD) hatte nach dem G20-Gipfel zudem gesagt, es habe "keine Polizeigewalt" gegeben. Später relativierte Scholz' Sprecher die Äußerung, der Bürgermeister habe sich auf pauschale Verdächtigungen bezogen. Der erste Eindruck blieb. "Wer glaubt da noch an eine unbefangene Aufklärung?", heißt es von G20-Gegnern.
Georg Krüger will nicht darüber spekulieren, ob die Aussagen des Bürgermeisters der Aufklärung geschadet haben. Der Begriff der Polizeigewalt sei jedenfalls für das D.I.E. nicht relevant. "Wir orientieren uns an den Begriffen im Strafgesetzbuch. Denn es geht um eine Aufklärung anhand der Fakten."
Die wichtigsten Spuren sind dabei die Videos der mutmaßlichen Übergriffe. G20-Gegner laden sie auf einem eigenen Portal hoch, sortieren sie nach Angriffen gegen Demonstranten und gegen Journalisten. Das D.I.E. fordert zudem alle relevanten Mitschnitte der Polizei ein. Zusammen ergibt das Hunderte Stunden an Videomaterial.
Experten warnen aber davor, anhand der Mitschnitte voreilige Schlüsse zu ziehen. "Ob ein Polizeieinsatz rechtswidrig war, hängt sehr vom Einzelfall ab. Das können nur Personen bewerten, die Insiderwissen über die Taktik und den Kontext des Einsatzes haben", sagt Professor Rafael Behr von der Akademie der Polizei.
Verhältnismäßigkeit im Fokus
D.I.E.-Chef Georg Krüger betont, dass es rechtlich vor allem um Verhältnismäßigkeit und individuelles Fehlverhalten gehe. Es liege "auf der Hand, dass ein langer Einsatz mit wenigen Ruhezeiten auch eine hohe Belastung für die Beamten darstellt". Auch ein Faustschlag, der wie ein Übergriff wirkt, könne aber unter Umständen legitim sein. Deshalb werde jeder Einzelfall geprüft.
Der Polizeiwissenschaftler Behr sagt, alle Handlungen der Polizei müssten im Kontext der "hohen Gewaltbereitschaft etlicher Demonstranten bei G20" gesehen werden. Gleichzeitig führe die harte Strategie der Polizeiführung zu vielen Konfrontationen, in denen die Polizisten selbst entscheiden müssten. "Das birgt das Risiko, dass einzelne Beamte zu hart gegen Demonstranten vorgehen, weil sie glauben, so den Auftrag zu erfüllen", sagt Behr.
Bei Kontrolle nackt ausziehen
In mindestens einem Fall ist die Polizei bei G20 eindeutig zu weit gegangen – im Umgang mit den "Falken", einem sozialistischen Jugendverband aus Nordrhein-Westfalen. Der Bus der Jugendlichen wurde von behelmten Einheiten durchsucht, später mussten sich einige Jugendliche in einer Gewahrsamzelle nackt ausziehen und wurden abgetastet. "Manche von ihnen brauchen psychologische Hilfe", sagt Paul M. Erzkamp, Landesvorsitzender der "Falken". Er hat eine Feststellungsklage eingereicht. Innensenator Andy Grote (SPD) hat sich für den Vorfall entschuldigt.
Bei den Hamburger Behörden liegt auch die Frage, ob sich Polizisten anderer Bundesländer strafbar gemacht haben. Das D.I.E. fordert dazu Protokolle an – "was dokumentiert ist, bekommen wir auch", sagt Georg Krüger. Wenn ein Vorfall nicht vermerkt wurde, könnte das ein Indiz für einen unrechtmäßigen Übergriff sein. Die Polizisten müssen sich auch auf unangekündigte Besuche einstellen: "Den Zeitpunkt, an dem ein beschuldigter Polizist von den Ermittlungen erfährt, bestimmen wir."