„Eine Geschichte des Grauens“

Erstveröffentlicht: 
26.07.2017
Komitee hält Erinnerung an die Opfer der Judenverfolgung in Riga wach

Von Romy Richter

 

Riga. Es ist nicht die beste Wohngegend in Riga rund um die „Ludzas iela“. In der großen Straße in der lettischen Hauptstadt stehen alte, unsanierte Holzhäuser neben mehrstöckigen Betongebäuden mit abgeplatzten, grauen Fassaden. Der Verkehr rollt lärmend vorbei, einige Anwohner schauen misstrauisch aus dem Fenster. Diese große Magistrale führte einst mitten durch das Rigaer Ghetto, in das Zehntausende Juden eingepfercht wurden. Diese zentrale Verbindung war die Leipziger Straße. Wie die anderen Wege in dem Viertel war sie nach den Orten benannt, aus denen Juden nach Riga deportiert wurden.

 

Mehr als 25 000 Juden waren 1941/42 aus dem Deutschen Reich in das Baltikum nach Riga verschleppt worden. Die meisten von ihnen wurden im Wald von Bikernieki ermordet. Bis vor einigen Jahren erinnerte an diesen Orten nur wenig an die Gräueltaten, die sich hier abgespielt haben. Das ist inzwischen anders. Das im Jahr 2000 gegründete Riga-Komitee, ein Städtebündnis aus mittlerweile 55 Städten innerhalb des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, will die Erinnerung an die Geschichte wachhalten und das Gedenken pflegen. Es fühlt sich in seiner Arbeit auch den 26 000 ermordeten lettischen Juden des Rigaer Ghettos verbunden. 13 Städte zählten zu den Gründungsmitgliedern des Riga-Komitees, darunter auch Leipzig. Später, im Jahr 2003, kam auch Sachsens Hauptstadt Dresden hinzu.

 

Heinz Samuel aus Hannover ist zum ersten Mal in Riga. Er steht vor einem ungeputzten Haus auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos und blickt unschlüssig umher. Er ist sichtlich bewegt. Hier könnten seine Großeltern untergebracht gewesen sein. Es fiel ihm nicht leicht, diese Reise anzutreten. Trotz Vorbehalten habe aber auch die Neugierde dafür gesorgt, dass er die Einladung des Bürgermeisters der Stadt Hannover, Thomas Hermann (SPD), die Gedenkreise des Deutschen Riga-Komitees zu begleiten, angenommen habe. Nun ist er in der Stadt, in der sich die Spur seiner Großeltern und seines Onkels verliert.

 

„Es ist ein wichtiger Ort für meine Familiengeschichte, ein Schlüsselort“, sagt der 64-Jährige nachdenklich. Heinz Samuel ist zwar erst 1954 geboren, aber er habe in seinem Heimatdorf während der Kindheit immer die Ausgrenzung gespürt, die der jüdischen Familie nach wie vor begegnete. Und er habe nie die Großeltern gehabt, die andere Kinder hatten, fügt er hinzu. Seine Großeltern waren in Riga ermordet worden.

 

Ruth Gröne war ein Kind, als ihre Großeltern 1941 abgeholt wurden. „Das war für mich so schmerzlich. Wir haben ja mit ihnen zusammen gewohnt. Und plötzlich waren sie nicht mehr da.“ Die 84-Jährige, ebenfalls aus Hannover, hat ein Foto ihrer Großeltern dabei, deren Verlust sie nie überwunden hat: „Sie haben mir gefehlt, sie fehlen mir heute noch.“ Gröne sagt, sie habe ihren Vater zuvor nie weinen sehen. Aber an diesem Tag sei er vom Bahnhof gekommen
und zusammengebrochen. Später wurde auch der Vater im KZ umgebracht.

 

Möglich, dass ihre Großeltern wie die von Heinz Samuel in diesem Haus gelebt haben. Es ist diese schreckliche Geschichte, die sie verbindet. So stehen sie heute auf diesem Hof und machen noch ein Foto von diesem tristen Ort. Ein paar Studentenblumen wachsen an der Hausmauer, ein pinkfarbener Puppenwagen steht vor der Tür. Ein älterer Mann kommt zum Rauchen aus dem Haus. Es ist ein anderer Ort geworden, an dem fast nichts an die Ereignisse im Nationalsozialismus erinnert.

 

Auch an dem nicht weit von der Leipziger Straße entfernten Blechplatz ist heute nur schwer vorstellbar, was sich damals ereignete. Bei der sogenannten Dünamünde-Aktion im Jahr 1942 wurden Menschen, meist Schwächere und Ältere, für ein Arbeitskommando in einer Fischkonservenfabrik zusammengetrieben. Später mussten Frauen an diesem Platz ankommende Kleidung sortieren. Als sie die Sachen ihrer Verwandten wiedererkannten, war klar: Es gab keine Fischfabrik. Die Menschen waren in den Hochwald von Riga-Bikernieki gebracht und dort erschossen worden.

 

Dort wurde 2001 mitten im Wald auf Betreiben des Riga-Komitees und des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge ein Mahnmal errichtet. Es besteht aus Tausenden Granitsteinen, die symbolisch für die damals zusammengekauerten Menschen vor ihrer Erschießung stehen. Auf einzelnen Platten stehen Namen der Mitgliedsstädte des Riga-Komitees, so ist auch für Leipzig und Dresden jeweils eine Platte im Boden eingelassen. Auch aus diesen beiden sächsischen Städten gab es 1942 Deportationstransporte ins Rigaer Ghetto mit Hunderten Menschen.

 

Winfried Nachtwei, Vorstandsmitglied von „Gegen Vergessen – für Demokratie“, erinnert sich, dass die Massengräber von Bikernieki noch 1989 in einem fürchterlichen Zustand gewesen seien. Familien hätten auf den Gräbern sogar gepicknickt. „Es war ein verlorener, vergessener Ort.“ Diese verschüttete Geschichte, dass auch in Riga die massenhafte Ermordung deutscher, österreichischer und tschechischer Juden ihren Anfang nahm, dürfe aber nicht vergessen werden, mahnt Nachtwei. Für viele Juden, insbesondere aus Westfalen, sei Riga das „Auschwitz“ gewesen.

 

Für den stellvertretenden Präsidenten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Wolfgang Wieland, ist es wichtig, vor allem den Jugendaustausch zu fördern, Netzwerke zu schaffen und auch wenn es seltsam formuliert klingt, den Gedenkort lebendig zu halten und „zu bespielen“. So gibt es beispielsweise regelmäßig Workcamps und Gedenkreisen. „Was sich hier in Riga abgespielt hat, ist eine Geschichte des Grauens.“