In Wurzen soll es demnächst eine Demo gegen Neonazis geben. Dem LVZ-Lokalchef wird daher jetzt schon Angst und Bange. Also schimpft er aufs Versammlungsrecht und findet die »Hetze« gegen Wurzen mindestens genauso schlimm wie betrunkene Neonazis vor Flüchtlinsunterkünften
Wurzen hat es nicht leicht. Und die LVZ-Lokalredaktion in Wurzen erst recht nicht. Das Sommerloch breitet sich auch hier aus, was soll man da nur jeden Tag in die Zeitung schreiben? Nun gibt es zum Glück die Antifa, die demnächst vorbeikommen will. Und die hat man doch erst letztens im Fernsehen gesehen, als sie ganz Hamburg kurz und klein geschlagen hat.
»Wurzen ist Angst und Bange«, schreibt daher der Lokalchef der Muldental-Ausgabe der LVZ, Thomas Lieb, heute in seinem Kommentar zur geplanten Demo im September. Und fügt sofort an: »Zu recht, leider.« Begründungen, warum ihm und allen zu Recht Angst und Bange ist, findet er viele: Ein autonomes Bündnis habe die Stadt als »das Zentrum neonazistischer Gewalt« und als »von Neonazis als sicherer Aktionsraum beanspruchte Provinz« auserkoren und wolle am Eröffnungstag des Tags der Sachsen die antifaschistische Demonstration »Das Land – rassistisch/Der Frieden – völkisch/Unser Bruch – unversöhnlich« durchführen. Dieses Motto hat er selbst gelesen, das benutze die Gruppe bundesweit, auch wenn es auf dem Anmeldebogen im Landratsamt »sehr viel gesellschaftstauglicher formuliert« werde.
Dann versucht Lieb, lustig zu werden, um die lauernde Gefahr zu beschreiben: Es werden sich wohl keine »Gutmenschen mit Gänseblümchen im Haar nach Wurzen aufmachen werden, um auf dem Markt einen Tanzkreis zu bilden«. Seine Indizien: Dass das Bündnis seinen Sitz in Hamburg haben soll und dass es »in seinem Aufruf #Wurzen0209 an Connewitzer Krawalle im Januar 2016 erinnert«.
Nur hat Lieb da leider etwas durcheinander gebracht: Die Krawalle in Connewitz im Januar 2016, bei denen Böller und Steine in Kneipen flogen, diverse Läden kaputt geschlagen und Sachen angezündet wurden, haben nicht irgendein autonomes Zentrum in Hamburg oder böse Linksradikale veranstaltet, sondern über 200 Neonazis und Hools. Einige von ihnen kamen aus Wurzen oder sind sehr gut mit der Neonazi-Szene im Landkreis Leipzig, zu dem Wurzen zählt, vernetzt.
Dass man in Wurzen nun gegen Neonazis protestieren will, hält Lieb allerdings für ein »unsägliches Pauschal-Urteil«, mit dem über die Stadt »gehetzt« werde, »die, jaaa – ein Problem mit Rassisten und Neonazis hat, sich aber engagierter und mit einer breiteren Unterstützung der Einwohnerschaft dagegen wehrt, als das in jeder beliebigen Stadt im Ruhrpott der Fall ist«. Das müsste man statistisch mal aufarbeiten (vielleicht hat Herr Lieb demnächst ja mal Zeit), bekannt sind allerdings Ausschreitungen vor der Flüchtlingsunterkunft und Angriffe auf Flüchtlinge in Wurzen.
Lieb stellt sich aber in seinem Text eine ganz andere Frage: Wie zeitgemäß ist das Versammlungsrecht noch? Er nennt das kein Grundrecht (schon gar nicht eins, dass man schützen solle), sondern ein »Schutzschild der sächsischen Behörden«.
Am Ende ist dann für ihn klar: Die schon genannte Hetze über Wurzen »ist nicht weniger gefährlich, als eine Demo angetrunkener Neonazis vor einem Flüchtlingslager. Würde man auch verbieten.« Ein Satz, der nicht nur völlig falsch ist, weil angetrunkene Nazis vor dem Flüchtlingslager in Wurzen nicht verboten wurden, auch wenn es einige Platzverweise gab.
An dieser Stelle begleiten wir in unregelmäßiger Folge die publizistische Praxis der vom Kapitalismus gebeutelten Leipziger Volkszeitung, ehemals »Organ der Bezirksleitung Leipzig der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands«.
JULIANE STREICH