„Linda kann wieder in die Gesellschaft integriert werden"

Erstveröffentlicht: 
25.07.2017
Nach Festnahme im Irak: Deradikalisierungs-Experte sieht gute Chancen für Wiedereingliederung der Schülerin Von Andreas Dunte

 

Leipzig/Dresden. Die im Irak festgenommene 16-jährige Linda W. aus Pulsnitz lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit wieder in die Gesellschaft integrieren. Davon geht Thomas Mücke, Geschäftsführer und Gründer von Violence Prevention Network (VPN) aus, einer Organisation für Deradikalisierung, die seit Kurzem auch in Sachsen vertreten ist. „Bei jungen Menschen zwischen 14 und 21 Jahren gelingt in der Regel der Ausstieg aus dem religiös begründeten Extremismus, die richtige Hilfe vorausgesetzt“, sagt Mücke. Seine Organisation habe da gute Erfahrungen gemacht. Junge Menschen seien zumeist noch erreichbar, weil sich die Strukturen noch nicht so stark manifestiert hätten.

 

Allerdings wisse man im Fall der Linda W. recht wenig, sagt der 59-Jährige. Sollte sie nach Deutschland zurückkehren, werde ermittelt, wie sie zum IS gekommen ist, was sie im Kriegsgebiet erlebt und wie sie gehandelt hat. „Mit Sicherheit kommt sie in Haft“, so Mücke. Seit Sommer 2015 gilt bereits die Ausreise nach Syrien als Unterstützung einer terroristischen Organisation (Paragraf 129). Zurückgekehrte kommen deshalb sofort ins Gefängnis.

 

Mückes Organisation ist in Bayern, Baden-Württemberg, Berlin und Hessen tätig. Seit 1. Juli dieses Jahres auch in Sachsen. Die Zahl der Islamisten ist im Freistaat nach vorläufigem Verfassungsschutzbericht auf rund 350 Personen im Jahr 2016 gestiegen (2015 waren es rund 300), wovon 190 dem salafistischen Milieu zugeordnet werden (deutschlandweit gehören rund 9700 Personen dazu, 2015 waren es noch 8350). Nur bei einem geringen Teil von ihnen handele es sich um sogenannte Gefährder, die dem dschihadistischen Salafismus zuzuordnen seien.

 

Seit über 25 Jahren arbeitet Mücke mit ideologisierten Gewalttätern, erst mit Rechtsextremen, seit einigen Jahren auch mit Islamisten. Der erste Kontakt findet oft im Gefängnis statt. Den Weg zu seiner Organisation finden besorgte Eltern oder Angehörige und Freunde von extremistischen Kindern und Jugendlichen auch über das Telefon. Wer bei der „Beratungsstelle Radikalisierung“ des Bundesministeriums für Migration und Flüchtlinge anruft (Hotline: 0911 9434343), landet unter anderem bei seiner Organisation, die aufgrund des gestiegenen Bedarfs auf 100 Mitarbeiter angewachsen ist. „Wir sind inzwischen sehr gut aufgestellt“, sagt Mücke. 2014 habe das noch wesentlich anders ausgesehen. Im Kontakt steht man auch zu der sächsischen Koordinierungs- und Beratungsstelle Radikalisierungsprävention (Kora). Dabei handelt es sich um ein Kooperationsprojekt des sächsischen Integrations-, des Innen- und des Justizministeriums. (Kora-Notruf: Telefon 0351 5645649).

 

In Erscheinung treten Organisationen wie VPN auch, wenn bekannt ist, dass jemand nach Syrien ausgereist ist. Dann wird der Kontakt zu den Eltern oder Verwandten gesucht. Im Fall von Linda W. sei das nicht anders, sagt der Pädagoge, ohne konkret zu werden.

 

Seit geraumer Zeit, so Mücke weiter, rekrutieren die Salafisten verstärkt Minderjährige und Mädchen. Mit Erfolg. Der Berliner kennt eine Vielzahl von Beispielen. Die Radikalisierungsverläufe ähneln sich zumeist.

 

Er erzählt von Anne (18 Jahre), deren Vater gestorben ist und die zu ihrer Mutter ein angespanntes Verhältnis hat. „Über den Freundeskreis bekommt sie Kontakt zur salafistischen Szene, fühlt sich dort gut aufgehoben. Aus Dankbarkeit will sie nach Syrien ausreisen und etwas gegen die ,globale Ungerechtigkeit‘ tun.“ Oder von Thorsten, der sich nach der Scheidung der Eltern nach neuen Zugehörigkeiten sehnt und sie in der Szene findet. Und da ist Benjamin, der ohne Vater aufwächst, nichts auf die Reihe bekommt, kriminell wird. In der Salafistenszene findet er die lang ersehnten Vaterfiguren. „Die Szene suggeriert den jungen Leuten auf sehr geschickte Art und Weise ein klares Weltbild mit einfach zu befolgenden Regelwerken“, so Mücke. „Gepaart mit der globalen Krise und dem humanitären Leid der Muslime auf der Welt.“ Und: „Gewalt wird als legitimes Mittel für eine Lösung all dieser Krisen verherrlicht.“

 

Die Radikalisierung müsse stets im Kontext der konkreten Lebensgeschichte der jungen Menschen gesehen werden. „Es zeigt sich, dass diese Menschen sich aus der Szene lösen können“, so Mücke. In seinem Buch „Zum Hass verführt – Wie Salafismus unsere Kinder bedroht und was wir dagegen tun können“ schildert er auch den Fall von Mehmet (17), der ins syrische Kampfgebiet ausgereist ist und in einem IS-Ausbildungslager statt Religion nur Gewaltverherrlichung und Hass erleben musste. „Im Lager bekam er immer wieder zu hören, dass er und die anderen nicht mehr zurückkehren könnten, da ihr früherer Staat sie jetzt verfolgen werde.“ Mehmets Familie half bei der Rückkehr, unterstützt von VPN. Er besuchte wieder eine Schule und hat einen Ausbildungsplatz. „Gelingen kann Integration nur, wenn die Konflikte in der Familie geklärt, Perspektiven aufgezeigt und soziale Netzwerke geknüpft werden.“