Wurzen. „Wir brauchen niemanden, der hier kurz aufkreuzt, uns vorhält, wie rechts wir sind und wieder abhaut“, sagt Wurzens Oberbürgermeister Jörg Röglin (parteilos) beinahe trotzig. Mit Sorge schaut er auf die für den 2. September angemeldete „bundesweite antifaschistische Demonstration“ in Wurzen.
„Es stinkt uns an, als Spielwiese für all jene herzuhalten, die unsere Stadt einseitig als Hochburg der Rassisten verunglimpfen“, schimpft Röglin. Ja, natürlich, so der Stadtchef weiter, es gebe Probleme, auch mit Neonazis, so wie andernorts: „Aber die Organisatoren des Aufmarsches erwähnen mit keiner Silbe, was wir hier in 20 Jahren mit viel Herzblut aufgebaut haben – kein Wort zu unseren Gedenkmärschen auf den Spuren einstiger KZ-Häftlinge, kein Wort über 17 verlegte Stolpersteine zu Ehren vertriebener jüdischer Mitbürger, kein Wort über die internationalen Fußballturniere unseres Sportvereins.“ Die Stadt, so Sprecherin Cornelia Hanspach, habe sich bewusst entschieden, Flüchtlinge nicht in einer Massenunterkunft, sondern dezentral in Wohnungen zu beherbergen: „Damit haben wir nicht den einfachsten Weg gewählt, aber wir vertrauen den Wurzenern – und es klappt ja auch überwiegend.“
Das sehen die Initiatoren der Antifa-Demo ganz anders. Im Internet rufen sie am zeitgleich in Löbau stattfindenden Tag der Sachsen auf, nach Wurzen zu reisen: „Statt dort hinzugehen, wo sich staatliche Akteure als schöneres, weltoffenes Sachsen inszenieren, wollen wir mit euch an einen Ort fahren, der exemplarisch für die rassistische Normalität in Sachsen steht.“ Aus Wurzen kämen Organisatoren des Neonaziangriffs in Connewitz im Januar 2016 aber auch Protagonisten der Legida-Aufmärsche. Nach wie vor, so die Aufrufer, sprudelten in der Stadt wichtige Einnahmequellen für die rechte Szene, wie das Neonazi-Label Front Records. Kerstin Köditz, Linken-Landtagsabgeordnete, gehört weder zu den Anmeldern noch sei die Demonstration mit ihrer Partei abgesprochen: „Das heißt nicht, dass wir uns von der Veranstaltung und ihrem Anliegen distanzieren: Die rassistischen Zwischenfälle in Wurzen sind seit Jahren auf hohem Niveau, die Aufklärungszahlen im Bereich des Polizeireviers dagegen liegen deutlich unter dem Durchschnitt.“
Brigitte Laux vom Landratsamt bestätigte auf LVZ-Anfrage, dass das Bündnis „Irgendwo in Deutschland“ aus Hamburg eine Demonstration für den 2. September von 15 bis 18 Uhr angemeldet habe. Motto: „Gegen Rassismus in Wurzen und Sachsen!“ Hierzu würden etwa 200 Personen erwartet. Das Demonstrationsrecht sei ein hohes Gut, sagt Laux, entsprechend prüfe die Versammlungsbehörde derzeit, ob und wie der angemeldete Aufzug so abgehalten werden könne, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung gewahrt bleibe.
Pfarrer Alexander Wieckowski fürchtet, dass auf dem Rücken der Wurzener eine Art Stellvertreterkrieg ausgetragen werde: „Zahlreiche Mitglieder unserer Kirchgemeinde packen in der Flüchtlingshilfe mit an. Nein, Pauschalkritik bringt nichts und hat Wurzen auch nicht verdient.“ Landrat Henry Graichen (CDU) sieht die Entwicklung der Stadt Wurzen und das Engagement zur Integration von Asylbewerbern und Flüchtlingen positiv: „Ich habe in den vergangenen Jahren ganz viele Wurzener kennen gelernt, die sich engagieren. Darauf können die Bürger stolz sein.“ Im Hinblick auf die geplante Demonstration mahnt Graichen zur Besonnenheit.
Ob Lesungen zum Nationalsozialismus, Ausstellungen über Alltagsrassismus oder Konzerte alternativer Bands – das Wurzener Netzwerk für Demokratische Kultur ist mehrfach preisgekrönt. Mitarbeiter Ingo Stange sieht im Vergleich zu den turbulenten 90er-Jahren durchaus Fortschritte: „Viele Wurzener spenden Kleider, Möbel und Spielzeug für die Flüchtlinge, bei uns gibt es Deutschkurse und ein sehr gut besuchtes monatliches Treffen von Frauen mit oder ohne Migrationshintergrund.“ Im Hinblick auf die bevorstehende Demo rät er zum Dialog, Vorverurteilung sei kein guter Ratgeber: „Im Gegenteil, es wäre doch begrüßenswert, wenn sich möglichst viele Wurzener anschließen.“
Christina Jurich, Christin, Buchhändlerin und Wurzenerin, bezweifelt den Sinn einer solchen Veranstaltung: „Niemand will in Wurzen irgend etwas unter den Teppich kehren. Ja, es gibt sie, Neonazis genauso wie einzelne Flüchtlinge, die sich daneben benehmen. Ich gehe immer noch auf die Betreffenden zu und sage ihnen persönlich, was ich denke. Nein, ein zweites Hamburg brauchen wir hier nicht.“ Er spreche für viele Wurzener Gewerbetreibende, holt Thomas Schwarze vom Werbestudio aus: „Wir haben alle Bammel. Wir können nur an die Vernunft der Beteiligten appellieren. Hoffentlich geht es friedlich ab. Ich jedenfalls habe schon einige Anfragen nach Splitterschutzfolie für Fensterscheiben bekommen.“
Wurzen ist Angst und Bange. Zu recht, leider. Ein autonomes Bündnis hat die Stadt als „das Zentrum neonazistischer Gewalt“ und als „von Neonazis als sicherer Aktionsraum beanspruchte Provinz“ auserkoren und will am Eröffnungstag des Tags der Sachsen (Löbau) die antifaschistische Demonstration „Das Land – rassistisch/Der Frieden – völkisch/Unser Bruch – unversöhnlich“ durchführen – dieses Motto nutzt die Gruppe bundesweit (auf dem Anmeldebogen im Landratsamt wird es sehr viel gesellschaftstauglicher formuliert).
Dass das Bündnis seinen Sitz in Hamburg haben soll und in seinem Aufruf #Wurzen0209 an Connewitzer Krawalle im Januar 2016 erinnert, lässt nicht vermuten, dass sich Gutmenschen mit Gänseblümchen im Haar nach Wurzen aufmachen werden, um auf dem Markt einen Tanzkreis zu bilden. Der Aufruf „Organisiert den antifaschistischen Widerstand bildet Antifa-Gruppen!“ lässt anderes vermuten.
Und es bleibt neben der Frage, ob die Organisatoren überhaupt wissen, wo Wurzen liegt (für eine Antwort waren sie gestern bis Redaktionsschluss nicht erreichbar), noch eine andere: Wie zeitgemäß ist das Versammlungsrecht noch, dass sächsische Behörden wie ein Schutzschild vor sich halten, wenn Rechts-, Linksextremisten oder andere radikale Gruppen „irgendwo in Deutschland“ eine Demo anmelden?
Jeder, der eine demokratische Meinung hat, sollte diese aussprechen können. Mit einem unsäglichen Pauschal-Urteil über eine Stadt zu hetzen, (die, jaaa – ein Problem mit Rassisten und Neonazis hat, sich aber engagierter und mit einer breiteren Unterstützung der Einwohnerschaft dagegen wehrt, als das in jeder beliebigen Stadt im Ruhrpott der Fall ist), ist nicht weniger gefährlich, als eine Demo angetrunkener Neonazis vor einem Flüchtlingslager. Würde man auch verbieten.