Fast unbemerkt hat die Politik das Aussageverweigerungsrecht beschnitten
Am 7. Juli 2017 hat der Bundesrat ein Gesetz beschlossen, das Zeugen unter bestimmten Bedingungen zu einer Aussage gegenüber Polizeibeamten zwingt. Damit ist das uneingeschränkte Zeugnisverweigerungsrecht gegenüber Polizisten abgeschafft. Darüber ist bislang nicht berichtet worden. Denn der Paragraf versteckt sich im »Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens«, das auch die rechtliche Grundlage für den Einsatz des Bundestrojaners geschaffen hatte. Die Berichterstattung konzentrierte sich auf diese Verletzung von Bürgerrechten durch Bundestrojaner. Jene, um die es hier geht, passierte den Bundesrat völlig unbemerkt.
Bislang musste man der Vorladung eines Staatsanwalts nachkommen. Nicht aber der eines Polizisten. Man durfte sie ausschlagen und hatte keine Sanktion zu befürchten. Mit dem neuen Gesetz gilt nun: Vorladungen der Polizei sind verpflichtend, wenn ihnen ein Auftrag der Staatsanwaltschaft zu Grunde liegt. Erscheint man nicht, kann der Staatsanwalt ein Ordnungsgeld verhängen, ein Richter sogar Ordnungshaft.
Doch das ist nicht das größte Problem, sagt der Strafverteidiger Udo Vetter, der auf seinem »lawblog« regelmäßig Angriffe des Staates auf Bürgerrechte anprangert. Wer nach Vorladung durch eine Staatsanwalt nicht erschien, hatte auch früher mit Zwangsmitteln zu rechnen. Neu ist nun, dass die Polizei bei der Zeugenvernehmung von der Kontrolle durch die Staatsanwaltschaft, die traditionell Herrin des Ermittlungsverfahrens ist, entkoppelt werden könnte. Vetter befürchtet nämlich, dass die Staatsanwaltschaft der Polizei nicht für jede Zeugenvernehmung einen Einzelauftrag erteilt, sondern bloß einmal einen allgemeinen Auftrag an ein Polizeipräsidium richtet, Zeugen in allen Fälle eines bestimmten Sachgebiets – organisierte oder politisch motivierte Kriminalität etwa – zu vernehmen. Damit würden Polizisten in der täglichen Ermittlungsarbeit verpflichtende Zeugenbefragungen vornehmen können, ohne dass ein Staatsanwalt im Einzelfall davon auch nur erführe.
Die Leitungsfunktion der Staatsanwaltschaft – ein Grundsatz der Strafprozessordnung – wäre damit untergraben. Dabei sind Staatsanwaltschaften mit dem Reichsjustizgesetz von 1877 eigens zu diesem Zweck geschaffen worden – nämlich »um Missstände im Verhalten der Polizei zu beseitigen und als deren Wächter zu dienen«, wie Susanne Beck, Strafrechtsprofessorin an der Uni Hannover schreibt.
Ein allgemeiner Auftrag der Staatsanwaltschaft an die Polizei ist kein
Hirngespinst. Die Landesregierungen von Hessen, Bayern und
Nordrhein-Westfalen hatten sie in der Begründung einer im März 2010
gescheiterten Bundesratsinitiative selbst befürwortet. Warum sollte der
Gesetzgeber die Staatsanwaltschaft auch mit der Bearbeitung unzähliger
Einzelfallaufträge belasten, wenn er mit dem neuen Gesetz erklärterweise
das Ziel verfolgt, Ermittlungs- und Strafverfahren zu straffen?
In der Tat könnten Staatsanwaltschaften sich der Leitungsfunktion im Ermittlungsverfahren bereitwillig entledigen, wie ein Gutachten des Koblenzer Oberstaatsanwalts Johannes Walter Schmengler nahelegt, das dieser im Auftrag des Bundesjustizministerium im November 2014 vorlegte. Er befürwortet darin die Aussagepflicht, denn: Misstrauen gegenüber der Polizei sei ungehörig, weil diese an Recht und Gesetz gebunden sei. Der Vertrauensvorschuss wird im Gutachten durch die verschwindend geringe Zahl von Beschwerden gegen Polizisten begründet, die beim Bürgerbeauftragten des Landes Rheinland-Pfalz eingehen. Für Nachfragen zu seiner Argumentation stand Schmengler nicht bereit. Eine Interviewanfrage des »neuen deutschlands« ließ die Pressestelle der Staatsanwaltschaft zunächst unbeantwortet.
In einer Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages im März warnte der Strafanwalt Stefan Conen, die geplante Aussagepflicht lade zu taktischer Missachtung der Selbstbelastungsfreiheit ein. Er befürchtet, Beschuldigte könnten als Zeugen vorgeladen und über ihr Auskunftsverweigerungsrecht nicht belehrt werden. Udo Vetter befürchtet zudem, Polizeibeamte könnten ohne Kontrolle durch einen Staatsanwalt auf die Idee kommen, Zeugen zu zermürben, indem sie Vorladungen auf weit entfernte Dienststellen erteilen, etwa einen Zeugen aus Düsseldorf nach Rostock bestellen.
Die Bundesregierung hatte Vorstöße der Bundesländer, eine Aussagepflicht einzuführen, wiederholt abgelehnt. Im November 2006 äußerte sie noch die Sorge, Staatsanwaltschaft und Polizei könnten von der Möglichkeit eines allgemeinen Vernehmungsauftrag umfassend Gebrauch machen. Die Sachherrschaft der Staatsanwaltschaft würde auf bedenkliche Weise zurückgedrängt. Etliche Bürgerrechtseinschränkungen später ist die Bundesregierung nun offenbar zu einer Neueinschätzung gelangt.