Prügelnde Einsatzkräfte beim G20-Gipfel? "Die gab es", sagt Rafael Behr. Mit dem Begriff Polizeigewalt hat der Soziologe trotzdem ein Problem. Ein Gespräch über eskalierende Demos und die rigide Strategie der Behörden.
SPIEGEL ONLINE: Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz sagte, beim G20-Gipfel habe es keine Polizeigewalt gegeben. Er sprach auch von einem "linken Kampfbegriff". Wie bewerten Sie das?
Rafael Behr: Zunächst ist "Polizeigewalt" historisch eingebettet in den Begriff der Staatsgewalt - also Gewalt, die Polizei ausüben darf und muss, ohne die ein Staat nicht funktionieren kann. Der Begriff Polizeigewalt, wie er im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel genutzt wurde, ist in der Tat missverständlich. Gemeint sind offensichtlich Übergriffe von Polizisten. Wenn in diesem Zusammenhang von Polizeigewalt gesprochen wird, suggeriert das, die Polizei sei eine in sich gewalttätige Organisation. Das halte ich für stark überzogen und insofern auch für unzutreffend.
SPIEGEL OLINE: Im Netz verbreiten sich zahlreiche Videos, die Polizeiprügel dokumentieren sollen. Gab es illegitime Übergriffe?
Behr: Übergriffe sind eigentlich immer illegitim. Und ja, es gab sie. Die Frage ist aber, ob sie Teil einer Gesamtstrategie sind, dann könnte man von Polizeigewalt sprechen, oder ob sie situationsbedingt erklärt werden können. Ein Beispiel: Ein junger Mann steht vor einem Polizeifahrzeug und wird mit einem Faustschlag von einem Polizeibeamten niedergestreckt. Das ist sicher keine von der Einsatzleitung angeordnete Maßnahme. Hier kann man von einem situationsbedingten Übergriff sprechen. Ich habe einige solcher Videos gesehen und würde das noch als situationsbedingte Gewalt bezeichnen. Was ich aber nicht gesehen habe, ist ein gewaltaffiner Polizeiapparat.
SPIEGEL ONLINE: Wurden die Übergriffe von Demonstranten oder gewaltbereiten Aktivisten provoziert?
Behr: Gewalt ist ein Interaktionsprozess und sie ist ansteckend. Sicher gab es auch geplante Aktionen, die die Polizei provozieren oder schädigen sollten. Wir wissen aber aus früheren Demonstrationen, dass auch Menschen, die ursprünglich keine Gewalt anwenden wollten, in bestimmten Situationen spontan gewalttätig werden. Manche fühlen sich zum Beispiel durch überzogene Maßnahmen der Polizei dazu veranlasst, und dann kommt es zu einer Art Gewaltspirale. Auch manche Übergriffe von Polizisten kann man als Disziplinlosigkeiten werten, die durch Stress ausgelöst wurden; also eher Überforderung als kriminelle Energie.
SPIEGEL ONLINE: Sie sehen Überlastung oder Schlafmangel als Grund für polizeiliche Übergriffe?
Behr: Da kommt vieles zusammen. Beim G20-Gipfel gab es eine Reihe von Überlastungssituationen für die Polizisten. In den meisten Fällen ging es offenbar nicht darum, Menschen festzunehmen, sondern Plätze freizuräumen. Gewaltanwendung ist ohne Aggressivität schwer vorstellbar. Theoretisch und juristisch kann man legitime oder illegitime Anwendung von Gewalt unterscheiden. So einfach ist das im Einsatz aber nicht. Ich nenne das die "Blood-Sweat-And-Tears-Situationen" von polizeilichen Maßnahmen. Nach vielen Stunden im Einsatz verhält man sich sicher anders als im ausgeruhten Zustand.
SPIEGEL ONLINE: Derzeit laufen Dutzende Ermittlungsverfahren gegen Polizisten. Können polizeiliche Übergriffe überhaupt angemessen aufgeklärt werden?
Behr: Ich fürchte nicht, denn Aufklärung beschränkt sich in Deutschland immer auf juristische Bearbeitung. Die größte Hürde ist es, die individuelle Schuld eines Beamten zu ermitteln. In einigen Fällen wird schon die Identifizierung der Tatbeteiligten schwierig. Das Problem bei der Aufarbeitung ist, dass der Polizist im Ermittlungsverfahren als Einzelperson gesehen wird. Seine Taten werden individuell betrachtet, geschehen sind sie aber aus einer gruppendynamisch äußerst komplexen Situation heraus. Bei dem akustischen und optischen Wirrwarr, das in solchen Situationen vorliegen kann, handelt der Einzelne oft nicht mehr rational, sondern als Teil einer Gruppe. Das gilt sowohl für Polizisten als auch für Demonstranten. Hier soll das Strafrecht eine individuelle Handlung sanktionieren, die eigentlich zunächst mal sozialpsychologisch erklärt werden müsste.
SPIEGEL ONLINE: Hätte die Polizei Übergriffe durch bessere Personalplanung verhindern können?
Behr: Das sagt sich hinterher immer so leicht. Tatsächlich wird es solche Überlastungssituationen immer geben, egal wie viele Polizisten vor Ort sind. Die Frage ist vielmehr, wo und wie die Beamten eingesetzt wurden.
SPIEGEL ONLINE: Das Schanzenviertel war während des Gipfels stundenlang in der Hand von Randalierern, Demonstranten und Schaulustigen. Hat diese Nacht das Bild der Polizei als souveräne Staatsmacht beschädigt?
Behr: Diese Nacht hat sicher die Stimmung verändert: Die Wut der Bewohner richtet sich eher gegen die Politik und die Polizeiführung. Es wurde aber auch für alle sichtbar, dass Polizisten an ihre Grenzen gebracht wurden, darauf folgte eine Welle der Sympathie - nicht für die Polizei in ihrer Gesamtheit oder die Einsatzleitung, aber für diejenigen, die ihre Haut zu Markte getragen haben. Die Bilder der völlig erschöpften Polizisten haben auch mich berührt. Aber die folgende Heroisierung der Polizisten durch manche Medien oder den Bürgermeister hat auch Nachteile. Denn Heldentum kann nicht kritisiert werden, was wiederum die Aufarbeitung des Ganzen erschwert.
SPIEGEL ONLINE: Hat die viel beschworene harte Linie der Hamburger Polizei die Ausschreitungen beim Gipfel letztlich befeuert?
Behr: Das muss jetzt analysiert werden. Die Frage ist: Wer macht das? Wenn so etwas unter dem Gesichtspunkt von Ursache und Wirkung aufgearbeitet würde und dabei zum Beispiel auch externe Gewaltforscher beteiligt wären, würde das sicher zu anderen Ergebnissen führen als bei der polizeiinternen Aufarbeitung. Ich vermute aber, die Polizei wird das Ganze wieder intern aufarbeiten. Am Ende wird man sich einig sein: "Wir haben fast alles richtiggemacht, mit dieser Militanz war einfach nicht zu rechnen. Die Verantwortung liegt bei den Chaoten."
SPIEGEL ONLINE: Sie klingen enttäuscht. Hängt diese Form der Aufarbeitung mit der Hamburger Linie zusammen?
Behr: Die sogenannte Hamburger Linie wurde über Jahre hinweg gepflegt und ist gegen Kritik fast immun. Auch unter dem Vorgänger von Einsatzleiter Hartmut Dudde gab es verwaltungsgerichtliche Verfahren, die aber nie dazu geführt haben, dass die Hamburger Polizei ihre relativ rigide Einsatzstrategie geändert hat.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern rigide?
Behr: Sie legt das Versammlungsrecht sehr eng aus. Das Aufziehen von Tüchern ist eine Straftat, und dann spricht Herr Dudde davon, dass er verpflichtet sei, Straftaten zu verfolgen und daher keine Vermummung dulden könne. Diese Philosophie lässt keinen Spielraum für andere Optionen, hat sich aber in Hamburg etabliert. Die Dimension des Gipfels hätte meiner Meinung nach auch andere Strategien ermöglicht.
SPIEGEL ONLINE: Fehlt bei der Polizei die Selbstkritik?
Behr: Sie wird jedenfalls nicht nach außen getragen. Es werden fast schon traditionell die sogenannten Chaoten kritisiert, und es wird die Belastung beklagt. Man sagt jetzt, alles werde aufgeklärt. Das gilt sicher für die juristischen und einsatztaktischen Aspekte. Aber ich vermute, es ist nicht viel Veränderung zu erwarten. Dafür haben die handelnden Personen zu viel Rückhalt in der Politik und auch innerhalb der Polizei.
Rafael Behr ist Professor für Polizeiwissenschaft mit den Schwerpunkten Kriminologie und Soziologie an der Akademie der Polizei Hamburg. Außerdem lehrt er am Institut für kriminologische Sozialforschung der Universität Hamburg und der Universität Bochum. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit der Organisationskultur der Polizei, von 1975 bis 1990 arbeitete er selbst als Polizist.