NSU Deckung für Verfassungsschützer geht über Merkels Aufklärungsversprechen an die Opfer
Fehlende Akten, lügende Beamte, vertuschte Verbindungen – Petra Pau, Obfrau der Linken im NSU-Untersuchungsausschuss, wirft dem Verfassungsschutz Blockade vor. Sie fordert einen neuen Untersuchungsausschuss – der sich mit dem Zusammenwirken von Geheimdiensten und Neonazis befasst.
der Freitag: Frau Pau, weit mehr als 40 verdeckte Ermittler waren seit Ende der 1990er Jahre rund um das NSU-Trio postiert. Dennoch behauptet der Verfassungsschutz, vor dessen Selbstenttarnung nie etwas vom NSU gehört zu haben Glauben Sie das dem Verfassungsschutz?
Petra Pau: Wir haben große Zweifel an dieser Darstellung. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und sein Präsident haben immer behauptet, das Amt hätte keinen V-Mann direkt am NSU gehabt. Der Untersuchungsausschuss hat nun aber in den Fällen der V-Leute „Primus“, „Tarif“ und auch „Corelli“ das Gegenteil nachgewiesen. Alle Fraktionen im Ausschuss halten die Zeugenaussagen für glaubwürdig, wonach Uwe Mundlos in der Baufirma von „Primus“ in Zwickau gearbeitet hat und dass auch Zschäpe Kontakt zu diesem V-Mann hatte. „Primus“ war der Deckname für einen bundesweit aktiven, in Zwickau lebenden Neonazi, der von 1992 bis 2002 für das BfV arbeitete.
Also haben Verfassungsschützer vor Untersuchungsausschüssen, Ermittlern und dem Gericht in München gelogen?
Ja, manche haben offensiv gelogen. So wie Lothar Lingen, der langjährige Referatsleiter im BfV. Er war hauptverantwortlich für die Vernichtung wichtiger Akten von mehr als einem halben Dutzend V-Leuten kurz nach der Selbstenttarnung des NSU. Sein Motiv bestand – anders als er es im Ausschuss darstellte – ganz klar darin, die Öffentlichkeit und die Strafverfolgungsbehörden über das Ausmaß des V-Leute-Systems im Thüringer NSU-Netzwerk zu täuschen und Beweismittel dafür zu vernichten.
Gegen einen anderen Verfassungsschützer haben die hessischen Linken jetzt Strafanzeige erstattet, weil er auch gelogen haben soll.
Ja. Andreas Temme hatte sich zum Tatzeitpunkt des NSU-Mordes an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel in dessen Internetcafé aufgehalten. Temme hatte gegenüber dem ersten Bundestagsuntersuchungsausschuss behauptet, er sei als hessischer Verfassungsschutzbeamter dienstlich nie mit der Mordserie befasst gewesen. Unsere Fraktionskollegen aus Hessen haben in ihrem Ausschuss nun ein Dokument gefunden, das diese Aussage widerlegt. Danach hatten Temme und einige seiner Kasseler Kollegen den Auftrag erhalten, ihre V-Leute zur Mordserie zu befragen. Temme hat diese Anweisung sogar abgezeichnet.
Wenn bislang kein V-Mann-Bericht mit einem Hinweis auf die Morde des NSU-Trios aufgetaucht ist, könnte das heißen, dass die Szene tatsächlich dichtgehalten hat?
Die Loyalität der allermeisten V-Leute gegenüber ihren rechten „Kameraden“ war zumeist tatsächlich größer als die gegenüber ihren Verbindungsführern vom Geheimdienst. Das haben wir an mehreren Beispielen sehen können. Es ist also überhaupt nicht auszuschließen, dass ein Teil der neonazistischen V-Personen ihr Wissen nicht oder nur in unschädlicher Form gegenüber Behördenvertretern preisgaben. Es gab aber auch zwei Wellen von Aktenvernichtungen in den Geheimdiensten – vor und nach der Selbstenttarnung des NSU. Es ist also durchaus möglich, dass entsprechende Meldungen durch den Schredder gingen.
Das heißt, der Verfassungsschutz hat Informationen über den NSU klammheimlich getilgt, als die Ermittlungen im November 2011 einsetzten?
Dass wir das nicht ausschließen können, gehört zu den beunruhigenden Befunden des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses. Ein Beispiel: Das BfV hat stets behauptet, in der Behörde habe es vor November 2011 nie Hinweise auf die Existenz eines NSU gegeben. Dabei beschaffte einer ihrer wichtigsten und effizientesten V-Leute, Thomas R. alias „Corelli“, bereits 2002 und 2005 Hinweise auf die Existenz eines „Nationalsozialistischen Untergrunds/NSU“. Einmal taucht der Begriff in einem Neonaziheft auf, dann – 2005 – auf einer CD mit Bildmaterial. Beides übergab „Corelli“ damals seinen Auftraggebern. Beides hielt das BfV vor Öffentlichkeit und Ermittlern zurück. Erst als das Antifa-Archiv apabiz auf das Nazi-Heft und das BKA auf die CD stießen, musste das Bundesamt die „Corelli“-Lieferungen zugeben. Akten und Vermerke dazu existieren im Amt aber angeblich nicht.
Wie gehen Sie mit einer solchen Situation um – dass der Verfassungsschutz quasi blockiert?
Auch aktuell behindert der Verfassungsschutz noch Ermittlungen. Die Linke fordert für daher für die nächste Legislaturperiode die Einsetzung eines weiteren Untersuchungsausschusses.
Was soll das Thema sein?
Die Dienste selbst. Wir wissen noch zu wenig über die Rolle der Geheimdienste im NSU-Komplex. Da sehen wir immer noch lediglich die Spitze des Eisbergs. Dazu kommen Fälle von schwerstem Rechtsterrorismus in den 1980er Jahren. Bis heute hält das BfV Strafverfolgungsbehörden wie Parlamenten wichtige Informationen vor.
Im Vergleich zum ersten Ausschuss vor drei Jahren – wie war diesmal die Unterstützung des Verfassungsschutzes für Ihre Aufklärungsarbeit?
Wir waren mit einer Aufklärungsblockade der Geheimdienste konfrontiert, die noch weitreichender war als vor drei Jahren. Das BfV hat gezielt wichtige Informationen über seine Zugänge zu den Unterstützer-Strukturen des NSU zurückgehalten und damit unsere Arbeit erheblich behindert. Wir haben zum Beispiel Akten über weitere V-Personen des BfV in Dortmund, Zwickau und Chemnitz vom Amt erst gar nicht bekommen. Das betraf etwa Stephan L., den langjährigen Divisionsleiter des Blood&Honour-Netzwerkes in Deutschland und mutmaßlichen V-Mann „Nias“ des BfV. L. kannte relevante Unterstützer des NSU-Trios. Oder Roland S., V-Mann des LfV Baden-Württemberg. S. war ein alter Bekannter von Uwe Mundlos aus den 1990er Jahren und führender Hammerskin-Aktivist. Viele V-Mann-Führer haben sich zudem als wenig aussagefreudig erwiesen.
Warum hat Ihr Ausschuss nicht Druck auf den Dienst ausgeübt?
Beim ersten Untersuchungsausschuss gab es viel Aufmerksamkeit der Medien und ein großes öffentliches Interesse an der Aufklärung. Beim zweiten mussten wir feststellen, dass es in der Öffentlichkeit schon ein gewisses Ohnmachtsgefühl gibt, nach dem Motto: „Wir wissen, dass die Geheimdienste vertuschen und verschweigen, aber wir können nichts dagegen tun.“ Ohne öffentlichen Druck ist parlamentarische Aufklärung eben nur halb so wirksam.
Haben Sie den Eindruck, dass der Dienst von der Regierung gebremst wurde? Oder hat der Dienst von sich aus das Aufklärungsversprechen der Kanzlerin unterlaufen?
Die Hauptverantwortung hierfür tragen Bundesinnenminister Thomas de Maizière als Vorgesetzter des Verfassungsschutzes und BfV-Präsident Hans-Georg Maaßen. Beiden ist der Schutz der Geheimdienste wichtiger als das Versprechen bedingungsloser Aufklärung, das Bundeskanzlerin Angela Merkel im Februar 2012 beim Staatsakt für die Opfer des NSU abgegeben hatte.
Trotz aller Behinderungen haben die Untersuchungen des Ausschusses auch die Tätigkeit einer Reihe von V-Leuten ans Licht gebracht, die an einflussreichen und maßgeblichen Positionen im bundesweiten rechtsextremen Netzwerk eingesetzt waren.
Das stimmt. Das BfV hat mit V-Leuten wie Thomas R. alias „Corelli“, Mirko H. alias „Strontium“, Ralf M. alias „Primus“, Michael S. alias „Tarif“ systematisch sehr junge, vorbestrafte, ökonomisch von den Zahlungen des BfV abhängige Führungsaktivisten in militanten Neonazinetzwerken wie B&H, Combat 18 und Hammerskins als V-Personen verpflichtet. Als bezahlte und de facto Vollzeitaktivisten, die sich auf das Prinzip „Quellenschutz vor Strafverfolgung“ ihrer Auftraggeber verlassen konnten, bauten sie mit Publikationen und Internetauftritten ihren Einfluss, ihre Position und ihre Reichweite innerhalb der Szene aus. An ihnen orientierten sich andere militante Neonazis. Damit war der Dienst hautnah an der Szene und über den Auf- und Ausbau militanter und terroristischer Neonazistrukturen stets auf dem Laufenden.
Aber hat der Verfassungsschutz damit nicht Beihilfe zum Entstehen einer extrem gewaltbereiten und terroristischen Naziszene in Deutschland geleistet?
Ich bin davon überzeugt, dass die Geheimdienste durch das V-Leute-System entscheidend zum Aufbau eben jener Neonazistrukturen beitrugen, die den NSU und andere neonazistische Terror-Zellen unterstützten. Diese extrem rechten Erlebniswelten und neonazistischen Strukturen bestehen bis heute.