Wie die Polizei mit fragwürdigen Meldungen das Bild der G20-Demos manipulierte

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Erstveröffentlicht: 
14.07.2017

Molotowcocktails und zweifelhafte Zahlen: Nicht alles, was Beamte twitterten, hat wohl gestimmt.

 

Der Gipfel ist vorbei, der Stress aber noch lange nicht. Noch immer schlagen sich die deutschen Politiker auf allen Kanälen gegenseitig die Köpfe darüber ein, was in Hamburg eigentlich passiert ist, wer Schuld daran hat und was jetzt geschehen muss. Mit am heißesten diskutiert wird dabei die alte Schulhof-Frage: Wer hat eigentlich angefangen – Autonome oder Polizei?

 

Obwohl die Frage ziemlich einfach ist, sind sich nicht alle über die Antwort einig. Wer nicht selbst dabei war, kann sich Videos anschauen oder Presseberichte darüber lesen. Das Problem dabei ist: Oft stützen sich die Berichte auf die Darstellungen der Polizei. Und in Hamburg hat sich wiederholt gezeigt, dass die nicht immer ganz so nüchtern und objektiv ist, wie sie es eigentlich sein sollte. 

 

Welcome to Hell


Ein wichtiges Beispiel sind die Ereignisse rund um die "Welcome to Hell"-Demo, die am Donnerstagabend vor dem Gipfel innerhalb kürzester Zeit zu einer massiven Straßenschlacht zwischen Demonstranten des autonomen Spektrums und Polizisten ausartete. Denn was dort tatsächlich passierte, ist immer noch heftig umstritten. Fest steht, dass die Demo noch nicht mal losgelaufen war, als die Polizei die Teilnehmer aufforderte, die Vermummung abzulegen. Einige der Demonstranten folgten der Aufforderung, andere aber nicht. Der Twitter-Account der Polizei meldete daraufhin, in dem Aufzug seien "ca. 1000 vermummte Personen" – und schob gleich noch hinterher, die Demo sei deshalb kein "friedlicher Protest".

 

Die Vermummung nahm die Polizei dann zum Anlass, die eng eingepferchte Demonstration massiv anzugreifen, angeblich mit dem Ziel, den Schwarzen Block vom Rest der Teilnehmer zu trennen. Wer das Video gesehen hat, kann sich nur wundern, dass es dadurch nicht zu einer Massenpanik mit mehreren Toten kam.

 

Die ungewöhnliche Brutalität, mit der die Beamten die fast 12.000 Teilnehmer große Demonstration auseinandertrieb und damit das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit all dieser Menschen unterdrückte, begründete die Polizei unter anderem damit, die Teilnehmer hätten Beamte mit "Latten und Flaschen angegriffen".

 

Wenn man sich die Tweets der Polizei zu dem Ereignis durchliest, ergibt sich also ein ziemlich klares Bild: Noch vor Beginn der Demo hat sich eine kleine Armee ("ca. 1.000") von gewaltbereiten Menschen vermummt und dann die Polizei angegriffen. Was danach kam, war demnach also eine angemessene Reaktion.

 

Der Haken: Anwesende Journalisten beschreiben die Situation anders. Der NDR-Reporter Björn Staschen zum Beispiel widerspricht der Behauptung von 1.000 Vermummten, er habe "deutlich weniger" gesehen. Viele Beobachter sind sich außerdem einig, dass von den Demonstranten vor der Eskalation durch die Polizei so gut wie keine Gewalt ausging:

 

"Mehrere NDR-Reporter vor Ort berichten übereinstimmend, dass von den Demonstranten zunächst keine Gewalt ausgegangen sei … Dann gab es offenbar einen einzelnen Flaschenwurf eines anscheinend angetrunkenen Mannes, den Demonstrationsteilnehmer selbst von der Menge isolierten. Offenbar gab es auch im "Schwarzen Block" Ansagen, keine Gegenstände auf die Polizei zu werfen und eine Eskalation zu vermeiden. Die von der Polizei geforderte Trennung der Demonstranten vom "Schwarzen Block" gestaltete sich schwierig. Die Demonstranten fühlten sich faktisch von mehreren Seiten eingekesselt."

 

Offensichtlich haben Augenzeugen die Situation völlig anders wahrgenommen, als die Polizei sie auf Twitter dargestellt hat. Trotzdem haben einige Medien, die selbst nicht vor Ort waren (nicht zuletzt die Tagesschau), die Narrative der Polizei ungeprüft übernommen.

 

"Das ist ein großes Problem, denn die Polizei ist in solchen Konfliktsituationen nicht neutral", sagt Peter Ullrich zu VICE. Der Soziologe beschäftigt sich an der TU Berlin schon seit einer Weile systematisch mit den Strategien der Polizei in den sozialen Medien. "Sie tut aber so und versucht, die Deutungshoheit zu gewinnen." Das habe man in Hamburg sehr gut beobachten können. "Soziale Medien sind für die Polizei zu einem sehr wichtigen Einsatzmittel geworden, um sich zu legitimieren und ihre Entscheidungen als plausibel darzustellen. Das verschafft ihr einen strategischen Vorteil."

 

Allerdings geht die Polizei dabei oft weit über ihren gesetzlichen Auftrag hinaus, findet der Soziologe – vor allem, wenn sie das Demonstrationsgeschehen bewertet. "Wenn die Polizei eine brennende Barrikade postet, dann prägt das sofort das gesamte Bild der Demonstration, auch wenn das vielleicht nichts über das Gesamtgeschehen sagt", so Ullrich. "Deswegen ist es auch hochproblematisch, weil das eigentlich der Polizei nicht zusteht. Sie hat für Sicherheit zu sorgen und das Demonstrationsrecht durchzusetzen, aber sie hat eigentlich nicht Stimmung zu machen." Dass die Ordnungshüter sich mit ihren Werturteilen in die "implizite Rolle eines inhaltlichen Schiedsrichters begeben", bereite auch Verfassungsrechtlern zunehmend Kopfschmerzen. 

 

Hat irgendwer meinen Molotow gesehen?


Die Ausschreitungen am Donnerstag waren nur der Auftakt zu einem der größten Krawall-Wochenenden, die Deutschland seit Langem erlebt hat. Drei Tage lang krachte es an allen Ecken in Hamburg – und das Social-Media-Team der Polizei twitterte fleißig, was in der Zentrale gemeldet wurde. Angriffe auf die Kollegen spielen dabei natürlich eine wichtige Rolle: Einsatz von Laserpointern und Leuchtraketen gegen Hubschrauber, Beschuss mit Stahlkugeln aus Präzisionszwillen. Sogar ein Angriff auf den Polizei-Pressesprecher war dabei.

 

Das alles aber übertraf eine Meldung der Polizei, in der es kurz nach 13 Uhr hieß, dass "Kollegen mit Molotow-Cocktails beworfen" würden.

 

Anders als in Frankreich oder Griechenland gehören Molotow-Cocktails in Deutschland absolut nicht zum normalen Demo-Repertoire – auch nicht bei der Sorte gewaltbereiter Autonomer, die man am Wochenende in Hamburg in Aktion sehen konnte. Die Nachricht, dass in Hamburg welche fliegen, bedeutete eine absolute Eskalation: Das ist kein ziviler Ungehorsam mehr und auch keine Sachbeschädigung, das ist bewaffneter Kampf gegen die Polizei mit allen Mitteln.

 

Die Presse reagierte sofort: Kurz darauf fanden sich die Molotows in zahlreichen Überschriften und Zusammenfassungen über die G20-Proteste wieder, sie prägen das Bild der Proteste bis heute maßgeblich. Und für die Polizeiführung war das ein Argument, um schwer bewaffnete Spezialkräfte mitten in einem Wohnviertel einzusetzen. Auf Twitter schrieben die User, man solle doch gleich die Bundeswehr einsetzen, um den "Kriegszustand" zu beenden.

 

Nur: Es gibt Zweifel, ob es die Molotow-Cocktails je gegeben hat. Sogar das Video, das die Polizei als untrüglichen Beweis präsentiert hatte, zeigt nach Meinung von Experten nur einen Böller. Für die Molotows, die so maßgeblich das Bild der Ausschreitungen in den Medien (und vielleicht auch den Köpfen der Politiker, die später von "Bürgerkrieg" redeten) geprägt haben, gibt es keinen Beleg. Der Soziologe Ullrich sagt: "Es gibt einen Kampf um die Bilder zwischen Protestierenden und der Polizei. Und bei dem Versuch, die eigene Seite zu unterstützen, ist die Genauigkeit nicht immer das oberste Prinzip. Wie weit das in den Bereich der alternativen Fakten gehen kann, hat man ja jetzt auch in Hamburg gemerkt." 

 

Wem glauben?


Manche werfen der Polizei deshalb aktive Manipulation vor: "Die Polizei arbeitet mit Fake News", hat zum Beispiel Gabriele Heinecke vom anwaltlichen Notdienst auf einer Pressekonferenz am Tag nach der "Welcome-to-Hell"-Demo gesagt. "Ein Staat darf nicht mit Lügen arbeiten!"

 

So weit muss man nicht gehen. Das Twitter-Team der Polizei hat über das Wochenende Hunderte Tweets abgesetzt, die allermeisten davon faktisch korrekt. Und allem Anschein nach haben die Beamten die Geschichte vom Molotow-Cocktail selbst geglaubt – immerhin wurden die Beamten während der Proteste mit allen möglichen Sachen beworfen. In manchen Fällen sind die Beamten sogar aktiv und konsequent gegen Fake News vorgegangen, zum Beispiel, als das Gerücht die Runde machte, ein Beamter hätte sein Augenlicht verloren, nachdem ein Demonstrant ihn mit einer Fackel angegriffen hatte.

 

Trotzdem stellt sich die Frage, wie Beamte die Informationen prüfen, bevor sie diese in die Welt hinaustwittern. Die Hamburger Polizei hat auf eine entsprechende Anfrage von VICE bisher nicht reagiert.

 

Wer als objektive Quelle gilt, hat die Pflicht, besonders genau hinzuschauen. In Berlin gab es kürzlich einen ähnlichen Fall: Bei der Räumung des linken Szeneladens "Friedel54" verbreitete die Behörde auf Twitter, der Türknauf des Ladens sei unter Starkstrom gesetzt worden. Als später herauskam, dass das gar nicht stimmte, war die Nachricht von der linken Todesfalle längst durch alle Medien gegangen.

 

Peter Ullrich ist deshalb der Meinung, dass die polizeiliche Nutzung der sozialen Medien strenger geregelt werden müsse. "Es sollte ganz klar eine Beschränkung geben: Die Polizei darf die sozialen Medien nur für sachliche Aufklärung nutzen." Denn wenn eine Institution sich als neutral darstellt, dabei gleichzeitig aber immer wieder Werturteile à la "Sieht so friedlicher Protest aus?" fällt, haben wir ein Problem, das in letzter Konsequenz die Demonstrationsfreiheit beeinträchtigen könnte. "In der Zukunft könnte es immer häufiger zu Schnellschüssen kommen, die unkalkulierbare Folgen haben, weil sie in soziales Geschehen eingreifen", glaubt Ullrich. "Deshalb sollte die Polizei da an die kurze Leine genommen werden."

 

Journalisten und große Teile der Öffentlichkeit vertrauen der Polizei. Doch wenn sie sich weiterhin Falschmeldungen oder parteiische Einschätzungen erlaubt, könnte sie dieses Vertrauen bald verlieren.