Leipzig. Einer hat an den Zaun der Stadthäuser gekrakelt: „Spieser Raus aus unserem Kiez“. Doch was heißt das schon? Die Streetballanlage am Connewitzer Kreuz in Leipzig, im August 2014 nach langwierigen Klageverfahren als Ersatz für einen ehemaligen Bolzplatz eröffnet, ist gar als Antifa-Areal gekennzeichnet. „No Cops, No Nazis“ steht dort. Zu stören scheint das nur wenige. Viele Häuser in der Bornaischen Straße oder der Wolfgang-Heinze-Straße sind mit Graffiti beschmiert. Auch die Kita in der Biedermannstraße, der ein exzellenter Ruf vorauseilt, ist äußerlich verunstaltet. Das Leben in diesem Leipziger Stadtviertel ist bunt, schrill, urban.
Die meisten leben gern in einem Stadtteil, in dem der Punker beim Bäcker mit der Oma plaudert. Jenes Foto, in einem Bildband erschienen, hat sich vielen als Sinnbild eingebrannt. Jugendliche, die an einem der Supermärkte um einen Euro betteln, nerven zwar oft. Gehören aber ebenso zum Bild wie die Döner-Läden, der Vietnamese, die urigen Kneipen, die Boutique „Adele“, das Soziokulturelle Zentrum Werk 2, das studentische Flair an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK), das Altenpflegeheim Angelikastift, der Stadtgarten des Ökolöwen, der Spielplatz und die Schulen. Bei „Frau Krause“, einer Kneipe in der Simildenstraße, wurden schon zu DDR-Zeiten Stars wie Herman von Veen gesichtet. Die Kirchgemeinden richten jährlich das Stadtteilfest in der Selneckerstraße aus.
Das UT Connewitz, einst eine heruntergewirtschaftete Filmbühne, wurde von Bürgern des Stadtteils in einem Kraftakt wachgeküsst und wird nun als Kulturbühne betrieben. Die meisten eint die Gewissheit: Connewitz, als linksalternativer Stadtteil verschrien, ist viel besser als sein Ruf. Die Stigmatisierung stört viele Menschen, die sich in ihrem Viertel mit einer gut funktionierenden Infrastruktur sowie dem Auwald vor der Haustür wohlfühlen. Connewitz ist ein Stadtteil wie viele andere in Leipzig. Mit den gleichen sozialen Nöten, mit den gleichen Freuden.
Doch wie ist der Ruf als alternative Hochburg eigentlich entstanden? Am Ende der DDR waren in Leipzig viele Häuser völlig verfallen. Gerade in Connewitz standen viele Gebäude leer, waren teilweise unbewohnbar. Bereits Mitte der 1980er-Jahre startete eine sogenannte komplexe Rekonstruktion. Was übersetzt hieß: Große Teile der Altbauten um die Biedermannstraße herum sollten abgerissen und durch Plattenbauten ersetzt werden.
Mit der Friedlichen Revolution endete das Vorhaben, die Leipziger Volksbaukonferenz vom Januar 1990 setzte einen Abrissstopp durch. Doch überall war Wohnraum knapp. Jugendliche versuchten, der Enge zu entfliehen. Künstler, Hippies, Punks, Gruftis – ein Sammelsurium vieler Lebensideale siedelte sich 1989/90 rund um die Stockartstraße an, die damals noch Stöckartstraße hieß. Marode Häuser wurden besetzt, ein Verein Connewitzer Alternative gründete sich, wollte das Viertel vor dem weiteren Abriss bewahren. Später wurden Genossenschaften gegründet, Erbbaupachtverträge unterschrieben.
Das Motiv der Hausbesetzer war nicht vordergründig politisch, viele wollten einfach für sich Freiräume erobern und billig wohnen. Andere hatten durchaus einen linken Anspruch, wollten sich vor allem gegen die stärker werdenden Nazi-Cliquen wehren. Ende 1989 seien die „immer aggressiver und offener“ aufgetreten, wie es in einer Chronik des nun unter Druck geratenen, als Autonomenzentrum apostrophierten Jugendclubs Conne Island heißt. Als Reaktion auf die Präsenz der Rechtsextremen starteten linksorientierte Jugendliche „antifaschistische und antirassistische Aktionen“. Als 1992 in Rostock-Lichtenhagen und Mölln Asylbewerberheime brannten, gab es auch in Leipzig handfeste Konfrontationen zwischen demonstrierenden Neonazis und der linken Szene. Endgültig zur Hochburg der Antifa dürfte Connewitz sich von 1998 an entwickelt haben.
Der Hamburger Neonazi Christian Worch begann zu jener Zeit, immer wieder Demos in Leipzig anzumelden, die viele Rechtsextreme anzogen. 2007 gab Worch auf – Connewitz aber blieb ein Zentrum der linksalternativen Szene. Immer wieder sorgten aber auch Chaoten für negative Schlagzeilen. Erinnert sei nur an die keineswegs harmlosen, weil mit Steinen präparierten Wurfgeschosse bei „Schneeballschlachten“ und die jährlichen Silvesterkrawalle. In den vergangenen Jahren blieb es zwar meist friedlich. Die Leipziger Verkehrsbetriebe lassen jedoch in der Nacht zu Neujahr am Connewitzer Kreuz ihre Straßenbahnen nicht mehr fahren. Aus reiner Vorsicht, damit sich ein möglicher Schaden in Grenzen hält. Die Polizeipräsenz rund ums Kreuz und in der Leipziger Südvorstadt ist an diesen Abenden immer groß.
Im Sommer 2013 war in der Wiedebachpassage, einem Durchgang mit kleinen Geschäften in Connewitz, ein Bürgeramt der Stadtverwaltung verwüstet worden. Polizei und Stadt Leipzig reagierten und richteten dort im Februar 2014 eine neue Wache ein. Die Situation eskalierte erneut. Vermummte attackierten mit Pflastersteinen, Feuerwerkskörpern und Farbbeuteln das Revier. Am 12. Dezember 2015 kam es zu Ausschreitungen in der Südvorstadt. Autonome attackierten Polizeibeamte massiv und richteten erheblichen Schaden an. Es brannten Barrikaden und Container, es flogen Steine in Schaufenster – selbst in die von Apotheken. Kurz vor Weihnachten 2015 veröffentlichten Linksextreme im Internet einen Aufruf zur Gewalt mit 50 konkret benannten Zielen in Leipzig – ein Novum. Viele vermuten die Drahtzieher in Connewitz. Bewiesen ist das nicht – manche glauben, dass der harte Kern der vermummten Angreifer, die in Windeseile auftauchen und wieder verschwinden, längst im Stadtteil Plagwitz oder anderswo angesiedelt ist.
Trauriger Höhepunkt der Gewalt war der 11. Januar 2016. Angreifer waren diesmal Neonazis und Hooligans. Sie schlugen etliche Kneipen und Geschäfte kurz und klein, während in Leipzigs Innenstadt am 1. Gründungstag der fremdenfeindlichen Legida-Bewegung eine Gegendemo von linker Szene und einem breiten Bürgerbündnis stattfand. Die Bilder der Verwüstung in der Wolfgang-Heinze-Straße erschreckten viele Leipziger, und eine Welle der Solidarität machte sich breit. Dafür bedankten sich Anwohner, Initiativen und Gewerbetreibende später mit einem Straßenfrühstück.
Diese Solidarität gehört auch zum Stadtteil; zu einem Viertel mit rund 18 700 Einwohnern, das sich in den zurückliegenden drei Jahrzehnten sehr gewandelt hat. Rund um die Biedermannstraße ist das erste Sanierungsgebiet Leipzigs längst vollendet. Jung und alt, Familien mit Kindern, Singles, Aussteiger und andere wohnen in meist sanierten Wohnungen, WG-Haushalten oder in Stadthäusern Tür an Tür. Menschen aus allen sozialen Schichten. In der Regel friedlich, umgeben von einer oft liebenswerten, manchmal nervigen Subkultur und oft beschmierten Wänden. Antifa hin, Autonome her – die Connewitzer eint ein gutes Lebensgefühl, das sie sich von den gewaltbereiten Chaoten nicht nehmen lassen wollen. Für Politiker wie Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU), die den Stadtteil aus der Ferne als „abgeschottet“ bezeichnen, haben sie nur ein müdes Lächeln übrig.