Als Linksradikaler und Verurteilter im Verfahren wegen Mitgliedschaft in der „militanten gruppe" (mg) scheinen mir „authentische Stellungnahmen" zum vor einigen Tagen über die Bühne gegangenen G20-Gipfel in Hamburg angezeigt. Die in vollem Gange befindliche Mythenbildung hinsichtlich linker Militanz und die Bagatellisierung der Gewaltausbrüche von Polizei, Bundespolizei & Co. bieten einen konkreten Anlass der kurzen Nachlese - auch für mich. Von Oliver Rast
Der total verengte Blick...
Die Auseinandersetzungen während des G20-Gipfels haben das Thema linker
klandestiner Militanz in eine breite Öffentlichkeit zurückgeholt. Das
überrascht nicht. Keine Gazette, kein Hörfunkprogramm, keine TV-Anstalt
und kein Online-Nachrichtenportal, die nicht über Blockadeversuche von
Verkehrsknotenpunkten, brennende Barrikaden von Protestierenden und dem
einen oder anderen Hagel von Pflastersteinen und Flaschen durch
Angehörige des imaginierten „Schwarzen Blocks“ berichtet hätten. Viele
Medienberichterstatter*innen und Politgrößen aus der ersten bis dritten
Reihe überbieten sich mit Forderungen nach Strafverschärfungen und neuen
Sanktionsmitteln gegen „Randalierer“ und „Plünderer“. Die wütende und
tobende Staatsgewalt mit ihrem hochgezüchteten Apparat gerät hierbei
völlig aus dem Blick – mit Kalkül.
Rollkommandos von Polizeieinheiten, die Protestcamps von
G20-Gegner*innen stürmten und dabei anwesende Menschen gezielt teils
schwer verletzten, Wasserwerfereinsätze von Bereitschafts- und
Bundespolizei gegen Demonstrant*innen, die ihre Friedfertigkeit durch in
die Luft gehobene Arme dokumentierten, massive Behinderungen gegenüber
Vertreter*innen von Presseorganen, die Polizeiübergriffe in Bild und Ton
festhalten wollten, und nicht zuletzt der durchmilitarisierte Auftritt
von Sondereinsatzkommandos wie dem deutschen SEK und der
österreichischen Eliteeinheit Cobra (!) gerieten in der bundesdeutschen
„Qualitätspresse“ in den Hintergrund. Das ist - gelinde gesagt -
unverständlich, denn hier ist der wirkliche Dammbruch zu verzeichnen,
hier ist der wirkliche Exzess auszumachen und hier wurden Grundrechte
offen außer Kraft gesetzt.
Alarmierend ist nicht ein „szenetypischer Krawall“, der zudem von
ortsansässigen Anhänger*innen des autonomen Spektrums kritisch gesehen
wird; nein, alarmierend sind die Grenzüberschreitungen von Angehörigen
des staatlichen Gewaltmonopols. Es bleibt zu hoffen, dass der anvisierte
parlamentarische Untersuchungsausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft
Aufschluss über das Ausmaß eklatanter Verstöße gegen
verfassungsrechtliche Essentials geben wird.
… schließt notwendige Relativierungen aus...
Es gleicht einer Desinformationskampagne, wenn interessierte
Interpret*innen der Hamburger Ereignisse davon schwadronieren, am
vergangenen Wochenende eine „neue Qualität“ linksradikaler Gewalt
beobachtet zu haben. Nicht nur das; es werden Bürgerkriegsszenarien
heraufbeschworen und das Signalwort vom „auferstandenen linken
Terrorismus“ macht die Runde. Belege? Fehlanzeige!
Vergleiche können helfen, die Geschehnisse während des G20-Gipfels
einzuordnen – und zu relativieren. Die massenmilitanten Aktionen, d.h.
das Errichten von zum Teil brennenden Straßenbarrikaden, der Einsatz von
Wurfgeschossen wie Steinen und Flaschen und der vereinzelte Beschuss
von Einsatzkräften mit Katapulten stellt, und jetzt rede ich als
langjähriger Aktivist der radikalen Linken, mitnichten eine „neue
Qualität“ in der Konfrontation mit Bereitschafts- und Bundespolizei oder
SEK-Einheiten dar.
Viele „militante Festspiele“ rund um „Revolutionäre 1.
Mai-Demonstrationen“ seit Ende der 1980er Jahre in Berlin oder auch
Hamburg wurden seitens der Demonstrierenden heftiger und ausdauernder
geführt als das, was am letzten Wochenende in Hamburg passierte. Erste
Relativierung.
Die militanten Aktionen im Vorfeld des G20-Gipfels in Hamburg, d.h. zum
Beispiel Brandanschläge und andere Sabotageaktionen, waren im Kontrast
zu den klandestin-militanten Aktivitäten in den Monaten vor dem
G8-Gipfel 2007 im mecklenburgischen Heiligendamm aufgrund der
Zielauswahl mitunter unpräzise und inhaltlich schlecht vermittelt. Ein
Potpourri von „Smash G20“-Aktionen ohne klare politische Bestimmung.
Zweite Relativierung.
Und im Gegensatz zur Mobilisierung von vor zehn Jahren existieren
derzeit keine militanten Kerne, die kontinuierlich praktisch auftreten
und über eine Militanz-Debatte ein Netzwerk klandestiner Strukturen
schaffen, die über ein „Interventionsniveau“ verfügen, das über das
Legen von Brandsätzen hinausginge. Dritte Relativierung.
… und übersieht die Schwäche der militanten Linken.
Allen Unkenrufe zum Trotz ist der klandestin-militante Flügel der
radikalen Linken in der Bundesrepublik in den letzten Jahren nicht
stärker, sondern an entscheidenden Punkten schwächer geworden.
Inhaltlich, praktisch und organisatorisch. Alles andere sind
Behauptungen und Fehlauslegungen.
Mehr noch: Es hat nach dem Ende der Roten Armee Fraktion (RAF) 1998 nur
auf einer Seite eine exorbitante Auf- und Hochrüstung gegeben: der
staatliche Fahndungs- und Verfolgungsapparat verfügt über unendlich mehr
Kapazitäten und Ressourcen als die radikale Linke. Diese Diskrepanz
wird auch in Zukunft noch größer werden, was Ermittler*innen aus den
Landeskriminalämtern und dem Bundeskriminalamt beruhigen mag.
An einer Warnung komme ich nicht umhin: eine Phalanx von publizistischen
Trittbrettfahrer sitzt bereits in den Startlöchern, um „Expertenwissen“
zu Herkunft, Hintergründen und Entwicklungen linker Militanz in den
kommenden Tagen und Wochen zu verbreiten. „Experten“, die ihren
Informationspool bestenfalls aus zweiter Hand ziehen, wenn sie aus
Veröffentlichungen klandestin-militanter Quellen zitieren. In der Regel
schöpfen diese profunden Kenner der Materie aus dritter und vierter
Hand, sie bereiten das textlich auf, was ihnen von den PR-Abteilungen
der Ermittlungsbehörden zugeschoben wurde. Mit Verlaub, der
Erkenntnisgewinn dürfte gering ausfallen...