Wie die neue "EU-Außengrenze" in Libyen verteidigt wird
Der Reporter Michael Obert war in der Nähe von Tripolis unterwegs mit hochbewaffneten, selbsternannten Milizen, die mit aufgerüsteten Küstenkontrollbooten tausende Flüchtlinge aus den Booten der Schlepper holen und zurück in libysche Lager zwingen. Im Auftrag der EU. Eine Million Flüchtlinge und Migranten afrikanischer Herkunft sitzen nach Schätzungen der Bundesregierung aktuell an der libyschen Mittelmeerküste fest. Hunderttausende von ihnen wollen in diesem Sommer auf Schlepperbooten nach Europa. Ihre Lage ist desaströs. KZ-ähnliche Verhältnisse herrschten in den Lagern, so ein deutscher Botschafter. Nachdem die internationale Gemeinschaft vor sechs Jahren Diktator Gaddafi weggebombt hat, gibt es eine international anerkannte Übergangsregierung in Tripolis, eine selbsternannte in Tobruk im Osten des Landes, konkurrierende Armeen und den Islamischen Staat, der mehrere Emirate ausgerufen hat.
"Libyen ist für mich die Hölle"
Michael Obert wurde nun Augenzeuge des Dilemmas, in dem die europäische Interessenspolitik steckt. Mit dem Schlauchboot über das Mittelmeer, Libyen – Italien, die Todespassage. Michael Obert war dort. Zwischen Milizen, Menschenhändlern und Flüchtlingen. Da wo Journalisten nicht damit rechnen können zu überleben. Was hat er gesehen?
"Libyen von hieraus betrachtet – von Berlin – ist die Hölle. Für mich ist das die Hölle", sagt der Journalist.
Er hat sich nach komplizierten Absprachen mit vielen Milizenführern in die Hafenstadt Zawiya durchgeschlagen – 50 Kilometer westlich von Tripolis, dem Sitz der libyschen Einheitsregierung, an der UN und EU festhalten, obwohl sie überhaupt keine Kontrolle über das Land hat. Ihre Küstenwache soll den Schleppern das Handwerk legen, das Milliarden-Geschäft mit den Flüchtlingen unterbinden. Aber die Küstenwache? Wer ist das überhaupt? "Dann stellte sich in Zawiya heraus, dass die Küstenwache dort von einem libyschen Warlord geführt wird", berichtet Obert.
"Schweres Maschinengewehr, Raketenwerfer"
Commander Al Bija. Er und seine Männer haben vor zwei Jahren mit Waffengewalt die Macht über den Hafen der Stadt übernommen und spielen jetzt Küstenwache. Zu ihnen geht Michael Obert an Bord. Ihre Mission: Schleuser aufspüren, notfalls töten. 37.000 Flüchtlinge, sagt er, habe er schon aus dem Mittelmeer geholt.
Nachts finden sie, was sie suchen. Der Krieg, der sich Rettung nennt, beginnt: "Auf dem Mittelmeer, schwerer Seegang, kamen sie auf uns zu gerast", erzählt Obert. "Schweres Maschinengewehr, Raketenwerfer. Commander Al Bija hat nochmal irgendwie einen Wortwechsel versucht und die haben sofort das Feuer auf uns eröffnet. Also: tatatatata. Ich bin dann runter. Ich habe gesehen, wie links und rechts Männer umgefallen sind. Getroffen. Es gab viele Tote. Moises Saman, der Fotograf, und unser libyscher Übersetzer und ich, wir haben überlebt. Ich habe mir bei dem Sturz eine ganze Reihe Rippen gebrochen. Ja, es ist gerade noch einmal gut gegangen.
Katastrophale Verhältnisse
Nicht für sie. Bis zu 2.500 Dollar haben sie für die Überfahrt bezahlt. Aber wer von der Küstenwache zurück an Land gebracht wird, kommt in die libyschen Flüchtlingslager: "Nie in meinem Leben habe ich so schlimme Verhältnisse gesehen und erlebt wie in diesen Lagern, so Obert. "Die werden zweimal am Tag rausgelassen. Da wird ein Stahltor geöffnet, das mit Vorhängeschlössern gesichert ist, und wenn das Tor aufgeht, dann schlägt einem so ein Gestank entgegen. Sie bekommen morgens zum Frühstück ein bisschen was zu essen und so eine kleine Plastikflasche Wasser. Wenn sie die leer getrunken haben, müssen sie diese Flasche wieder voll pinkeln. Es ist die einzige Möglichkeit auf Toilette zu gehen, und wenn sie Stuhlgang machen, müssen sie das in Plastik- oder Papiertüten machen, die sie mit dieser Flasche dazu kriegen. Und erst am Nachmittag oder am Abend haben sie die Möglichkeit diese Tüte wieder zu entsorgen."
"Sie vergewaltigen uns"
Sie alle waren ihrem Ziel so nah. Eine halbe Autostunde von Zawiya entfernt, hat Michael Obert auch ein von Milizen kontrolliertes Frauen-Camp besucht: "Und dann kamen wir in diese Halle... auch wieder eine Betonhalle und da saßen 200 Frauen", berichtet er. "Und erst als die Wächter dann mal kurz rausgegangen sind, hat dann eine junge Nigerianerin all ihren ganzen Mut zusammen genommen und kam dann zu mir und hat geflüstert: Helft uns, helft uns, helft uns! Sie hatte einen Trainingsanzug an und drüber so ein Tuch und dann hat sie das auf die Seite gemacht und ihr ganzer Unterleib, da war alles verblutet bis runter an die Knie und sie hat immer wieder gesagt: Sie vergewaltigen uns, sie vergewaltigen uns. Ich habe sie dann gefragt: Wer hat das getan? Und dann hat sie gesagt: Alle... nacheinander."
UN-Mitarbeiter im Frauenlager
In diesem Horrorland der Milizen und Schlepper will die EU "Grenzmanagement" betreiben. Wir treffen Martin Kobler – bis vor wenigen Tagen UN-Sondergesandter in Libyen. Er hörte von Michael Oberts Berichten und schickte UN-Mitarbeiter in das Frauenlager: "Am letzten Mittwoch sind wir mit dem Konvoi dahingefahren und haben diese Frauen auch gesehen, berichtet Kobler. Sind aber auf dem Rückweg in eine Kontrolle gekommen und es wurde mit Granatwerfern eines unserer Autos zerstört. Den Leuten ist Gott sei dank nichts passiert, aber wir sind unter Beschuss gekommen und unsere Leute waren da relativ viele bange Stunden dann in der Hand dieser Milizen."
Roter Teppich für Simar Gabriel und 46 Millionen Aufbauhilfe
Außenminister Gabriel war auch schon da. Ausgerechnet im dem Männerlager, in dem auch Michael Obert war. Für ihn wurde der rote Teppich ausgerollt und die Flüchtlinge hatten es an diesem Tag richtig gemütlich…
Die EU braucht den Anschein stabiler Verhältnisse, keinen zerfallenen Staat, kein menschenrechtliches Desaster – und zahlt Millionen. "Die Frage, die sich europäische Politik und die deutsche Politik stellen lassen muss, ist: Finanzieren wir libysche Milizen damit sie – koste es was es wolle und zum Preis von Menschenrechten und europäischen Grundwerten – damit sie Flüchtlinge zurückhalten?", so Obert.
Der Türsteher der EU heißt libysche Küstenwache – weitere 46 Millionen Aufbauhilfe wurden gerade beschlossen. Gezahlt wird an eine Regierung, die keine Kontrolle über das Land hat. "Wir versuchen tatkräftig daran mitzuarbeiten in diesem Prozess des 'Nation Building' das Land wieder zusammen zu bekommen", so Obert, "und staatliche Autorität ist die einzige Autorität, die Flüchtlinge geregelt behandeln können und die auch die Migrationsströme regeln können."
Um Libyen zu stabilisieren braucht es viel Zeit. Zeit, die die Menschen in den Lagern nicht haben. "Sie schlagen uns, sie behandeln uns wie Vieh. Hier gibt es keine Menschenrechte. Niemand sieht uns hier", ruft ein Mann im Flüchtlingslager.
Bericht: Sven Waskönig