Ein junger Mann kommt als Flüchtling aus dem Irak nach Sachsen. In einem Supermarkt gibt es Ärger, vier Männer fesseln ihn an einen Baum. Kurz bevor ihnen der Prozess gemacht werden soll, findet man den Flüchtling tot in einem Wald
Die Luft riecht nach Erde, als der Jäger von Dorfhain an diesem Ostermontag in den Wald geht. Ein kühler Tag: 8 Grad, wenig Sonne, immer wieder Regenschauer. Er läuft querfeldein, der feuchte Waldboden federt unter seinen Füßen. Es ist Frühjahr im Erzgebirge; die Zeit, in der Jäger das Wild zählen. Der Jäger läuft und schaut. Zwischen den Rotbuchen liegt etwas am Boden. Etwas –. Er tritt näher. Es ist ein Mann.
„In einem Waldstück bei Dorfhain hat am Montagabend ein Jagdpächter einen männlichen Leichnam gefunden“, meldet zwei Tage später die sächsische Polizei. „Der Tote trug eine Aufenthaltsgestattung bei sich, die auf einen 21-jährigen Iraker ausgestellt war. Die Dresdner Mordkommission hat die Ermittlungen übernommen.“
Der Mann, stellen die Polizisten fest, als sie seine Fingerabdrücke überprüfen, ist ihnen bekannt. Sie hatten bereits nach ihm gefahndet, weil er als Zeuge in einem Prozess aussagen sollte. Vor einem Jahr war er von vier Männern im sächsischen Arnsdorf verprügelt und anschließend an einen Baum gefesselt worden. Die Staatsanwaltschaft Görlitz hat Anklage gegen die Männer erhoben, wegen Freiheitsberaubung. In einer Woche sollte der Prozess beginnen.
Montag, 24. April 2017, der Prozess findet statt. Schon früh am Morgen haben sich rechte Demonstranten vor dem Amtsgericht Kamenz versammelt. AfD-Politiker sind gekommen, Pegida-Sprecher, NPD-Funktionäre und Aktivisten der rechten 1-Prozent-Initiative. Sie halten Schilder in die Kameras, auf denen steht: „Zivilcourage ist kein Verbrechen“. Rechte Rocker aus Arnsdorf blockieren den Eingang – ihr Chef ist einer der Angeklagten. Als er mit den drei anderen Angeklagten das Gerichtsgebäude betritt, darunter ist auch der CDU-Gemeinderat Detlef Oelsner, applaudieren die Menschen.
Der Staatsanwalt wird von zwei Männern begleitet, die kleine weiße Knöpfe in ihren Ohren tragen. Es sind Beamte des Landeskriminalamts. Nachdem die Leiche des Irakers gefunden wurde, bekam der Staatsanwalt eine Drohmail, dann einen Drohanruf. Wenn er zum Prozess erscheine, sagte eine männliche Stimme, werde er erschossen.
Eigentlich waren zehn Verhandlungstage angesetzt, aber Richter, Verteidiger und Staatsanwaltschaft einigen sich kurz nach der Eröffnung darauf, den Prozess einzustellen. Die Schuld sei gering, sagt Richter Laschewski. Und es bestehe kein öffentliches Interesse – an dieser Stelle hört man ein leises Schnauben von den vielen Journalisten im Saal. „Das Opfer hatte kein großartiges Interesse an der Sache“, präzisiert der Richter. „Und nun ist Herr Saleh leider verstorben, wir können ihn also nicht persönlich kennenlernen.“
Die Journalisten stehen danach noch lange in Grüppchen zusammen und tuscheln. Wie konnte es sein, dass der Staatsanwalt erst monatelang Zeugen einsammelte, sie auf zehn Verhandlungstage terminierte und dann zustimmte, das Verfahren einzustellen? Hatte er Angst bekommen, weil er bedroht wurde? Und was war mit dem Iraker passiert? Dem Hauptbelastungszeugen? Er wurde südlich von Freital gefunden, wo die Polizei vor einem Jahr eine rechte Terrororganisation hochgenommen hatte. Wollte jemand verhindern, dass er aussagt? Wurde er von Neonazis umgebracht?
***
Die Suche nach einer Antwort führt bis nach Sulaimaniyya, im kurdischen Teil des Irak. Dort kam das Opfer her.
Der junge Mann, den der Jäger tot aufgefunden hatte, hieß Schabas Saleh Al-Aziz und wurde 1995 in Sulaimaniyya geboren. Er hatte einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester, ging einige Jahre zur Schule, wurde dann Zimmermann. Sein Vater ist Taxifahrer, der Bruder betreibt einen Obststand. Ein bescheidenes Leben, aber ein gutes und vom Krieg weitestgehend verschont.
Als Schabas Al-Aziz fünfzehn Jahre alt ist, erwacht die Familie von einem Schrei. Schabas wird von Krämpfen geschüttelt, hat Schaum vor dem Mund. Dann wird er ohnmächtig. Als er wieder aufwacht, ist er schwach und verwirrt.
Seitdem hat er diese Krankheit: Epilepsie. Die Familie geht mit ihm zum Arzt. Der verordnet Schabas Tabletten: Lamictal 100 mg, Loxol 100 mg. Die Anfälle kommen trotzdem wieder, alle drei Monate ungefähr.
Die Familie fährt mit ihm in den Iran, lässt Schabas dort von Ärzten untersuchen. Es hilft nicht. Seine Freunde machen sich über ihn lustig. Schabas schämt sich.
Vier Jahre vergehen. Schließlich sagt Schabas Al-Aziz seinem Vater, dass er nach Deutschland fahren möchte. Er hofft, dass ihm die Ärzte dort helfen können. Im April 2015 bricht er auf. Er fährt nach Istanbul und zahlt 5.000 Dollar an Schlepper. Die bringen ihn nach Griechenland. Von dort aus nimmt er die Route über den Balkan. Unterwegs hat er immer wieder epileptische Anfälle. Er überlebt, weil sich die Schlepper und die Mitreisenden um ihn kümmern.
Im September 2015 erreicht er Deutschland. Schabas Al-Aziz wird nach Freital geschickt, in die Erstaufnahmeeinrichtung im ehemaligen Hotel Leonardo. In Freital sind die Kritiker der Flüchtlingspolitik besonders schrill und laut. Steffen Frost, Kreisrat und AfD-Bürgermeisterkandidat, ist einer von ihnen. Er fordert ein Ende der „fehlgeleiteten Asylpolitik“.
Gegen die
Unterkunft, in der Schabas Al-Aziz jetzt wohnt, protestieren wütende
Anwohner und Rechtsradikale seit Monaten. Das Haus wird mehrfach
angegriffen: mit Böllern, mit Steinen. Vor anderen Freitaler
Unterkünften explodieren im Herbst Sprengsätze.
In Freital nehmen Al-Aziz’ epileptische Anfälle zu. Er hat seine Medikamente aus dem Irak mit nach Deutschland gebracht, aber sie sind inzwischen aufgebraucht. Er wird jetzt alle drei Tage von Krämpfen geschüttelt.
Elfmal muss der Krankenwagen kommen, um ihn in die Notaufnahme zu bringen. Eine Ärztin, die ihn damals behandelte, erzählt, dass ihre Kollegen die Augen verdrehten, wenn sie sahen, dass es schon wieder Schabas Al-Aziz war. Die Ärzte sagten, er sei ein Trinker – deshalb habe er so viele Anfälle. Was nicht stimmte, sagt die Ärztin. In seinem Blut hat man nie Alkohol gefunden.
Es war sehr schwierig für Schabas Al-Aziz, an seine Medikamente zu kommen, sagt die Ärztin. Wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte er Tabletten für drei Tage. Sobald sie aufgebraucht waren, musste er beim Sozialamt Pirna die Kostenübernahme für weitere Medikamente beantragen. Der Antrag wurde oft nicht bewilligt. Schließlich erlitt Al-Aziz wieder einen Anfall, der Krankenwagen kam und holte ihn ab. Im Krankenhaus schickten sie ihn mit Tabletten für drei Tage nach Hause, danach kam der nächste Anfall. „Alle chronisch kranken Flüchtlinge haben dieses Problem“, sagt die Ärztin. „Ihre Versorgung funktioniert nur sehr eingeschränkt.“ Das behindert sie seit Jahren in ihrer Arbeit.
So geht das einige Monate. Manchmal überfällt Al-Aziz Panik, dann greift er andere Bewohner an. Einmal rennt er nackt durch seine Unterkunft. Schließlich kommt er in die Psychiatrie. Das Amtsgericht Kamenz stellt fest, dass er nicht in der Lage ist, für sich selbst zu entscheiden. Ein gerichtlicher Betreuer soll das für ihn tun. Verantwortlich für Al-Aziz ist ab sofort der AfD-Politiker und Berufsbetreuer Steffen Frost.
Es folgt eine unruhige Zeit. Während Schabas Al-Aziz in der Psychiatrie in Arnsdorf ist, wird die Unterkunft in Freital geschlossen, sein Wohnsitz wird nach Pirna verlegt. Die Ärztin, die ihn betreut hat, und seine Freunde in der Unterkunft verlieren den Kontakt zu ihm.
Am 21. Mai 2016 betritt Schabas Al-Aziz den Netto-Supermarkt in Arnsdorf und kauft sich eine Telefonkarte. Sie scheint nicht zu funktionieren, also geht er zurück und versucht, mit der Kassiererin zu sprechen. Er kann ein paar Wörter Deutsch, ein paar Wörter Englisch, dann probiert er es auf Sorani, seiner kurdischen Muttersprache. Es klappt nicht. Er wird später seiner Familie erzählen, dass die Kassiererin Belgisch gesprochen habe. Wahrscheinlich kam ihm der sächsische Akzent vor wie eine andere Sprache. Schabas Al-Aziz will nicht gehen, bis sein Problem gelöst ist. Die Marktleitung ruft die Polizei.
Die Frau des AfD-Politikers Arvid Samtleben beobachtet die Szene. In Arnsdorf gibt es schon länger Streit über eine geplante Flüchtlingsunterkunft, die SPD-Bürgermeisterin Angermann wird dafür immer wieder angegriffen. Eine halbe Stunde nach dem Vorfall im Supermarkt erscheint auf der rechten Facebookseite „Arnsdorf 01477 Bürgerforum – überparteilich“, die von Arvid Samtleben betrieben wird, ein Eintrag:
„Soeben, um 13.25 Uhr, rastete ein Asylbewerber beim Netto aus. Er wollte seine Handykarte geladen haben, was man ihm dort nicht bieten konnte. Liebe Frau Angermann, lieber Gemeinderat, Sie sollten für das Ende Ihrer Obdachlosenunterkunft für Asylbewerber kämpfen. Machen Sie das nicht. Sonst gründen wir eine Bürgerwehr und nehmen das Recht in die Hand, uns selber zu verteidigen!“
Schabas Al-Aziz geht etwas später noch mal in den Nettomarkt – wieder kommt die Polizei. Als er es am Abend ein drittes Mal versucht, wird er gefilmt. Ein paar Minuten lang sieht man, wie Al-Aziz mit der Kassiererin diskutiert und sich weigert, zwei Weinflaschen zurück ins Regal zu stellen, dann marschieren vier Männer in den Markt. Sie packen Al-Aziz. Als er sich wehrt, schlagen sie ihn zusammen und schleppen ihn nach draußen. Die Frau, die die Szene filmt, sagt: „Schon schade, dass man eine Bürgerwehr braucht.“ Dann bricht der Film ab.
Eine Frau, die im Video zu sehen ist, erzählt später, wie sie nach dem Bezahlen aus dem Supermarkt kommt und sieht, wie Schabas Al-Aziz auf dem Pflaster liegt. Einer kniet auf ihm. Die Männer fesseln ihn mit Kabelbindern an einen Baum. Sie will nur weg, sie setzt sich in ihr Auto und überlegt: Was mache ich jetzt? Als Frau?
Sie fährt los. Nach ein paar Metern hält sie wieder an. Erst als sie eine Polizeisirene hört, fährt sie weiter.
Einige Menschen aus Arnsdorf glauben, dass die Aktion von Mitgliedern der rechten Szene inszeniert war, um der Öffentlichkeit zu zeigen, wie man sich gegen aufmüpfige Flüchtlinge zur Wehr setzen will. Warum sonst hätte die Filmerin minutenlang das völlig uninteressante Gespräch zwischen Schabas Al-Aziz und der Kassiererin aufnehmen sollen? Und warum hatten die vier Männer zufällig Kabelbinder dabei? Wer hatte den Männern überhaupt Bescheid gesagt? Die Angestellten im Netto waren es nicht, die Marktleitung distanziert sich später von dem Übergriff.
Eine Woche nach dem Vorfall lädt „schwerdbleede78“ das Video bei YouTube hoch. Es wird vor allem auf rechten Seiten geteilt. Dann greifen auch die Massenmedien das Thema auf. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage. In rechten Kreisen werden 20.000 Euro gesammelt, von denen die vier Männer ihre Rechtsanwälte bezahlen können.
Schabas Al-Aziz bekommt von dem ganzen Rummel vermutlich nicht viel mit. Ein Mitarbeiter der Opferberatungsstelle RAA in Dresden versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Er möchte Al-Aziz die Unterstützung der Organisation anbieten und ihn darüber aufklären, welche Möglichkeiten er als Betroffener hat – er könnte zum Beispiel Nebenkläger werden, damit hätte er Zugang zur Akte. Der Mitarbeiter bittet den Betreuer Steffen Frost, eine entsprechende Nachricht weiterzuleiten. Der blockt die Anfrage ab. Sein Klient habe daran kein Interesse.
Anfang Juli 2016 klingelt in der ehemaligen Jugendherberge von Tharandt das Telefon. Albrecht Reichardt, Leiter der Flüchtlingsunterkunft, hebt ab. Das Sozialamt in Pirna ist dran. Sie hätten da einen Spezialfall. Ob sie den bei ihm unterbringen könnten? Albrecht Reichardt ist gerade einen anderen schwierigen Bewohner losgeworden. Er seufzt – und sagt ja.
Also zieht Schabas Al-Aziz nach Tharandt, in einen Nachbarort von Freital, der links und rechts von Waldhängen umschlossen ist.
Die Tharandter Herberge liegt außerhalb; an der Landstraße, die nach Klingenberg führt. Die Autos rasen schnell vorbei, hinter dem Haus verläuft die Bahnstrecke. Daneben fließt die Wilde Weißeritz. Hainbuchen rauschen im Wind.
Schabas Al-Aziz wohnt in einem Zimmer am Ende des Flurs. Aus seinen Fenstern blickt er direkt in den Wald. Er schläft im unteren Abteil eines Stockbetts, das obere bleibt leer. Niemand will sich mit ihm das Zimmer teilen.
Ein Pflegedienst wird eingestellt. Der soll Schabas Al-Aziz die Medikamente bringen, dreimal täglich. Aber als Al-Aziz nach einigen Wochen wieder in die Psychiatrie kommt, kündigt der Dienst. Es war wohl nicht so richtig lukrativ gewesen, vermutet der Heimleiter.
Der Betreuer Frost organisiert einen neuen Dienst. Der ist der Ansicht, dass Schabas Al-Aziz selbst für die Medikamente sorgen müsse. Aber woher sie kommen sollen, ist unklar.
Als Al-Aziz aus der Psychiatrie entlassen wird, bringt ihn der Krankenwagen zurück nach Tharandt. Der Sanitäter drückt dem Heimleiter eine große Plastiktüte voller Tabletten in die Hand. Der hat schon Feierabend und hängt sie an den Gartenzaun mit einem Schild für die Pfleger. Irgendjemand muss beides entfernt haben, denn die Medikamente kommen nie an. Wie sich die Pfleger beholfen haben, das weiß der Heimleiter nicht.
Danach bekommt Schabas Al-Aziz seine Medikamente nur noch unregelmäßig. Wer war schuld? Der Pflegedienst habe Schabas Al-Aziz oft nicht antreffen können, schreibt das Betreuungsgericht Dippoldiswalde. Der Pflegedienst hat es mit der Versorgung von Al-Aziz nicht so genau genommen, sagt der Heimleiter.
Schabas Al-Aziz wird unruhig. Einmal wirft er in der Nacht alle Blumenkübel um. Ist Hiwa Mustafa nicht da, der andere Kurde, kann sich Al-Aziz mit niemandem verständigen – denn er spricht kein Arabisch wie seine syrischen Mitbewohner. Nach ein paar Wochen zieht Hiwa Mustafa zu Freunden in Pirna. Schabas Al-Aziz bleibt allein zurück.
Einmal will er etwas und verfolgt die junge Frau, die im Heim ihren Bundesfreiwilligendienst macht. Sie will mit dem Auto wegfahren, er stellt sich davor. Versucht sie, rechts an ihm vorbeizukommen, geht er ein paar Schritte nach links. Versucht sie, links vorbeizufahren, geht er nach rechts. Eine halbe Stunde lang geht es so, dann gibt er auf.
Angst vor Wölfen
Nach diesem Vorfall versucht der Heimleiter, Al-Aziz verlegen zu lassen. Wie wäre es mit einer betreuten WG im Westen, in einem Multikulti-Umfeld?, schlägt er dem Sozialamt Pirna vor. Die finden die Idee gut, kümmern sich aber nicht weiter darum.
Al-Aziz lernt andere Kurden kennen. Er trifft sich mit ihnen – sie leben in einer alten Platte im Gewerbegebiet von Klingenberg. Der Ort liegt 14 Kilometer südwestlich von Tharandt, der Weg führt durch den Wald. Ist Schabas Al-Aziz bei ihnen, fühlt er sich nicht so allein. Aber der Pflegedienst erreicht ihn dort nicht. Und wenn er keine Medikamente bekommt, kehren die Anfälle zurück.
Es muss ihm in dieser Zeit sehr schlecht gegangen sein. Er ist einsam, und die Anfälle häufen sich, er erzählt es seinem Bruder per Videochat. Wilde Tiere gibt es hier, sagt Al-Aziz am Telefon, sogar Wölfe. Ab und zu telefoniert er auch mit einem Schwager der Familie in Nordrhein-Westfalen, der wie er als Flüchtling nach Deutschland kam. Der Schwager will ihn besuchen, er muss aber warten, bis seine Residenzpflicht aufgehoben wird.
Schabas Al-Aziz selbst hat nicht besonders viel Geld zum Reisen. Der Betreuer Frost, der sein Geld verwaltet, hält Al-Aziz sehr kurz, erzählt der Heimleiter. Angeblich, weil Al-Aziz das Geld immer verschenkt. Er bekommt von Frost nur ein kleines Taschengeld für Essen und Zigaretten.
Funktioniert die Internetverbindung nicht, ist Schabas Al-Aziz allein. Als das W-LAN mal wieder spinnt, geht Al-Aziz ins Büro des Heimleiters und beschwert sich. Die Antwort versteht er nicht. Al-Aziz greift nach dem Teppichmesser, das im Stiftehalter auf dem Schreibtisch steckt. Er hält es sich an die Kehle und schneidet sich die Haut dort auf.
Albrecht Reichardt kommt aus der Verwaltung, er ist kein Sozialpädagoge. In diesem Moment fühlt er sich überfordert. Er ruft die Polizei und einen Krankenwagen. Al-Aziz kommt wieder in die Psychiatrie, diesmal bringen sie ihn nach Dresden-Friedrichstadt. Es ist einige Wochen vor Weihnachten. Alle sind erleichtert.
Am 22. Dezember kommt Schabas Al-Aziz zurück. Er hat das Personal der Psychiatrie beschimpft, geschlagen und die Krankenschwestern belästigt. Die Ärzte wollen ihn wegen seiner Epilepsie in die Neurophysiologie verlegen, allerdings hat man dort keinen Platz für ihn. Also kommt er zurück in die Herberge am Tharandter Wald.
Der Heimleiter wusste davon nichts. Wütend ruft er den Betreuer an und erreicht mal wieder nur die Mailbox. Das mit der Unterbringung sei so weit in Ordnung, sagt der Betreuer, als er dem Heimleiter wiederum auf den Anrufbeantworter spricht. Die Ärzte hätten gesagt, es bestehe kein Bedarf, ihn weiter unterzubringen. Er sei vollkommen orientiert. Deshalb habe er, der Betreuer, die Aufhebung der Unterbringung beantragt.
Das Betreuungsgericht Dippoldiswalde hebt den Beschluss zur Unterbringung am 29. Dezember 2016 auf. Im Schreiben des Krankenhauses steht, dass der Patient weder akut eigen- noch fremdgefährdend ist und deshalb die Kriterien für eine geschlossene Unterbringung nicht mehr erfüllt seien.
Schabas Al-Aziz kommt, frisch aus der Psychiatrie, aber vollkommen orientiert, zurück in ein Heim, das über die Feiertage keine Aufsicht hat. Ab wann ihn der neue Pflegedienst mit Medikamenten versorgen wird und wie oft, ist unklar. Auch der Heimleiter ist nicht darüber informiert. Er ist auch deshalb so wütend, weil niemand weiß, wie es mit Schabas Al-Aziz weitergehen soll.
Al-Aziz sitzt über die Feiertage in seinem Zimmer, auf dem unteren Stockbett, er raucht Kette. Er wäre gern in der Psychiatrie geblieben – dort war er nicht so alleine.
Der Heimleiter hat Urlaub. An Silvester steigt er mit seiner Frau in ein Flugzeug nach Australien, sie wollen ihre Tochter besuchen. Ein Monat Auszeit. Um Mitternacht serviert die Crew Sekt.
Schabas Al-Aziz telefoniert an diesem Tag mit der Verlobten seines Bruders im Irak. Er sagt, er würde ihnen 1.500 Euro schicken für die Hochzeit. Woher Al-Aziz dieses Geld hat, ist unklar. Er ruft auch noch den Schwager in Nordrhein-Westfalen an. Sie planen ein Treffen. Der Schwager kennt Leute, die nach Sulaimaniyya reisen und das Geld mitnehmen können.
Es ist das Letzte, was die Familie von Schabas Al-Aziz hört. Am 2. Januar trifft ihn der Pflegedienst noch einmal an und bringt ihm seine Medikamente. Danach wird er nicht mehr gesehen.
Am 24. Januar 2017 schreibt der Betreuer Frost eine E-Mail an das Gericht Dippoldiswalde, dass Schabas Al-Aziz seit 14 Tagen nicht mehr in seinem Heim anzutreffen war. Am 30. Januar, als der Heimleiter gerade aus dem Urlaub zurückkehrt, meldet der Betreuer Al-Aziz bei der Polizei als vermisst.
Die Polizisten schreiben ihn zur Fahndung aus. Sie kontaktieren die umliegenden Krankenhäuser und das Landratsamt. Der Wald wird allerdings nicht abgesucht. Zum einen, weil Schabas Al-Aziz schon mehrere Wochen vermisst war, schreibt ein Sprecher der Polizei. Zum anderen, weil er in der Vergangenheit öfter das Heim mit unbekanntem Ziel verlassen hat.
Drei Monate liegt Schabas Al-Aziz tot im Wald. Erst im Schnee, dann auf dem weichen Waldboden. Er ist stark verwest, als der Förster ihn findet.
Ende April 2017 ruft ein Psychiater aus Dresden-Friedrichstadt den Vater im Irak an und sagt, dass Schabas Al-Aziz tot aufgefunden wurde. Das Geld und sein Handy sind verschwunden.
„Deutschland ist doch ein entwickeltes Land. Es herrschen Recht und Ordnung“, sagt der Bruder per Videochat, während er an seinem Obststand in Sulaimaniyya steht. Im Hintergrund glänzen die Wassermelonen in der Sonne. „Warum passiert so etwas bei euch? Ich will nach Deutschland kommen und die Regierung zwingen, diesen Fall zu untersuchen.“
Die Polizei sagt, es liegen keine Hinweise auf eine Straftat vor. Sie geben deshalb keine weiteren Auskünfte zum Todesermittlungsverfahren. Ob Schabas Al-Aziz überfallen und ausgeraubt wurde, wurde nicht gesondert geprüft, sagt der Sprecher. Sie ermitteln nur, ob er auf unnatürliche Weise zu Tode kam. Das sei nicht der Fall. Die Obduktion ergab, dass er erfroren ist.
Ein unbequemer Zeuge?
Es bleibt theoretisch möglich, dass sich die Polizei irrt. Dass Schabas Al-Aziz angegriffen wurde, bevor er erfror – aus Habgier oder weil er ein unbequemer Zeuge war.
Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Schabas Al-Aziz starb, weil er vergessen wurde. Vom Staat, der ihn in der Herberge im Wald zurückließ. Vom Pflegedienst, der weiterfuhr, wenn Al-Aziz nicht da war. Vom Heimleiter, der endlich einmal abschalten wollte. Von den Ärzten, die froh waren, ihn los zu sein. Und von seinem Betreuer, dem AfD-Kreisrat Steffen Frost, der drei Wochen wartete, bis er ihn vermisst meldete.
Vermutlich machte sich Schabas Al-Aziz, kurz bevor er starb, auf den Weg nach Klingenberg, um dort seine kurdischen Bekannten zu treffen. Wahrscheinlich war sein Medikamentenspiegel niedrig, weil er die Tabletten nur sehr unregelmäßig genommen hatte. Vielleicht erlitt er einen Anfall, als er durch den Wald lief, und er wurde bewusstlos, wie so oft. Er muss dann eine Weile im Schnee gelegen haben, so lange, bis er nicht mehr aufstehen konnte.
Droht dem Körper eine Unterkühlung, versucht er sich zu wehren, indem er die Muskeln zittern lässt. Kühlt er weiter ab, unter 30 Grad, werden die Muskeln steif. Bewegungen sind dann kaum noch möglich, das Denken verlangsamt sich. Das Herz schlägt nur noch zwei-, dreimal pro Minute. Sinkt die Temperatur unter 20 Grad, stirbt der Mensch.
Es war kalt im Januar 2017. In diesen Tagen fiel die Temperatur auf minus 20 Grad.
Steffi Unsleber, 29, ist Redakteurin der taz.am wochenende. Sie hat jetzt fünfzig neue Facebookfreunde aus Sulaimaniyya.
Juan Majeed, 31, übersetzte die Gespräche mit der Familie. Er kommt aus Syrien, lebte aber für zwei Jahre in Sulaimaniyya und lernte dort Sorani.
Sven Döring, 46, bereist als Fotograf den Osten seit 25 Jahren, war aber noch nie im Irak. Leider.
25.065 Flüchtlinge leben zurzeit in Sachsen, davon 131 in Freital
Quelle: Landesdirektion Sachsen
Im September
2015 erreicht Schabas Al-Aziz Deutschland. Er wird nach Freital
geschickt. Dort sind die Kritiker der Flüchtlingspolitik besonders
schrill und laut
53 Angriffe auf Asylunterkünfte zählte die Opferberatung RAA 2016 in Sachsen, darunter 19 Brandstiftungen
Quelle: Opferberatung RAA
Quelle: Sächsische Polizei
Quelle: eigene Recherchen
Quelle: Opferberatung RAA
Quelle: Landesdirektion Sachsen
Die Quellen: Um die Geschichte von Schabas Saleh Al-Aziz erzählen zu können, sprach die Autorin mit seiner Familie in Sulaimaniyya, dem Onkel in England und dem Schwager in Nordrhein-Westfalen. Sie rekonstruierte die Ereignisse in Deutschland mithilfe des Leiters der Unterkunft in Tharandt, einer behandelnden Ärztin, einer Mitarbeiterin der Psychiatrie, mithilfe von Lokalpolitikern aus Freital und Arnsdorf, Lokaljournalisten, ehrenamtlichen Helfern, Jägern, Bekannten aus Flüchtlingsunterkünften und mit Auskünften der Polizei, der Staatsanwaltschaft und des Betreuungsgerichts Dippoldiswalde. Die Namen einiger Informanten werden zu ihrem Schutz nicht genannt, sie sind der Redaktion bekannt. Name und Fotos von Schabas Al-Aziz wurden mit Einverständnis der Familie veröffentlicht.
Die Verantwortlichen: Der Betreuer Steffen Frost und das Sozialamt Pirna wollten sich trotz mehrmaliger Aufforderung nicht zu dem Fall äußern.
Die Angeklagten: Am Abend nach dem Prozess trat ein Angeklagter bei Pegida in Dresden auf. Sein Anwalt lobte ihn auf der Bühne: „Coole Nummer!“ Zwei weitere Angeklagte forderten am selben Abend während der Gemeinderatssitzung in Arnsdorf den Rücktritt der Bürgermeisterin und eine Entschuldigung. Sie sagten: „Ihr macht das eh nicht mehr lange. Wir wissen, wo ihr seid.“ Die Bürgermeisterin hat die Männer angezeigt.
Die anderen: Lokalpolitiker berichten von einer bedrohlichen Stimmung im Ort. Bei einem sind oft die Radmuttern am Auto locker. „Es gibt organisierte Strukturen“, sagt Gemeinderat Sven Scheidemantel. „Ein Prozess hätte es ermöglicht, sie aufzuklären. Das wurde versäumt.“