In einer mehr als zehn Stunden langen Befragung verteidigt sich Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier vor dem NSU-Ausschuss des Hessischen Landtags. Was hat er zu sagen?
Noch vor seiner Vernehmung im NSU-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags versucht Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) am Montag, die Luft etwas herauszunehmen. Er könne heute, elf Jahre nach dem Mord an Halit Yozgat in Kassel, auch nicht mehr sagen als vor fünf Jahren, als er bereits vom NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags vernommen wurde.
Dann geht er hinein in den gut mit Besuchern gefüllten Sitzungsraum und bekräftigt seine Positionen in den mehr als sechs anschließenden Stunden: Es sei richtig gewesen, eine Sperrerklärung für die V-Leute von Andreas Temme abzugeben, und das Parlament habe er auch nicht früher unterrichten dürfen. Andreas Temme ist der Verfassungsschützer, der zur Tatzeit am Tatort war, nach eigenen Angaben aus privaten Gründen. Die Ermittler wollten die V-Leute vernehmen, mit denen er Kontakt hatte.
Fünf von Temmes V-Leuten seien aus der islamistischen Szene gekommen. Nur um die sei es gegangen, betonte der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Bouffier. Der Verfassungsschutz habe deutlich gemacht, dass die Sicherheit des Landes bedroht gewesen wäre, wenn diese Informanten auffliegen würden. Islamistische Anschläge seien kurz vor der Fußball-WM in Deutschland „eine reale Gefahr“ gewesen.
Niemals sei es aber um Temmes rechtsextremenV-Mann Benjamin Gärtner gegangen. Wenn er geahnt hätte, dass es um eine rechtsextreme Quelle ginge, hätte er gesagt: „Die kann man selbstverständlich vernehmen“, versicherte Bouffier. Doch er habe nichts davon gewusst, dass zu Temmes Quellen auch ein Rechtsextremist gehörte.
Am 6. April 2006 war Yozgat in seinem Internetcafé erschossen worden. Die Tat wird heute den rechtsextremen Terroristen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) zugerechnet.
Seinerzeit stand aber zunächst Verfassungsschützer Temme unter Tatverdacht. Zunächst stritten Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz, ob die V-Leute vernommen worden durften. Bouffier behielt sich die Entscheidung vor – und untersagte schließlich die direkte Vernehmung der Informanten. „Es war die einzige Sperrerklärung, die ich jemals in dieser Form abgegeben habe“, betonte Bouffier.
Dabei hatten sich am 17. August 2006 Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft auf ein Verfahren verständigt, wie die Extremisten befragt werden könnten, ohne dass ihre Namen öffentlich bekannt würden. Bouffier konnte sich zunächst nicht daran erinnern – auch als ihm ein entsprechender Vermerk vorgelegt wurde, den er abgezeichnet hatte. Später sagte er, seine Fachabteilung sei zu dem Schluss gekommen, dass eine Vernehmung trotzdem nicht möglich sei, da die Staatsanwaltschaft nicht garantieren könne, dass die Identitäten wirklich geheim gehalten werden. Der Ministerpräsident hielt seine damalige Sperrerklärung weiter für richtig: „Aus meiner Sicht kann ein verantwortlicher Innenminister in einer solchen Situation nicht anders entscheiden.“
Bouffier verteidigte auch den Umstand, dass er den Landtag erst im Juli 2006 über Temmes Anwesenheit am Tatort unterrichtete, als das schon in der Zeitung gestanden hatte. Das war drei Monate nach der Tat. Anderenfalls wären Ermittlungen in der Mordserie durch öffentliche Informationen behindert worden, sagte er. Die „unbefriedigende Situation aus der Sicht des Parlaments“ könne er aber nachvollziehen, räumte Bouffier ein.
Bereits im Mai 2006 war Bouffiers Staatssekretärin Oda Scheibelhuber (CDU) allerdings darauf vorbereitet worden, die Abgeordneten in einer Sitzung über den Mord in Kassel zu unterrichten. Sie hatte einen „Sprechzettel“ dabei, machte davon aber keinen Gebrauch.
Warum, konnte Bouffier nicht beantworten. Er argumentierte lediglich, dass es nicht möglich gewesen wäre, die Anwesenheit des Verfassungsschützers am Tatort an die Öffentlichkeit geraten zu lassen. In dem Sprechzettel stand aber nach SPD-Obfrau Nancy Faesers Angaben gar nichts über Verfassungsschützer Temme. So erfuhren die Abgeordneten nicht einmal, dass der Mord in Kassel Teil der bundesweiten Serie mit der Ceska-Waffe war, die heute dem NSU zugerechnet wird.
Auf Informationen vom Verfassungsschutz gestützt
Als Bouffier im Juli 2006 dann das Parlament informierte, sagte er einen umstrittenen Satz. Es sei „betrüblich“, dass auch der zuständige Minister erst aus der Zeitung von den Vorgängen erfahre. Der Ministerpräsident bestritt, dass er damit den Tatverdacht gegen Verfassungsschützer Temme gemeint habe. Das Bedauern, dass auch er erst aus der Zeitung Informationen erhalte, habe sich vielmehr „auf Einzelheiten der Ermittlungen“ bezogen. Im Innenausschuss sagte Bouffier auch, Temme sei „rein privat“ in Yozgats Internetcafé gewesen. Am Montag betonte der Regierungschef, das könne er „aus eigener Kenntnis nicht sagen“.
Er habe sich auf die Informationen von Verfassungsschutz und Innenministerium gestützt. Seit fast drei Jahren bemüht sich der hessische Untersuchungsausschuss in mittlerweile 55 Sitzungen um Aufklärung. Dabei war herausgekommen, dass es seinerzeit einen CDU-Arbeitskreis im hessischen Landesamt für Verfassungsschutz gab. Temme soll nach Angaben seines damaligen Vorgesetzten Frank-Ulrich Fehling mehrfach an Grillfeiern des Arbeitskreises teilgenommen haben. Fehling hatte auch gesagt, Bouffier sei mindestens einmal da gewesen.
Der Ministerpräsident sagte, er habe Temme nicht persönlich kennengelernt. Jedenfalls könne er sich an keine Begegnung mit ihm erinnern. Auch von der Tatsache, dass es einen CDU-Arbeitskreis im Verfassungsschutz gab, habe er nichts gewusst. In seiner Amtszeit habe er „sicher Hunderte von Grillfesten besucht“. Er habe „nicht in Erinnerung, dass ich Herrn Temme jemals begegnet wäre“.
Die Zuhörer horchten auf, als Linken-Obfrau Janine Wissler deutlich machte, dass ein interner Untersuchungsbericht des Landesamts für Verfassungsschutz „erhebliche Versäumnisse“ für die Zeit seit 1992 herausgefunden habe: Spuren seien nicht immer verfolgt worden, zudem seien mehr als 500 Aktenstücke verschollen. Insgesamt 390 Hinweise auf Sprengstoff und Waffen bei Neonazis seien bis 2012 registriert worden. Auch ein Indiz auf einen „Nationalen Untergrund“ habe dem Verfassungsschutz vorgelegen, es sei dem Bericht zufolge aber „nicht dokumentiert“, ob diesem überhaupt nachgegangen worden sei.
Geheim bis ins Jahr 2134
Bouffier nannte die Zahl der Waffenhinweise bei Rechtsextremisten „nicht ungewöhnlich“, da es im Schnitt um rund 20 Fälle im Jahr gehe. Die Aussagen des internen Berichts wollte er aber nicht eingehend kommentieren, da ihm nur einzelne Zitate vorgehalten würden.
Bisher war im Untersuchungsausschuss lediglich bekannt geworden, dass Bouffiers Minister-NachfolgerBoris Rhein (CDU) diese Untersuchung 2012 in Auftrag gegeben hatte, nachdem der NSU im November 2011 aufgeflogen war. Rhein konnte sich bei seiner Vernehmung im März allerdings nicht daran erinnern, jemals einen Zwischen- oder Endbericht erhalten zu haben. Nach Wisslers Angaben war zu Rheins Amtszeit 2013 ein Zwischenbericht vorgelegt, aber als unzureichend zurückgegeben worden. Der „Abschlussbericht zur Aktenprüfung“ sei im November 2014 geliefert worden.
Große Teile des internen Untersuchungsberichts sind nach Angaben der Linken allerdings geheim. Sie dürften erst 120 Jahre nach der Fertigstellung, nämlich im Jahr 2134, veröffentlicht werden.
Ein geübter Zeuge
Viele Zeugen hat der NSU-Ausschuss bereits gehört, aber keiner hat sich so geübt gezeigt wie Bouffier, der schon oft in Untersuchungsausschüssen aussagen musste. Es wird voraussichtlich noch emotionaler zugehen in dem Gremium. Denn erwartet wird noch der Vater des Opfers, Ismail Yozgat. Er hatte seinen Sohn seinerzeit kurz nach den Schüssen gefunden.
Die Eltern Ayse und Ismail Yozgat hatten Bouffier nach der Tat um ein persönliches Gespräch gebeten. Er lehnte seinerzeit ab. Das sei ihm schwer gefallen, berichtete der Politiker im Ausschuss. Aber die Behörden hätten ihm abgeraten, um die Ermittlungen nicht zu beeinträchtigen.