Nach Steinwürfen auf Polizisten ringen Aktivisten und Politiker um die politische Deutung
Acht Männer und Frauen, in T-Shirts und kurzen Hosen, stehen vor dem Hausprojekt in der Rigaer Straße 94 und sprechen miteinander. Es ist heiß, selbst für einen Morgen Ende Mai. Eine Frau sitzt auf dem Boden - sie hat ein blaues Auge. Auf die Frage, was genau passiert sei am Wochenende in der Rigaer Straße, sagt eine der Anwesenden leise, dass es dazu bereits eine Mitteilung auf der Internetplattform indymedia gibt. Die Umstehenden lächeln. Freundlich aber bestimmt weisen sie alle weiteren Fragen ab. Man solle sich doch per E-Mail an sie wenden. Ob sie die Fragen beantworten? Ein weiteres Lächeln, Achselzucken allerorts.
Am frühen Morgen hatten »Aktivisten« tatsächlich eine Pressemitteilung veröffentlicht. Darin bestätigen sie im Wesentlichen den Vorwurf der Polizei: Dass in zwei aufeinanderfolgenden Nächten Steine geflogen sind. In gebrochenem Englisch heißt es, die »Aktivisten« hätten Pflastersteine aus der Straße gegraben, um Polizeiautos und den Verkehr zu stoppen. Allerdings sei die Gewalt zuerst von der anderen Seite ausgegangen: Die Polizisten, die sie als »crazy pigs«, »verrückte Bullenschweine«, bezeichnen, hätten Anwohner attackiert und versucht, das Hausprojekt Rigaer 94 anzugreifen. Zudem stellten die Verfasser Fotos ins Netz, eins zeigt das erkennbare Gesicht eines Polizisten, der stark am Kopf blutet. Die Kommentare sind von Unverständnis geprägt: »Sorry, aber solche Aktionen schaden der gesamten linken Szene.« Und: »Die Revolution ist tagtägliche, harte Arbeit.«
Thorsten Buhl, für die LINKE in der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg, war in der Nacht vor Ort. »Ich wohne um die Ecke. Immer, wenn ich einen Hubschrauber höre, ziehe ich meine Schuhe an.« Nachdem die Polizei die Straße mit Fahrzeugen gesichert und sich ein Wortgefecht mit den Anwesenden geliefert hatte, habe ein Polizist einen der Umstehenden »brutalst zu Boden gedrängt, acht Mann auf ihn drauf«. Dann flogen die Steine: »Von oben, aus dem Haus raus.« Aus welchem? Das habe er nicht gesehen. »Ich war in Panik. So was habe ich noch nicht erlebt.« Auf Facebook hatte er seiner Wut Luft gemacht: »Mit Euren Steinen habt ihr riskiert, dass Eure Unterstützer schwerste Verletzungen auf sich nehmen, währenddessen sie Solidarität mit Euch zeigten.« Am Tag danach zeigt er sich versöhnlicher: »Ist halt blöd, wenn ich auch was abkriege. Aber das mindert nicht die Solidarität mit dem Hausprojekt oder der Rigaer Straße.«
Auch Canan Bayram, für die Grünen im Abgeordnetenhaus, war vor Ort. »Ich wurde angerufen, weil es Beschwerden wegen des Helikoptereinsatzes gab und weil Leute festgenommen wurden.« Was sie gesehen hat, möchte sie nicht sagen - weil es unvollständig sei, aber auch, weil sie im Konflikt keine Rolle einnehmen möchte. Sie habe den Anwohnern Fragen beantwortet, zum Beispiel, dass es rechtlich gedeckt ist, dass die Polizisten kommen, ja sogar kommen müssen, wenn Steine fliegen. Ein ungutes Gefühl bleibt: »Da schaukelt sich etwas hoch, auch bei den politischen Äußerungen.«
Stefan Evers, CDU-Generalsekretär, hatte in der Nacht zu Sonntag auf seiner Facebook-Seite geschrieben: »Widerwärtiges Gesindel! Ich hoffe, der Innensenator erwacht endlich aus seinem politischen Koma und räuchert dieses Nest von Linksfaschisten mit allen Mitteln des Rechtsstaats aus!« Die Formulierung »mit allen Mitteln des Rechtsstaats« hatte Evers erst nachträglich eingefügt, als Reaktion auf massive Kritik an seiner Wortwahl.
Innensenator Andreas Geisel (SPD) äußerte sich indessen am Montag. Er verurteilte die Geschehnisse als »sinnlos, menschenverachtend und unpolitisch«. Er kündigte an, die Polizeipräsenz vor Ort zu erhöhen. »Wir werden nicht hinnehmen, dass in Teilen der Stadt rechtsfreie Räume entstehen. Ich kann allen nur empfehlen, die Gewalt nicht weiter eskalieren zu lassen.«
Die Anwohner im Friedrichshainer Nordkiez treibt jedoch nicht nur die Gewalt, sondern auch die Sorge wegen der Gentrifizierung um. Am Sonntag hatte die Aktionsgruppe »Rigaer Straße 71-73« zu einem Kiezspaziergang eingeladen. Sie führte zu Orten von Verdrängung, dahin, wo Neubauten den Kiez verändern. Rosa Cerny von der Aktionsgruppe sagt, dass es die Anwohner sind, die die Aufwertung des Kiezes trifft: »Die, die am Limit arbeiten und sich die Miete nicht mehr leisten können.« Auf das Wochenende angesprochen, sagt Cerny: »Es sind die Menschen mit Geld und die Politik, die den Krieg in den Kiez hereingetragen haben.« Wie es weitergehen wird, davon hat sie eine Ahnung: »Wenn die beiden Häuser in der Rigaer Straße tatsächlich gebaut werden, war das, was hier am Wochenende passiert ist, noch gar nichts.«