Am 15. Oktober 1993 wurde die damals 22-jährige Cordula Keller in Wurzen das letzte Mal gesehen. Seitdem fehlt von ihr jede Spur. Es heißt, sie habe zu einer Geburtstagsfete nach Thüringen trampen wollen. Dort kam sie aber nie an. In der ZDF-Livesendung „Aktenzeichen X,Y ... ungelöst“ erinnern sie am Mittwoch einmal mehr an den Fall.
Wurzen. Nein, Cordula sei nicht der Typ gewesen, einfach abzuhauen, in die große weite Welt zu gehen – „definitiv nicht“. Veronika Bänisch fällt es schwer, nach fast einem Vierteljahrhundert weiter daran zu glauben, dass ihre vermisste jüngste Schwester noch lebt und irgendwann bei ihr am Hoftor in Röcknitz steht: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagt die 54-Jährige. Was bleibe, sei die Erinnerung an ein bildhübsches, liebes, gutes Mädchen, jung, naiv und richtig glücklich: „Sie hatte sich mit ihrem Bruno in Wurzen ein Nest gebaut. Orientierte sich nach ihrer Lehre in der Filzfabrik um. Wollte Altenpflegerin werden. Hatte die Prüfung auch bestanden – und dann das...“
Am 21. Januar 1994 veröffentlicht das „Wurzener Tageblatt“ eine kurze Notiz: Unter der Überschrift „Wer hat Cordula Keller gesehen?“ bittet die Kripo Torgau die Bevölkerung um Mithilfe. Vermisst, so heißt es, werde die am 2. März 1971 geborene und zuletzt in Wurzen, Clara-Zetkin-Platz 2 wohnhafte Cordula Keller. Die junge Frau sei in Wurzen zuletzt am 15. Oktober 1993 gegen 7.30 Uhr gesehen worden. Die Nachforschungen hätten ergeben, dass sie mit ihrem Freund per Anhalter zu einer Geburtstagsfeier nach Schmiedehausen aufbrechen wollte – entweder über Naumburg und Camburg oder über Zeitz und Eisenberg. Die Zeitung zitiert die Polizei weiter wie folgt: „Aufgrund eines am Vorabend stattgefundenen Streits trampte Cordula jedoch alleine. Am etwa 100 Kilometer von Wurzen entfernt liegenden Zielort kam sie nie an.“
Cordulas Schwester Veronika schüttelt den Kopf: „An jenem Morgen klingelte ich gegen 7 Uhr bei Cordula, wollte ihr das Geld bringen, damit sie den Zug nimmt und nicht trampt – aber leider öffnete niemand.“ Sie lasse den Schmerz über die mitten ins Herz gerissene Lücke nicht mehr jeden Tag zu, gesteht Veronika: „Wenn du dich da reinsteigerst, kommst du vielleicht irgendwann nicht mehr raus.“ Und doch fand sie zusammen mit ihrer Schwester Ramona Starke die Kraft, am Mittwoch in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ einmal mehr öffentlich nach Cordula fahnden zu lassen.
Ortswechsel, Großzschepa bei Wurzen: Baustelle, Betreten verboten, Eltern haften für ihre Kinder. Das längst verlassene Haus Lindenstraße 12 ist inzwischen eine Ruine. Hier, zwischen einstigem Schloss und Kirche, lebte die Familie Keller. 1979 hatte sie das einstige Neubauerngrundstück erworben. „Emil und seine Frau Karin arbeiteten im Stall auf der LPG“, weiß Gerold Aé, Chronist des Dorfes und Leiter des Heimatmuseums. Nein, viel könne er nicht über die Kellers sagen, es habe keinen direkten Kontakt gegeben. Und dann zieht er doch noch die Zeitung mit der Vermisstenmeldung aus seinen Unterlagen und liest vor: „Cordula Keller wirkt etwa 20 bis 25 Jahre alt, ist 1,60 bis 1,65 Meter groß und von schlanker Gestalt. Sie hatte zuletzt wildkirsch-gefärbtes Haar, ihre Augenfarbe ist braun-grün. Auf dem linken Oberarm trägt sie eine auffällig tätowierte Rose und die Initialen BB.“ Ihr Vater Emil habe ein unstetes Leben geführt, verbüßte eine Haftstrafe, verließ seine Familie und beging 1992 Selbstmord in Mecklenburg, so Aé. „Bei einer Zwangsvollstreckung 1998 wurde das Haus versteigert.“
Sieben Kinder hatte das Ehepaar, Fred, das noch vor Cordula geborene Söhnchen, starb schon früh. Das Verhältnis zum Vater sei schwierig gewesen, bestätigt Tochter Ramona Schulze. „Wir Kinder waren wie die Orgelpfeifen, verstanden uns gut. Vater aber war sehr streng. Er schmiss mich raus, als ich schwanger wurde. Noch heute bin ich meiner Klassenlehrerin sehr dankbar, sie hatte mir damals sehr geholfen.“
Jacqueline Baltes ging damals mit Ramona in Hohburg in die Schule. „Ehrlich gesagt habe ich keine große Erinnerung. Ramona kam erst in der siebten Klasse zu uns. Später, viel später, traf ich sie mal zum Dorffest und wechselte ein paar Worte mit ihr. Auf ihre verschollene Schwester hin habe ich sie nicht angesprochen. Das traute ich mir nicht. Man weiß nicht, in welche offene Wunde man da sticht.“ Natürlich sei sie genauso wie alle anderen geschockt vom Verschwinden der einstigen Großzschepaerin, sagt Jacqueline Baltes, die sich die Live-Sendung am Mittwoch im ZDF anschauen wird: „Es berührt einen doch sehr, wenn einer von uns einfach so verschwindet – wie vom Erdboden verschluckt.“
Roswitha Roßberg, die Wirtin von „Rosis Einkehr“, erinnert sich noch genau an Cordulas Mutter: „Karin war Stammgast bei uns, sie kam immer mit dem Rad und zwei jüngeren Bekannten. Sie hatte stark getrunken, wohl auch, um das ungeklärte Schicksal ihrer Tochter ertragen zu können.“ Die Mutter sei noch eine kurze Zeit in Großzschepa gewesen, dann habe sie den Ort verlassen. Die Kellers seien Zugezogene gewesen, waren somit nicht alteingesessen, sagt die ehemalige Nachbarin Ursel Löwe. Die 65-Jährige erfuhr damals aus den Medien von der vermissten Tochter. Eng sei der Kontakt der Familie zu den Dorfbewohnern nie gewesen, bestätigt ein Großzschepaer, der anonym bleiben möchte: „Cordula aber war nicht so sehr der Einzelgänger, mit ihr konntest du reden, sie war ein prima Mensch.“
Es seien damals bewegte Zeiten gewesen, sagt Ingo Stange, heute Projektleiter im Netzwerk für Demokratische Kultur in Wurzen: „Die Wende war noch nicht lange her, in Wurzen gab es viele Neonazis. Cordula war ein eher ruhiges Mädchen. Ihr Freund Bruno war Punker und ein ganz Lieber. Er wollte dem aufgeheizten, gewaltsamen Zeitgeist etwas Kreatives entgegen setzen, überall malte er seine kleinen Kamele hin, als Protest gegen den allgegenwärtigen Herdentrieb.“ Um die Erinnerung an ihn wach zu halten, wurden seine Kamele in ein Mosaik mit eingebaut, das am Kulturzentrum D 5 noch immer zu sehen ist.
Bruno habe sich ein Jahr nach Verschwinden seiner Freundin selbst getötet, sagt Cordulas Schwester Ramona: „Beide passten wirklich sehr gut zusammen.“ Zwar sei die Kindheit und Jugend nicht leicht gewesen, doch sei aus allen Geschwistern etwas geworden, alle fünf Kellers hätten Arbeit – ob als Hausverwalter, Koch oder wie sie als Werbefrau. Auch die Mutter Karin habe sich wieder gefangen, wohnte zuletzt bei ihrem Sohn Roberto in Offenbach. Dort kümmerte sie sich um ihren Enkel und starb vor fünf Jahren. „Zu ihrer Beerdigung war fast die gesamte Familie da“, erinnert sich Ramona. Was bleibt, ist die schmerzende Ungewissheit über das Schicksal ihrer Schwester Cordula.
Bis heute halten die Geschwister Kontakt zum ermittelnden Kriminalisten Ingo Schubert von der Polizei in Grimma: „Leider, noch immer haben wir keine heiße Spur. Umso wichtiger ist es, nach mehreren vergeblichen Versuchen der Fernsehfahndung nun noch einmal eine solche Chance zu bekommen.“ Er werde die beiden Schwestern persönlich ins Studio nach München begleiten, sagte Schubert, der den Fall Cordula Ende der 90er-Jahre von den Torgauer Kollegen übernommen hatte.
Katja Neumaier vom ZDF kündigte gegenüber der LVZ an, dass es am Mittwoch ein XY-Spezial geben werde. Thema: „Wo ist mein Kind?“ Die beiden Schwestern Veronika und Ramona hoffen, dass es der Fall Cordula diesmal auch wirklich in die Sendung schafft: „Die Fernsehleute waren schon vor einem Jahr zu Dreharbeiten in Wurzen. Im Hotel ,Zur Post’ wurde ein Interview mit uns geführt, danach sind wir noch durch den Bahnhofspark gelaufen.“ Wegen eines aktuellen Falles wurde der Beitrag aber immer wieder geschoben. „Kripo live“, „Bitte melde dich“ und nun noch einmal „Aktenzeichen XY“ – die Familie will nichts unversucht lassen. Im besten Fall schaut ja sogar Cordula zu...
Von Haig Latchinian