Alles so schön bunt hier [NSU]

In diesem Garagenkomplex an der örtlichen Kläranlage richtete sich das Trio eine Bombenwerkstatt ein | Foto: Frank Rothe/Visum
Erstveröffentlicht: 
24.05.2017

Milan Ziebula Alles so schön bunt hier Spurensuche In der Stadt, aus der die NSU-Täter stammen, verdrängen viele die Verbrechen. Warum fällt Jena das Erinnern so schwer?

 

NSU, ist das eine Partei?“ Die Frau lächelt mit großen Augen, sortiert weiter ihre Zwiebeln und bedient hastig die nächste Kundin. An einem Freitagnachmittag Anfang Mai ist wenig los auf dem Jenaer Marktplatz. Ein paar Rentner, Jugendliche, die gerade von der Schule kommen, und Eltern mit Kinderwagen schlendern zwischen dem Rathaus und dem Stadtmuseum Göhre. Sanierte Backsteinbauten, durchsetzt mit den letzten DDR-Platten und feschen Neubauten, zieren die Gassen, in der Mitte der Jentower, das höchste Gebäude der Stadt. Sauber und aufgeräumt ist es hier, die Mieten sind ähnlich hoch wie in München. Nichts erinnert an die Opfer der schlimmsten rassistisch motivierten Mord- und Anschlagsserie in Nachkriegsdeutschland. Die Täter kommen von hier.

Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt lernten sich in den 1990ern im Jugendhaus Winzerclub in Jena-Winzerla kennen. Die Nazi-Szene hat in Jena eine lange Tradition. Schon während der DDR gab es in den 1970ern und 1980ern eine regimekritische rechte Szene. Mitte der 1990er Jahre formierte sich der Thüringer Heimatschutz, der Kontakte zur NPD pflegt. Auch das NSU-Trio gehörte dieser Kameradschaft an. Besonders bekannt für rechtsradikale Übergriffe sind bis heute das Umland und Jena-Lobeda. Aus dieser Szene entwickelte sich ein Trio mit einer Schlagkraft, wie sie die Stadt nicht erwartet hätte.

Seit 1997 war die Zelle im Untergrund. Der NSU mordete zehn Menschen, legte Bomben, überfiel Banken. Heute, da sich der Gerichtsprozess gegen Beate Zschäpe in das fünfte Jahr zieht, floriert die linke Szene in Jena. Dennoch wollen viele nicht, dass ihre Stadt mit dem NSU in Verbindung gebracht wird. Warum ist das so? Und weshalb gibt es noch kein Konzept für ein Erinnern?

Am Marktplatz steht das Wirtshaus Alt Jena. Die junge Kellnerin hinter dem Tresen meint, viel wisse sie ja nicht, aber „der NSU sollte nirgendwo dazugehören“. Ihr Kollege, Tattoo am Unterarm, langer aschblonder Zopf, kommt hinzu und will auch etwas sagen: „Ich bin ja Jenenser. Hier schämen sich viele dafür, dass der NSU von hier kam. Weil Jena nicht mehr so ist, wie es mal war. In den 90ern saßen hier die Rechten auf dem Markt rum, das ist heute anders.“

Mondän, weltoffen, jung

Katharina König kennt das Trio noch von früher. König ist die Tochter von Lothar König, dem Jugendpfarrer der Jungen Gemeinde (JG Stadtmitte), einem Treffpunkt der linken Szene. Als Jugendliche wurde sie regelmäßig von Nazis bedroht. Heute sitzt die 39-Jährige im Thüringer Landtag. Sie ist Obfrau der Fraktion Die Linke im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss und Mitglied des Runden Tischs für Demokratie, der unter anderem 2012 die Tagung „Sie kamen von hier“ mit initiierte. König geleitet zu einem Restaurant in der Wagnergasse. „Kann ich erst mal einfach nur fünf Minuten reden?“, fragt sie, kaum dass sie an einem der hohen Tische Platz genommen hat. Sie redet eine Stunde lang. Wie für ein Polizeiprotokoll gibt sie präzise an: „7. November 2011 wird intern bekannt, dass die zwei im Wohnmobil Mundlos und Böhnhardt sind. Intern heißt, auf Landtagsebene wussten es ein paar Leute, die Junge Gemeinde wusste es und ein paar Antifas. Am 8. 11. wird es medienöffentlich. 9. 11. rücken in der JG ein Haufen Kameraleute und Journalisten an. Alle auf der Suche nach alten Bildern, Zeitzeugen, nach Geschichten. Gleichzeitig lief überall rauf und runter in den Medien: ‚Jena, Stadt des NSU‘. 18. 11., Aktionsbündnis gegen Rechts, ein Zusammenschluss von JG-Stadtmitte, Gewerkschaft, Antifagruppen hat einen Mahngang organisiert. Wir sind schweigend durch die Stadt gegangen. 400 Leute waren da. Das war verdammt wenig.“

König ärgert, wie wenig die Stadt unternommen hat, um der Opfer zu gedenken. Beim „Rock gegen Rechts“ im Dezember 2011 mit Udo Lindenberg und Sigmar Gabriel wurden nicht einmal ihre Namen auf der Bühne genannt. „Es ging darum, das schlechte Image der Stadt abzuwenden.“ Darum, zu zeigen: Jena ist bunt.

Viele Jenenser wollen nicht, dass ihr Heimatort als braune, rassistische Oststadt dargestellt wird. Am 18. November 2011 begleitet ein Kamerateam der ZDF-Sendung Aspekte den deutsch-bengalischen Schriftsteller Steven Uhly zum Hauptbahnhof Jena Paradies. Eingeleitet wird der Beitrag mit den Worten: „Jena Paradies. Für Leute mit Migrationshintergrund kein Paradies.“ Uhly verbringt eine kurze Zeit in der Stadt und bestätigt, dass man sich als Ausländer hier nicht wohl fühlen kann. 4.000 Einwohner unterschreiben eine Petition gegen den Beitrag. Daraufhin lädt das Theaterhaus Oberbürgermeister Albrecht Schröter von der SPD, Aspekte-Redaktionsleiter Christhard Läpple und Katharina König zu einer Podiumsdiskussion ein. „Wir mussten zusätzlich noch einen Live-Stream für den Theatervorplatz aufbauen. Die Polizei sprach offiziell von über 1.000 Menschen“, erinnert sich Jonas Zipf, der damals künstlerischer Leiter des Theaterhauses war. „Es gab einen sehr emotionalen Moment, als der Oberbürgermeister den Journalisten angriff und meinte, dass es eine Unverschämtheit sei, diesen Beitrag auszustrahlen. Von draußen drangen Gejohle und Applaus zu uns und und es ging ein Raunen durch die Menge. Wenn jetzt die Stimmung kippt, habe ich gedacht, habe ich die Situation nicht im Griff.“

Jena empfindet sich als mondän, weltoffen und jung. Bei der Wahl für das Stadtparlament lag die Linke 2014 ganz vorne mit 24 Prozent, die NPD ist gar nicht vertreten. Jena zeichnet sich durch Reformschulen, ein progressives Theaterhaus, viele linke Aktionsbündnisse und den Status als Studentenstadt aus. Dass es dennoch Probleme mit Rechtsradikalismus gibt, wollen viele nicht wahrhaben.

Tilo Schieck, der seit 1994 für die Grünen im Stadtrat sitzt, glaubt, die Verdrängung komme gerade aus dem linksliberalen Milieu. „Die Stadt ist von ihrer eigenen Geschichte eingeholt worden“, sagt er. „In den nuller Jahren hat man die Nazi-Szene aus der Stadt vertrieben. Als dann das NSU-Trio enttarnt wurde, waren alle ungläubig, wie das passieren konnte, und wollten es nicht wahrhaben.“ Der NSU wäre präsenter, meint König, wenn sich die Bürger persönlich bedroht fühlten. „Es geht um Morde, die in den alten Bundesländern an Migranten begangen worden sind. Da fühlt sich hier in Jena doch keiner betroffen.“

Kann eine Stadt überhaupt Verantwortung übernehmen? Und wenn ja, wie sollte das aussehen? Frank Döbert war 2011 bei der Ostthüringer Zeitung der hauptverantwortliche Lokaljournalist zum Thema NSU. Er hat die alten Geschichten aus den 1990ern ausgegraben. Über die Stadt sagt er: „Man hat sich nicht in der Verantwortung gesehen. Man hat die Verantwortung bei der Polizei gesehen. So war’s aber nicht.“ Döbert hat mit denen gesprochen, die Zschäpe eine zeitlang begleiteten, als sie noch jung war. Der Ausbildungsgesellschaft zum Beispiel, bei der sie gelernt hat. Dort habe man keine Schuld bei sich gesehen. „Sie war hier ein Jahr in der Ausbildung. Wie will man wissen, ob jemand mal ein Täter wird?“, hieß es. Anders als König meint Döbert, Hilflosigkeit und Betroffenheit in der Bevölkerung zu sehen.

Etwas muss stören

Jonas Zipf, der inzwischen Leiter der städtischen Kulturbetriebe ist, sieht 2021 das große Gedenkjahr kommen. Dann wird die Aufdeckung des NSU zehn Jahre her sein. „Bis dahin muss was Großes passiert sein, wie zum Beispiel die Verleihung des Graef-Preises für ein gutes Projekt, das sich dieser Sache künstlerisch nähert“, meint er. Der Botho-Graef-Preis ist der wichtigste Kunstpreis der Stadt. Eine Weile lang kursierte die Idee für ein Mahnmal auf dem Theatervorplatz, die jedoch verworfen wurde. Katharina König würde sich stattdessen wünschen, dass mehrere Jenaer Straßen nach den Opfern umbenannt werden. „Wir brauchen eine Störung in der Stadt“, meint sie. „Etwas, das provoziert, womit sich die Leute auseinandersetzen müssen. Und das müssen sie, wenn ihre Straße von nun an Abdurrahim-Özüdoğru-Straße heißt.“ Auch Bürgermeister Schröter findet ein Mahnmal nicht sinnvoll. „Man sollte keine Orte schaffen, an denen sich Leute identifizieren können.“ Mit „Leute“ meint er die Neonazi-Szene. „Wichtig sind eine Aufarbeitung in den Schulen, öffentliche Podien und der Kontakt zu den Angehörigen der Opfer, damit sich solche Dinge nicht wiederholen.“

Eine Studentin sitzt mit ihrem Freund auf einer Bank am Rand des Marktplatzes. „In der Schule wurde bei uns nicht über den NSU geredet“, erinnert sie sich. Die angehende Gymnasiallehrerin findet, das Thema habe nichts mit Jena zu tun. „Wir brauchen hier keine besondere Erinnerungskultur“, sagt sie. Und wenn doch? Wird sie ihre Meinung dann ändern und ihrer Klasse später mal erklären, dass der NSU aus Jena kam?

 


Milan Ziebula ist in den frühen 1990er Jahren in Jena geboren und dort aufgewachsen