Das neue Asylpaket schürt Ressentiments gegen Flüchtlinge. Mehr Sicherheit vor Terror bringt es nicht, denn der hat ganz andere Wurzeln. Der Leitartikel.
Inzwischen sind kaum noch Zweifel möglich: Die zwölf Menschen, die der Attentäter Anis Amri in Berlin getötet hat, könnten wohl noch leben, wenn die Ermittlungsbehörden den Job gemacht hätten, für den sie da sind. Dann wäre Amri frühzeitig in Haft genommen und abgeschoben worden. Einbruchsplanungen, falsche Identitäten, islamistische Kontakte Amris waren sowieso schon bekannt. Jetzt kommt heraus, dass er wohl auch gewerbsmäßig mit Drogen handelte und die Polizei das wusste – genug, um ihn dingfest zu machen. Stimmen die neuen Berichte, muss man sagen: Amri konnte den Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt begehen, weil er gegen alle Erkenntnisse nicht festgenommen wurde. Und nicht etwa, weil er keine elektronische Fußfessel trug.
Die elektronische Fußfessel für unverurteilte mutmaßliche extremistische Gefährder hat der Bundestag vor einigen Wochen beschlossen, Amris Attentat war das zentrale Argument, das sie dringend nötig sei. Jetzt zeigt sich endgültig: zu Unrecht. Die Fehler lagen ganz woanders. Trotzdem: Im Wahljahr schrecken Union und SPD vor grund- und menschenrechtlich mehr als fragwürdigen Gesetzesverschärfungen nicht zurück, die mehr Sicherheit vorgaukeln, aber in Wahrheit nur Populismus sind.
So auch die massiven, mit dem Amri-Anschlag begründeten Asyl- und Aufenhaltsrechtsverschärfungen, die die große Koalition noch am Donnerstagabend durch den Bundestag peitschen wollte. Sie treffen die breite Mehrheit der Flüchtlinge empfindlich, die hier einfach nur Schutz und eine Perspektive suchen. Wenn etwa jetzt die Handys von Asylbewerbern systematisch ausgelesen und teils vom Bundeskriminalamt verwertet werden dürfen, dann stellt sich die Frage: Was, wenn die Handydaten über das BKA in andere Staaten und womöglich bis in den Verfolgerstaat gelangen? Und wie gefährlich muss denn ein „Gefährder“ sein, damit er bis zu 18 Monate in Haft genommen werden kann – ohne einen konkreten Tatverdacht? Hier wird ein Einfallstor für rechtsstaatlich untragbare Willkür geöffnet – wie auch bei der Regelung, dass lange hier Geduldete künftig unter Umständen ohne jede Vorwarnung abgeschoben werden können.
Es ist zu hoffen und nicht unwahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht hier die Bremse zieht und den einen oder anderen gesetzgeberischen Exzess kassiert – aber wohl nicht mehr vor den Bundestagswahlen im Herbst. Nicht auszuschließen, dass die Parteien, die im Wahlkampfmodus sind, darauf spekulieren.
Das hat etwas Perfides, denn eines wird bleiben von dem Gesetzespaket, auch wenn Karlsruhe seine schlimmsten Passagen kassiert haben sollte: Die Botschaft, dass wer Terrorismus vorbeugen will Flüchtlinge unter Generalverdacht stellen und bekämpfen muss.
Indem Union und SPD die Fiktion von Flüchtlingen als potenziellen Extremisten transportieren, übernehmen sie unverblümt die Rhetorik der Rechtspopulisten. Damit hätte die AfD schon ein bisschen mitregiert, ohne Wählervotum sozusagen.
Dabei werden die Verschärfungen gar nicht mehr Sicherheit bringen, und sie sind auch gar nicht nötig. Ein Gefährder wie Anis Amri hätte auch ohne die neue Gefährderhaft leicht hinter Gitter gebracht werden können – wenn die Verantwortlichen nur gehandelt hätten. Andererseits konnten diverse mutmaßliche Anschlagsplanungen schon frühzeitig durch Festnahmen gestoppt werden, weil die Sicherheitsbehörden eben doch schon recht gut aufgestellt sind. Und wir wissen, dass extremistische Gewalt sich nicht immer klar ankündigt und somit nicht immer zu verhindern ist - so war es beim Axtangriff in einem Würzburger Zug oder bei der Messerattacke einer hier aufgewachsenen 15-Jährigen auf einen Bundespolizisten.
Vor allem aber: Motive für extremistischen Terror sind vielschichtig. Bei Anis Amri etwa wird man angesichts seiner kriminellen Vita fragen dürfen, ob er wirklich ein Islamist oder nicht doch in erster Linie ein notorischer Gewaltverbrecher war – wie auch viele Attentäter in Frankreich das Motiv Islamismus eher als Etikett verwandt zu haben scheinen, um ihre kriminelle Lebensgeschichte pseudoreligiös zu „veredeln“.
Ein überstarker politischer Fokus auf der Bekämpfung islamistischer und von Flüchtlingen drohender Gewalt, wie er sich im aktuellen Asylpaket wieder manifestiert, ist deshalb gefährlich – weil er an einer Stelle überreagiert, aber anderes übersieht. Der Amokläufer von München etwa war offenbar nicht nur psychisch instabil, sondern auch rechtsextrem. Sein Mord an neun Menschen, überwiegend Migranten, hat nicht annähernd so heftige Debatten ausgelöst wie andere Terrorakte, bei denen irgendwann ein IS-Emblem auftauchte.
Sieht man dann noch die rechte Hetze in den sozialen Medien, Anschläge auf Moscheen und Flüchtlingsunterkünfte, den beängstigend wachsenden Organisationsgrad der rechten Szene überhaupt – offenbar auch in der Bundeswehr, wie sich seit der Festnahme von Franco A. zeigt –, dann sollte klar sein: Die „Gefährder“-Debatte hierzulande muss deutlich weiter greifen, als sie es bisher tut.