Bei den Ermittlungen in der Fanszene von Chemie Leipzig hat die sächsische Justiz 240 Personen zum Teil jahrelang überwacht. Dabei kam ein enormer Aktenberg an aufgezeichneten Telefon-Gesprächen und SMS zusammen.
Leipzig. Während der jahrelangen, letztlich erfolglosen Ermittlungen der Dresdner Staatsanwaltschaft in der Fanszene des Fußball-Oberligisten Chemie Leipzig (LVZ berichtete) wurden von insgesamt 240 Personen Gespräche, SMS und andere Mitteilungen aufgezeichnet und ausgewertet. Das geht aus einer Antwort von Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) auf Nachfrage von Valentin Lippmann (Grüne) hervor. Insgesamt sei die Zahl der von den Überwachungen betroffenen Bürger sogar noch größer gewesen, denn wie Gemkow weiter schreibt, wurde letztlich nur das verschriftlicht, was auch zweifelsfrei einer Person zugeordnet werden konnte. Die Grauzone könnte hunderte weitere Betroffene umfassen.
Trotz dieser Einschränkungen fanden so letztlich mehr als 56.000 sogenannte Verkehrsdatensätze von Fußballfans und ihren Gesprächspartnern den Weg in die Dresdner Akten – inklusive Name, Anschrift, Beruf und andere Identitätsmerkmale. Und wie das am Montag bekannt gewordene Beispiel des Fanbeauftragten der BSG Chemie zeigt, der lediglich aufgrund seiner Funktion überwacht wurde, bedurfte es nicht einmal eines Anfangsverdachts einer Straftat, um von den Ermittlungen zwischen November 2013 und November 2016 betroffen zu sein.
Vorwurf: Gespräche mit Anwälten belauscht
Laut des „Rechtshilfekollektivs Chemie Leipzig“, das die Leutzscher Fans bei juristischen Auseinandersetzungen berät, sollen neben den Fans, ihren Familienangehörigen, Freunden, Arbeitskollegen, Ärzten, Funktionären, Journalisten und Politikern sogar Anwälte in den Radius der Überwachungen gekommen sein. „Gespräche mit AnwältenInnen, Kanzleibüros, dem deutschen Konsulat in Prag oder anderen Institutionen wurden dokumentiert und akribisch ausgewertet“, heißt es dazu in einer Stellungnahme des Vereins vom Dienstag.
Ausgangspunkt der Überwachungen waren laut Staatsanwaltschaft verbale und tätliche Angriffe auf Rechtsextreme in den Jahren 2012 bis 2014 in der Messestadt. Die Behörden, inklusive der Ermittlungsgruppe INES, gingen davon aus, dass diese Attacken von einer kriminellen Vereinigung in der linken Szene durchgeführt wurden. Um die Vorwürfe laut Paragraph 129 des Strafgesetzbuches beweisen zu können, wurde nach einer solchen existierenden Gruppe gesucht. Merkmale von Gruppenverhalten entdeckten die Beamten dann unter Fußballfans – die sich bekanntlich auch in Fanclubs organisieren und dort gemeinsamen Interessen nachgehen.
Behörden hatten zwei Fangruppen im Fokus
Ob sich die Aufnahmegeräte der Ermittler letztlich in Richtung Chemie Leipzig richteten, weil die dortige Fanszene auch als antirassistisch und gegen Rechtsextremismus bekannt ist, bleibt unklar. Sicher ist aber: Explizit zwei Fanclubs bei Chemie Leipzig wurden in ihren Fokus genommen, sagte Steffen Kröner, Geschäftsführer des Leipziger Fanprojekt-Trägers Outlaw gGmbh. 14 Hauptverdächtige wurden identifiziert – darunter auch der Fanbetreuer. Deren Telefone wurden zum Teil über mehrere Monate angezapft, Gespräche und andere Kommunikationen mitgeschnitten und dabei auch die Gesprächspartner in die Ermittlungen aufgenommen. Gegen sieben Verdächtige seien sogar Observationsbeschlüsse durchgesetzt worden. Zudem kam es Ende Dezember 2013 und im Februar 2014 auch zu zwei Funkzellenabfrage an zwei nicht näher genannten Tatorten – bei denen aber keiner der Überwachten festgestellt werden konnte, erklärte Gemkow.
Auch alle anderen, jahrelangen Ermittlungen gegen die 14 hauptverdächtigen Chemie-Fans und 226 weiteren Personen aus ihrem Umfeld verliefen letztlich ohne Ergebnis. Insgesamt 177 Bürgern sei deshalb Ende 2016 per Brief mitgeteilt worden, dass die Ermittlungen gegen sie eingestellt wurden. Bei der Differenz – immerhin 63 Personen – konnten angeblich keine aktuellen Anschriften ermittelt werden, so der sächsische Justizminister weiter. Diese wissen bis heute nicht, dass ihre Telefongespräche Teil von Ermittlungen geworden waren. Nach Aussage des Justizministers wurden die Daten zum Jahresende 2016 gelöscht.
Von Matthias Puppe