Prozess gegen früheren SS-Sanitäter - Nichts geht mehr

Erstveröffentlicht: 
10.04.2017

Das Verfahren gegen einen ehemaligen SS-Sanitäter am Landgericht Neubrandenburg steht vor dem Aus, ehe er richtig begonnen hat. Die Nebenkläger werfen der Kammer Rechtsbeugung vor - und haben Anzeige erstattet.

 

Von Benjamin Schulz

 

Ein Verteidiger, der das Verfahren gegen seinen Mandanten als Schauprozess bezeichnet. Eine Staatsanwaltschaft, die angesichts des Verhaltens der Strafkammer um Fassung ringt. Ein Gericht, das die Kritik an seiner Arbeit nicht versteht. Hubert Z., ein hochbetagter Angeklagter, dem wegen seiner Rolle in der NS-Zeit der Prozess gemacht werden soll. Und nun Nebenkläger, die drei Berufsrichtern Rechtsbeugung vorwerfen und deshalb gegen sie Anzeige erstattet haben: Was sich unter dem Aktenzeichen 60 Ks 1/15 am Landgericht Neubrandenburg abspielt, ist längst kein gewöhnlicher Strafprozess mehr.

 

Im Zentrum des Konflikts steht Klaus Kabisch, Vorsitzender der 60. Schwurgerichtskammer, die für das Verfahren zuständig ist. Die Anzeige stammt von Thomas Walther und Cornelius Nestler, Anwälte der Brüder Walter und William Plywaski, deren Mutter 1944 in Auschwitz ermordet wurde.

 

Walther und Nestler sind der Ansicht, das Gericht erfülle nicht seinen gesetzlichen Auftrag. Stattdessen schikaniere und missachte es die Plywaskis als Nebenkläger. Durch Rechtsbeugung werde versucht, sie aus dem Verfahren zu drängen.

 

"Erneute Rechtsverweigerung gegenüber dem Nebenkläger"


Die Anzeige bezieht sich auf eine Entscheidung des Landgerichts. Es hatte die Zulassung Walter Plywaskis als Nebenkläger schon einmal abgelehnt; das Oberlandesgericht Rostock (OLG) kippte diese Entscheidung. Die Generalstaatsanwaltschaft kommentierte, "die Hartnäckigkeit, mit der die Kammer berechtigte Belange der Nebenkläger negiert", zeige, dass sie nicht bereit sei, "in richterlicher Unbefangenheit zu verhandeln und zu entscheiden".

 

Nun, da das Verfahren von vorn beginnen muss, weil die Richter sich außerstande sahen, fristgerecht auf Befangenheitsanträge zu reagieren, widerrief die Kammer die Zulassung Walter Plywaskis als Nebenkläger erneut, nannte aber keine neuen Gründe - und wurde erneut vom OLG korrigiert.

 

"Das war nicht nur eine erneute Rechtsverweigerung gegenüber dem Nebenkläger, sondern auch die erklärte Missachtung der Entscheidungen des Oberlandesgerichts Rostock. Wir halten diesen Beschluss für einen klaren Akt der strafbaren Rechtsbeugung und haben deswegen Strafanzeige gestellt", heißt es von Walther und Nestler. Das Landgericht habe bewusst die Entscheidung des OLG missachtet, das sei ein Skandal.

 

"Schlag ins Gesicht der deutschen Gerichtsbarkeit"


Eine Anzeige gegen den Vorsitzenden Richter einer Strafkammer? Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Aber in diesem Verfahren überrascht er kaum.

 

Hubert Z., Jahrgang 1920, wird Beihilfe zum Mord in mindestens 3581 Fällen vorgeworfen. Er soll von Mitte August 1944 einen Monat lang in Auschwitz-Birkenau als SS-Sanitäter stationiert gewesen sein. Durch seine Tätigkeit soll er den industriellen Massenmord unterstützt haben.

 

Zentral für das Verfahren ist die Frage nach Z.s Verhandlungsfähigkeit. Ist er einem Strafverfahren körperlich und geistig gewachsen? Wenn das Gericht diese Frage verneint, braucht man sich über Schuld und Auschwitz im Fall Hubert Z. nicht mehr zu unterhalten. Dann wird dem Mann kein Prozess gemacht.

 

Danach sieht es momentan aus. Der Fall liegt in den Händen der 60. Schwurgerichtskammer unter dem Vorsitzenden Richter Klaus Kabisch. Ihr Umgang mit dem Verfahren hat dem Gericht viel Kritik eingebracht. Der Eindruck verfestigte sich, die Kammer halte nichts von einem Prozess gegen Z. - und wolle das Verfahren abwürgen, bevor überhaupt die Anklageschrift verlesen wird.

 

Es gibt aber auch eine andere Sichtweise. Für Hubert Z.s Verteidiger Peter-Michael Diestel ist es "ein Skandal, eine Schande und ein Schlag ins Gesicht der deutschen Gerichtsbarkeit", dass das Verfahren überhaupt läuft. Es werde einem Greis nachgestellt - Jahrzehnte, nachdem die deutsche Justiz die Hauptverantwortlichen für Auschwitz freigesprochen oder Bagatellstrafen verhängt habe.

 

Diestels Kritik an der fehlenden Aufarbeitung der NS-Zeit durch die Justiz ist berechtigt. In der Nachkriegszeit wollte man die Naziherrschaft lieber vergessen - oder Altnazis an entscheidenden Stellen in Staatsanwaltschaften und Gerichten ließen Prozesse ins Leere laufen.

 

Der Fehler, NS-Verbrecher davonkommen zu lassen, dürfe sich nicht wiederholen, meint dagegen Nebenklage-Anwalt Walther. Für ihn und seine Kollegen besteht der Justizskandal im Fall Z. darin, dass die Kammer ihrer Ansicht nach den Prozess blockiert.

 

Oberlandesgericht kippte mehrere Entscheidungen aus Neubrandenburg


Um zu verstehen, warum die Seiten sich so erbittert gegenüberstehen, muss man zwei Jahre zurückblicken. Die Kammer hatte Z. 2015 für nicht verhandlungsfähig befunden. Darauf lehnte die Staatsanwaltschaft Kabisch wegen Befangenheit ab.

 

Das Landgericht Neubrandenburg beraumte das Verfahren erst nach Intervention des Oberlandesgerichts (OLG) Rostock an. Ende Februar 2016 wurde tatsächlich verhandelt. Hubert Z. erschien nicht vor Gericht. Er sei krank, hieß es - die Sache wurde vertagt. Das bestätigte Kritiker in der Überzeugung, das Gericht wolle das Verfahren möglichst schnell beerdigen.

 

Mitte März 2016 setzte das Landgericht den Prozess aus. Ärzte sollten genug Zeit bekommen, sich von Z.s Gesundheitszustand ein umfassendes Bild zu machen; die Staatsanwaltschaft sprach von einer "Inszenierung der Verteidigung". Sie hätte anfügen können: unter Regie der Kammer.

 

Es dauerte bis Mitte September, ehe sich die Beteiligten wieder in Neubrandenburg trafen. Wieder machte Kabischs Verhalten den Eindruck, dass er nichts von dem Verfahren hält.

 

"Dieses Gericht will nicht, es sabotiert die Beweisaufnahme"


Es gab weitere Befangenheitsanträge; aus dem Gericht ist zu hören, dass diese Kaskade an Eingaben den gesamten Prozess erheblich verzögere. Man brauche Zeit, um alles zu bearbeiten.

 

Um den Regeln der Strafprozessordnung zu genügen, hätte die Kammer bis zum 10. Oktober 2016 auf die Anträge reagieren müssen. Das geschah nicht, damit war der Prozess vorerst geplatzt. Nebenklagevertreter Walther kommentierte: "Dieses Gericht will nicht, es sabotiert die Beweisaufnahme."

 

Nebenbei lieferte sich Walther mit dem Gericht noch ein juristisches Scharmützel über einen Vorschuss, um zu seinem Mandanten in die USA reisen zu können. Man könne doch über alles per Skype reden, schlug Kabisch vor - und lehnte ab. Auch hier kippte das OLG seine Entscheidung.

 

In einem Brief schrieb Walter Plywaski: "Ein deutscher Richter, der die Vorstellung hat, ich könnte so leicht über Auschwitz sprechen wie ein Manager der Deutschen Bank mit seinen Kollegen in Boulder oder Schanghai, hat nichts von den höllischen Qualen der Überlebenden von Auschwitz verstanden."

 

"Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Fall nicht wieder losgehen wird"


Nun, nach weit mehr als einem Jahr juristischem Hickhack, steht das Verfahren offiziell wieder vor einem Neuanfang. Tatsächlich steht es vor dem Aus.

Das Gericht hat zwei Experten, darunter einen forensischen Psychiater, damit beauftragt, Z. zu überprüfen, so, wie es diverse Ärzte zuvor getan haben. Die Einschätzung der Experten soll bis Ende April vorliegen. Anhand des Gutachtens entscheidet die Kammer, ob sie Z. für verhandlungsfähig hält.

 

Falls ja, müsste sie Termine ansetzen. Das kann dauern. Und aus Sicht der Staatsanwaltschaft und Nebenklage drängt die Zeit, schließlich ist Hubert Z. 96 Jahre alt.

 

"Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Fall nicht wieder losgehen wird", sagt Z.s Verteidiger Diestel. Das ist einer der wenigen Punkte, in denen er und die Nebenklage-Vertreter einer Meinung sein könnten.