Das Leben im Wagen wagen Man muss schon etwas Glück haben, um die Würzburger Wagenmenschen in ihren mobilen Domizilen zu erwischen. Sie haben Jobs, studieren, sind tagsüber unterwegs, wie die eben meisten von uns. Wenn man sie aber antrifft, kann man einiges von den Machern des Projekts Wagenleben Würzburg lernen.
Zum Beispiel diese zehn Lektionen über die Freiheit.
Lektion 1: Selbst die Freiheit braucht ein festes Zuhause.
Sie wollen die ganz große Freiheit, wollen jederzeit dorthin gehen,
wohin sie möchten. Immer auf Achse, immer zum Sprung bereit, immer
unabhängig – das ist der Traum, den die Wagenkolonne zu leben versucht.
Dafür brauchen sie einen festen Standort, sagen die
Freiheitsidealisten. Einen, den sie jederzeit verlassen können, zu dem
sie aber vor allem immer wieder zurückkehren können.
Lektion 2: Freiheit ist keine Frage von Quadratmetern
Das Zuhause von Wolle ist knallblau und es heißt Biber. Biber ist
ein zum Wohnwagen umgebauter VW-Bus. Biber ist vier Jahre älter als
sein Besitzer, mit 30 Jahren also ein frischgebackener Oldtimer.
„Ich muss Biber nur zwei Meter bewegen und schon habe ich einen
komplett anderen Blick aus dem Fenster“, sagt der 26-jährige Wolle, der
laut Pass anders heißt.
Er will wie seine Wagen-Kollegen aber mit seinem Szene-Namen genannt
werden. Wolle sitzt auf der selbst eingebauten Klapp-Couch, im hinteren
Teil seines Busses.
Die Wände und Schränke sind mit Fotos beklebt. Aufnahmen vom
Wagenfenster aus geschossen: französische Berglandschaften, Blicke aufs
Meer, geknipst als Wolle die spanischen Küsten bereiste, Schnappschüsse
vom Main, mit Schilfrohr und vorbeifahrenden Schiffen.
Eine Panorama-Vielfalt, die eine Eigentumswohnung ihm niemals hätte
bieten können. „Jeder Ort ist schön, aber nur für eine gewisse Zeit“,
sagt Wolle. Die Freiheit, losfahren zu können, wann und wohin man will,
das fahrende Heim nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, ohne auf
Mietvertragsklauseln achten zu müssen, ein schnörkelloses,
ressourcenschonendes Leben zu führen – das alles macht für ihn das
Wagenleben aus.
„Hippie“, diese Schublade geht in vielen Köpfen auf, wenn Wolle von
seiner mobilen Wohnung erzählt. Nur: Das Hippie-Klischee passt nicht so
recht zu ihm. Wolle ist rasiert, trägt glattes, schulterlanges Haar.
Zugegeben, die Wohnform sei hippieähnlich, aber mit den politischen
oder spirituellen Ambitionen der Blumenkinder habe er nichts am Hut.
Wolle verdient sein Geld als Computerexperte, der für Firmen Homepages
erstellt und andere IT-Probleme für sie löst. Das Know-How hat er sich
selbst angeeignet. Wieder in einer ganz normalen Wohnung leben?
Nach einem Jahr im Wohnwagen, wäre das für ihn „unvorstellbar“, sagt
er. „Zu unfrei, zu eng, zu beklemmend.“ Dem zieht er die neun
Quadratmeter im Wohnwagen vor.
Lektion 3: Freiheit braucht lebendige Vorbilder
Ein Jahr ist es her, dass Wolle den Schritt gewagt hat, dass er
seine Wohnung gekündigt, Biber gekauft hat und mit Sack und Pack in den
Wagen gezogen ist. Der Auslöser, dem bürgerlichen Leben den Rücken zu
kehren, war eine zufällige Begegnung im November 2008.
Was als harmloser Party-Small-Talk zwischen Bier und Pizza begann,
sollte für Wolle zu seiner ganz privaten Offenbarung werden. „Ich war
auf einer WG-Party im Steinbachtal eingeladen, trank mein Bier und kam
mit Tom, einem jungen Rastamann ins Gespräch.
Er erzählte mir, dass er, seitdem er 14 ist, mit seinen Eltern auf dem
Campingplatz Kalte Quelle in Würzburg lebt“, erinnert sich Wolle. Tom
erzählt ihm noch mehr.
Davon, wie er sich mit 16 Jahren einen eigenen Bauwagen kaufte, wie er
ihn mit Küchenhexe und Holzofen ausstaffierte. Und wie er drei Jahre
später einen Mercedes-Bus ummodelte. „Wir gingen noch am selben Abend
nach draußen, wo er mir seinen Wagen vorstellte. Ich war fasziniert. Da
war alles vorhanden, was man braucht.“
„Die mobile Lebensweise hatte mich seit meiner Kindheit begeistert.
Als 12-Jähriger ging ich in Lohr an der Mainlände spazieren, sah einen
umgebauten Lkw und dachte mir: Das ist einfach genial, so will ich auch
mal leben.“
Es blieb ein Kleiner-Jungen-Traum. Wolle wurde älter und größer, sein
Mut, den Traum tatsächlich zu leben, von Jahr zu Jahr kleiner.
Bis zu eben jenem November-Abend: „In Toms Mercedes-Bus, dem in
Würzburg stadtbekannten 'Schleppi', sah ich meine Vorstellungen in die
Tat umgesetzt. Ich wusste plötzlich, dass ich meinen Traum
verwirklichen kann, dass es kein Hirngespinst ist.“
Danach zögerte Wolle nicht länger: Vier Monate später zieht der
Lehrersohn in seinen VW-Bus namens Biber und schließt sich Tom an.
Lektion 4: Freiheit ist ansteckend
Die Reaktionen auf Wolles Entscheidung reichten von ungläubigem
Abwinken bis zu sorgenvollem Kopfschütteln. „Meine Eltern hatten große
Angst. Sie waren der Meinung, das sei der Anfang meines Absturzes.“
Andere wiederum hielten ihn einfach für verrückt. Anerkennung für
seinen Mut, gab es in dieser Zeit nicht. „Erst als meine Eltern mich im
Wagen besucht haben und gesehen haben, dass das Leben dort
funktioniert, und wie frei ich dadurch bin, haben sie ihre Meinung
geändert.“
Die Wagenkolonne wächst stetig, das Projekt Wagenleben Würzburg
entsteht. Noch im gleichen Monat schließt sich Jongleur und
Feuerkünstler Mansen, 27, den beiden an. Mansens WG hatte sich
aufgelöst und die Würzburger Mietpreise waren ihm zu hoch.
Im April kommt Lehramtsstudentin Lui, 23, eine Freundin von Wolle, hinzu. Im Mai sind es bereits sechs Wagen.
Nach und nach entwickelt sich so Unterfrankens einzige Wagenkolonne.
Zumindest wissen weder die Stadt Würzburg noch Wolle und seine Freunde
von anderen, dabei ist die Szene dank mobilem Internet sehr gut
vernetzt. Laut Wolle gibt es noch eine in München und deutschlandweit
nach Informationen der Wagen-Community
www.wagendorf.de
rund 35 sogenannter Wagendörfer. Die Hauptstadt des Wagenlebens ist
Freiburg, dort leben etwa 40 Menschen dieses alternative Leben.
Lektion 5: Freiheit ist manchmal unbequem
Seit Januar 2010 hat sich die Wagenkolonne auf dem Landfahrerplatz
in Heidingsfeld niedergelassen. Der ist als Quartier zum Beispiel für
Sinti und Roma gedacht, wenn sie in Würzburg Station machen wollen. Bis
Ende April hat die Stadt der Wagenkolonne erlaubt, dort den Winter über
zu campieren.
Der hatte es bekanntlich in sich, forderte das Improvisationstalent der
Wagenbewohner. „Luxus hängt von der Sonne ab“, sagt Wolle. Die
Stromversorgung sichert er mit Solarzellen, die er auf dem Wagendach
installiert hat.
Über ein selbstentwickeltes System speist er den Strom direkt in die
Autobatterie, hält damit Geräte wie Laptop und Licht am Laufen. „Im
Winter ist Sparen angesagt.“ Dauert das Aufladen der Batterie derzeit
nur wenige Stunden, zog sich das im Winter vier bis fünf Tage hin.
Auch Wasser musste täglich neu herangeschafft werden. Der
200-Liter-Tank von Biber war im Winter nutzlos: Das gefrorene Wasser
hätte den Behälter gesprengt. Das Nass organisierten sie sich deshalb
in öffentlichen Toiletten, wo sie 15-Liter-Kanister auffüllten.
Für Wärme sorgte ein Gasofen. Trotz des spartanischen und aufwendigen
Lebens, ist Wolle zu frieden: „Ich hatte mir den Winter im Wagen
schlimmer vorgestellt.“
Lektion 6: Freiheit macht aus Fremden Freunden
Menschen, die unfreiwillig mit viel weniger auskommen müssen,
begegnen den Profi-Vagabunden allenthalben. Etwa im Dezember, als
nachts bei zehn Grad unter Null am Stadtstrand ein alter Fiat Uno neben
ihnen parkt.
Darin übernachteten vier osteuropäische Straßenmusiker. Oder der
Obdachlose, der ihren Weg ein paar Tage später kreuzte. „Ihr seid die
High-Society des Straßenlebens. Ihr lebt 20 Zentimeter über dem
Asphalt“, sagte er zu ihnen und lachte laut über seinen Witz.
Diese Begegnung hat Wolle beeindruckt: „Wenn man lebt wie wir, wenn man
bei klirrender Kälte auf Parkplätzen übernachtet oder an öffentlichen
Toiletten sein Wasser holt, kommt man mit Menschen in Kontakt, denen
man sonst wohl nie begegnet wäre“, sagt er.
Lektion 7: Freiheit hilft, Stress zu vermeiden
Wenn alle der Würzburger Gruppe auf einem Platz versammelt sind,
also keiner auf Reisen ist, parken die bunt Wohnmobile in einer
Viereckformation.
Den Innenplatz nennt Wolle „Atrium“. Neben dem blauen Biber, den ein
Regenbogen ziert, steht dann der „Streifenwagen“ von Mansen. Der heißt
so, weil Mansen seinem weißen Gefährt einen Streifen in Polizeigrün
verpasst hat. Auffällig sind auch die Sprüche auf den Gefährten.
„Wagenleben, Leben wagen“, steht auf Toms Bus. Lui hat „Einfach Leben“
an ihr Wohnmobil gepinselt.
Die Atmosphäre ist familiär: Abends versammeln sich die Wagenmenschen
im Atrium, in einem Stahleimer brennt ein Feuer. Freunde sind
vorbeigekommen, man grillt, unterhält sich, trinkt ein Feierabend-Bier.
„Wir sehen uns als mobile WG“, sagt Wolle.
Im Unterschied zu einer herkömmlichen WG hat ihre einen großen Vorteil:
„Wir haben weniger Stress miteinander. Streitereien, weil einer den
Putz-Plan nicht eingehalten hat, kann es bei uns gar nicht geben. Jeder
hat seinen eigenen sanitären Bereich und seine Küche. Jeder für sich
ist ein Selbstversorger“, erklärt Wolle.
Mag es innerhalb der Gruppe harmonisch zugehen – von März bis
September des vergangenen Jahres kam die Wagenkolonne nicht zur Ruhe.
Permanent gab es Zoff mit den Behörden. Ob Polizei oder Ordnungsamt,
Kontrollen gehörten in der Anfangszeit zum Alltag der Wagenmenschen.
Damals tingelte die Gruppe von Parkplatz zu Parkplatz.
Denn die Regel besagt: Man darf drei Tage auf einem öffentlichen
Parkplatz verweilen, dann muss man den Standort wechseln. Aber:
Offiziell ist es nicht erlaubt, im Fahrzeug zu übernachten. „So haben
Beamte es uns erklärt“, sagt Wolle.
„Wenn die Polizei wusste, wo wir standen, fuhr sie zumindest einmal
nachts vorbei, um nach dem Rechten zu sehen“, sagt er. In Bayern fühle
man sich als Wagenmensch ohnehin stark kontrolliert, so Wolle.
In anderen Bundesländern sei man da entspannter. „Als wir eine
Wagenkolonne in Hessen besuchten, kamen Feuerwehr und Polizei, weil sie
ein herrenloses Feuer vermutet hatten. Als sie aber sahen, dass die
Jungs vom Wagendorf das Feuer gemacht haben, war die Sache für sie
okay.“
Für die Würzburger wird das Katz- und Mausspiel mit den Behörden
immer mehr zur Belastungsprobe. Eine kurze Verschnaufpause legen sie
auf einem kostenlosen Campingplatz in Thüngersheim ein, auf dem sie
sich für ungefragt niederlassen.
„Die Situation war aber so erdrückend für uns, dass wir Anfang August
auf Reise gingen, die Mittelmeerküste ab Frankreich bis in die Gegend
von Barcelona“, sagt Wolle.
Lektion 9: Freiheit braucht mächtige Freunde
Mitte September 2009 kehrt die Wagenkolonne nach Würzburg zurück,
stellt sich aufs Gelände des früheren akw!. Doch nach wenigen Tagen
muss die Gruppe das Feld wieder räumen.
Der Hausmeister ist mit der Besetzung ganz und gar nicht einverstanden.
Das Katz- und Mausspiel geht weiter. Die Gruppe übernachtet auf
Parkplätzen, sucht derweil nach einem festen Platz, von dem sie nicht
verscheucht werden kann.
Sie inserieren in Zeitschriften und im Internet. Sich auf einem
kostenpflichtigen Campingplatz niederzulassen, sei keine Option. „Die
wollen uns nicht“, sagt Wolle. „Wenn die Betreiber unsere bunten Wagen
sehen, ist die Sache schon erledigt.“
Zufällig stolpert die Würzburger SPD-Stadträtin Gisela Pfannes über
eine der Anzeigen. Sie macht sich für die Gruppe stark, spricht mit
Alexander Hofmann, dem Fachbereichsleiter für allgemeine Bürgerrechte
und kommunale Ordnung.
Hofmann skizziert das Problem so: „Dauerhaftes Campen auf öffentlichen
Plätzen ist problematisch. Die Plätze sind zweckbestimmt, eine
dauerhafte, anderweitige Nutzung wäre eine Sondernutzung. Außerdem ist
die Stadt zum Wirtschaften gezwungen.
Es dürfte schwierig werden, einen dauerhaften Gratis-Stellplatz zu
finden.“ Im September nimmt Hofmann erstmals Kontakt zu der
Wagen-Gruppe auf. „Die Wagenbewohner haben sich kooperativ gezeigt“,
erinnert er sich.
„Ich schätze sie als anständig ein. Deswegen stand für mich eine faire
Behandlung – ohne unnötige Bürokratie – im Vordergrund.“ Anfangs
erlaubt die Stadt der Wagenkolonne, sich auf der Talavera
niederzulassen. Nach der Winterpause auf dem Landfahrerplatz sind die
Wagenmenschen aber wohl wieder aufs Rumtouren angewiesen.
„Eine Möglichkeit könnte sein, sie vorrübergehend auf der Talavera
unterzubringen. Langfristig müssen wir uns aber absprechen und schauen,
welche Parkplätze sie wann und wie lange nutzen können. Eine endgültige
Lösung ist noch nicht in Sicht“, sagt Hofmann.
Noch ein Gutes hat der Kontakt mit der Stadt gebracht: Seitdem gibt es
keine Probleme mehr mit Ordnungsamt und Polizei, sagt Wolle.
Lektion 10: Freiheit ist eine Frage der Organisation
Um ihrem Ziel von einem festen Stellplatz näher zu kommen, sollen
die Wagenbewohner ein Konzept erarbeiten, in dem sie erklären, wie sie
ihr Anliegen umsetzen wollen, auch eine kulturelle Plattform zu sein.
Auf ihrer Homepage schreiben sie: „Unser Wagenplatz soll nicht nur ein
Platz für uns zum Leben sein.
Es sollen auch kulturelle Angebote wie Theater, Kino, Volksküche und
andere Veranstaltungen stattfinden. Neben handwerklichen und kreativen
Workshops sind vielfältige musikalische Projekte in Planung..“ Bislang
liege das Konzept noch nicht vor, sagt Hofmann.
„Wir arbeiten daran“, sagt Wolle. Derzeit ist die Gruppe allerdings
mit anderem Organisationskram beschäftigt: Das erste
Wagenplatz-Festival ist in der Mache: Von Freitag bis Sonntag (30.
April bis 2. Mai) soll es Musik von Drum‘n‘Bass über Ska-Punk bis
Reggae geben.
Auf dem Platz in Heidingsfeld würde das nicht funktionieren – zu wenig
Fläche, zu viele Nachbarn. „Wir gehen nach Gadheim bei Veitshöchheim.
Da hat ein Freund ein Grundstück im Wald“, sagt Wolle. Zig Leute aus
der Szene haben schon ihren Besuch angemeldet.
Da ist Organisationstalent gefragt. Womöglich ist das Festival ja ein
guter Ideengeber für das noch ausstehende Kultur-Konzept. Wenn das
überzeugt, könnten die Wagenmenschen vielleicht schon bald ein festes
Zuhause haben. Eines, zu dem sie auf ihrer Suche nach der Freiheit
immer wieder zurückkehren können.
Mehr Infos im Internet:
www.wagenplatz.tk