Fünf Jahre nach NSU-Enttarnung: "Aus den Fehlern wenig gelernt"

Erstveröffentlicht: 
03.11.2016

Rassismus und rechte Gewalt in Deutschland: Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung der NSU-Terrorzelle ziehen 40 Autoren mit ausländischen Wurzeln in einem Buch Bilanz. Der Kölner Orhan Mangitay ist einer von ihnen. Er glaubt, dass die Bundesrepublik wenig dazu gelernt hat.

 

Am 4. November 2011 enttarnte sich der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) selbst. Eine der ihm zugerechneten Taten ist der Nagelbomben-Anschlag 2004 in der Kölner Keupstraße. Dort ist im Oktober vergangenen Jahres die Idee für ein Buch entstanden. Der Titel: "Die haben gedacht, wir waren das." Unter den 40 Autoren mit Migrationshintergrund sind Politiker, Journalisten, Wissenschaftler und Akteure antirassistischer Arbeit, die Anhänger von CDU, SPD, Grüne und der Linken sind. Ein Gespräch mit Mitherausgeber Orhan Mangitay.

 

WDR.de: Herr Mangitay, in der Einleitung des Buches schreiben Sie als Mitherausgeber: "Gerade am 5. Jahrestag der Aufdeckung der NSU-Morde zeigt sich erneut neben Wut auch Betroffenheit." Fühlen sich die Migranten noch immer allein gelassen?

 

Orhan Mangitay: Es gibt unter Migranten das weitverbreitete Gefühl, nicht wirklich Teil dieser Gesellschaft zu sein. Ein möglicher Grund dafür sind Ausgrenzungserfahrungen im persönlichen Bereich. Dazu gehört unter anderem die Erfahrung, in der Schule nicht angemessen gefördert worden zu sein. Aber auch im Zusammenhang mit den Ereignissen rund um den NSU haben Leute mit Migrationshintergrund das Gefühl: Wir sind irgendwie nicht gewollt. Nach dem Anschlag in der Keupstraße wurden zum Beispiel V-Männer auf die ausländisch stämmigen Anwohner angesetzt. Solche Maßnahmen verunsichern die Betroffenen. Es gibt eine Vertrauenslücke.

 

WDR.de: Also finden Sie, dass die Bundesrepublik aus den Fehlern rund um den NSU nichts gelernt hat?

 

Mangitay: Eigentlich wäre der NSU-Komplex für die gesamte Gesellschaft eine Aufforderung, mit der Einwanderungspolitik ernst zu machen und Menschen mit Migrationsgeschichte mehr Teilhabe und Zugehörigkeit zuzugestehen. Die bisherige Umgang mit dem Thema zeigt aber, dass aus den Fehlern bislang sehr wenig gelernt wurde.

 

WDR.de: Sie sprechen in der Einleitung von "Machenschaften des 'tiefen Staates'". Was verstehen Sie darunter?

 

Mangitay: Der Ausdruck "tiefer Staat" ist eine Zuspitzung. Er verweist auf das ungeklärte Verhältnis von V-Leuten des Verfassungsschutzes und dem rechtsextremen Netzwerk, das den NSU getragen hat. Tatsächlich gibt es in Deutschland derzeit keine Belege für einen Staat im Staat, sondern nur Spekulationen darüber. Dennoch gibt es einen gewissen Grad an Verwobenheit von Verfassungsschutz, V-Männern und Attentätern. Eine Aufklärung ist bis heute nicht gelungen. Es wurden Akten vernichtet, mehrere Zeugen starben vor ihrer Vernehmung. Das sind Situationen, aus denen sich Fragen ergeben.

 

WDR.de: Glauben Sie denn, dass es den NSU ohne die Unterstützung durch Verfassungsschutz und V-Männern nicht gegeben hätte?

 

Mangitay: Es wäre fatal zu behaupten, dass es den NSU ohne die Unterstützung durch Verfassungsschutz und V-Männern nicht gegeben hätte. Der militante Rechtsextremismus und der Rechtsterrorismus stützen sich auf den Nährboden von rassistischen und diskriminierenden Praktiken, die ihre Wurzeln in der Mitte der Gesellschaft haben. Es ist daher davon auszugehen, dass durch die Unterstützung seitens des Verfassungsschutzes und der V-Männer der NSU einen Schutz hatte und damit seine Gewalttaten einfacher verbreiten konnte.

 

WDR.de: Der Titel des Buches lautet "Die haben gedacht, wir waren das". Wer sind "die", wer sind "wir"?

 

Mangitay: Der Titel spielt auf die Oper-Täter-Umkehr an: Bei den Ermittlungen der Taten, die später dem NSU zugerechnet werden konnten, war es oft so, dass die Opfer und ihre Angehörigen zu Tatverdächtigen gemacht wurden. Die Behörden haben sie kriminalisiert.

 

Mit "wir" ist die migrantische Minderheitsgesellschaft gemeint, "die" bezieht sich auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Diese Ihr-Wir-Unterscheidung soll auch provozieren und die Augen öffnen.

WDR.de: Inwiefern?

 

Mangitay: Migranten sind im gesellschaftlichen Diskurs einer starken Ihr-Wir-Dichotomie ausgesetzt. Dieser Umstand wird im Buchtitel aus Sicht der Migranten gespiegelt. Letztlich muss es jedoch das Ziel sein, diese ausgrenzende Perspektive auf beiden Seiten zu überwinden und ein gemeinsames Wir aufzubauen.

 

WDR.de: In Ihrem Aufsatz sprechen Sie von einem "Rechtsruck der gesellschaftlichen Mitte". Worin besteht dieser?

 

Mangitay: Mehrere Studien haben festgestellt, dass es in der deutschen Gesellschaft schon seit längerem einen rechten Bodensatz gibt. Dieser wird mit 15 bis 20 Prozent beziffert. Die Flüchtlingsbewegung hat bei diesen Menschen wie ein Katalysator gewirkt. Sie artikulieren und organisieren sich nun, unter anderem in der AfD. Diese Partei zieht in immer mehr Landtage ein und wirkt vom rechten Flügel in die Mitte. Diese Entwicklung ist allerdings nicht auf Deutschland beschränkt, es gibt sie auch in anderen Industriestaaten.

 

WDR.de: Woran machen Sie in Deutschland diesen Rechtsruck fest?

 

Mangitay: Das zeigt sich unter anderem an der Sprache. Frauke Petry von der AfD will zum Beispiel den Begriff "völkisch" positiv besetzen und damit Nazi-Vokabular wieder salonfähig machen. Da merkt man: Es werden wieder gewisse Grenzen überschritten. Das war vor zehn Jahren noch undenkbar. Den Boden dafür hat das SPD-Mitglied Thilo Sarrazin mitbereitet. Er hat schon vor Jahren so getan, als hätten Muslime ein minderwertiges Gen und wären deshalb dümmer. Auch hier wurde eine Ihr-Wir-Dichotomie aufgebaut und letztlich davon gesprochen, dass die Mehrheitsgesellschaft intelligenter sei als Muslime.

 

WDR.de: Sehen Sie die Gefahr eines neuen NSU?

 

Mangitay: Wir haben eine Phase, in der die gesellschaftlichen Diskurse viel polarisierender verlaufen werden und zunehmend durch Hass geprägt sind. Das ist natürlich ein Nährboden für eine Neuorganisation, Restrukturierung oder Reaktivierung einer Terrororganisation. Wenn wir jetzt nicht dagegen ankämpfen, besteht die Gefahr für eine solche Entwicklung.

 

WDR.de: Was muss Ihrer Meinung nach in diesem Land passieren, damit sich auch Migranten wohlfühlen?

 

Mangitay: Migranten müssen sich mit dieser Gesellschaft identifizieren können. Ansonsten besteht die Gefahr, dass ein Teil der Migrantinnen und Migranten sich von der Gesellschaft abwenden und religiöse Fanatiker werden oder sich dem Nationalismus ihrer Herkunftsländer zuwenden.

Unsere Aufgabe ist es, das Vertrauen der Migranten wieder zurückzugewinnen. Mit uns meine ich Demokratinnen und Demokraten, die für eine offene Gesellschaft einstehen - unabhängig von der Herkunft der Mitglieder. Die Konfliktlinie verläuft nicht zwischen Deutschen und Türken oder zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Sie verläuft zwischen Menschen, die eine freie Gesellschaft wollen und allen anderen, die diese ablehnen – ob das nun Anhänger rechter Gruppierungen oder fundamentalistische Islamisten sind.

 

Das Interview führte Dominik Reinle.