SPIEGEL-Gespräch mit Zygmunt Bauman: "Eine tief greifende Angst, dass das Überleben der Gesellschaft bedroht ist"

Erstveröffentlicht: 
07.09.2016

Flüchtlinge, Globalisierung, Terror: Verstehen Politiker die Ängste in der Bevölkerung überhaupt noch? Der große Denker Zygmunt Bauman erklärt die Migrationskrise - und warum die Regierenden sich so schwer mit Antworten tun. Ein SPIEGEL-Gespräch von Romain Leick

 

Zweimal in seinem Leben musste Bauman Polen verlassen: 1925 in Posen geboren, floh er mit seiner Familie bei Kriegsausbruch 1939 vor den Deutschen in die Sowjetunion. Als politischer Offizier kehrte er zurück. Nach seinem Studium lehrte er an der Universität Warschau Soziologie. 1967 trat er aus der Kommunistischen Partei aus, verlor anschließend seine Professur und emigrierte nach Israel, wo er 1971 überraschend einen Ruf an die University of Leeds erhielt. In zahlreichen Arbeiten ("Postmoderne Ethik", "Verworfenes Leben", "Flüchtige Moderne") analysierte er die Prekarität der Lebensverhältnisse in der globalisierten Gegenwart. Dabei prägte er den Begriff von der "liquiden", verflüssigten Moderne. Sein neuer Essay über Migration und Panikmache ("Die Angst vor den anderen") erscheint nächste Woche im Suhrkamp Verlag. Seit dem Tod seiner ersten Frau lebt Bauman in Leeds mit der Soziologin Aleksandra Kania, der Tochter des ehemaligen polnischen Parteichefs Bolesaw Bierut.


SPIEGEL: Herr Professor Bauman, Sie waren selbst Flüchtling. Was lösen die Schlagzeilen über die Migrationskrise, die Europa zu überwältigen droht, bei Ihnen aus?

Bauman: Ich fürchte, dass wir den Beginn eines enormen Ungleichgewichts erleben. Der sprunghafte Anstieg der an den Toren Europas anklopfenden Migranten, ein Ergebnis der wachsenden Zahl scheiternder oder bereits gescheiterter Staaten, schürt eine tief greifende Angst, dass das Wohl und sogar das Überleben der Gesellschaft bedroht sind. Und diese Panik schafft eine politisch explosive Gefühlslage, zumal die Politiker unbeholfen zwischen nicht zu vereinbarenden Bestrebungen schwanken: Abschottung und Integration.

 

SPIEGEL: Die Massenmigration wird wohl nicht so bald zum Stillstand kommen. Ist Europa zur Ohnmacht verurteilt, ist es sinnlos, sich mit Quoten und Obergrenzen gegen den Andrang zu stemmen?

 

Bauman: Weder werden die Ursachen der Massenwanderungen wegfallen, noch dürfte der wachsende Einfallsreichtum bei den Bemühungen, ihnen Einhalt zu gebieten, viel ausrichten.

 

SPIEGEL: Fatalismus kann sich die Politik aber auch nicht leisten.

 

Bauman: Die Lage ist unheilbar ambivalent. Panik, wie wir sie derzeit erleben, endet leicht in einem moralischen Debakel - in der Sünde der Gleichgültigkeit gegenüber den Tragödien und den Hilfeschreien der Leidenden. Schockierende Ereignisse verwandeln sich in die Routine der Normalität. Die Krise wird moralisch neutralisiert: Die Migranten und das, was mit ihnen geschieht oder was man mit ihnen macht, werden nicht länger unter ethischen Gesichtspunkten betrachtet. Sobald die öffentliche Meinung die Flüchtlinge als Sicherheitsrisiko begreift, stehen sie außerhalb des Bereichs der moralischen Verantwortung. Sie werden enthumanisiert, objektiviert, außerhalb des Raumes gestellt, in dem Mitgefühl und Solidarität als geboten empfunden werden.

 

SPIEGEL: Fördern die Sicherheitsobsession, die Islamophobie und der gesellschaftliche Ausschluss der Zuwanderer die Radikalisierung nicht erst recht auf beiden Seiten?

 

Bauman: Angst, Hass, Ressentiment und Ausgrenzung setzen eine sich selbst erfüllende Prophezeiung in Gang. Inklusion und Integration sind die stärksten Waffen des Westens. Es gibt keinen anderen Ausweg aus der Krise, in der die Menschheit sich befindet, als Solidarität. Die Entfremdung, die Barriere zwischen uns und den Fremden, den Etablierten und den Außenseitern, muss überwunden werden. Der erste Schritt dazu ist die Aufnahme eines Dialogs. Aus Fremden müssen Nachbarn werden.

 

SPIEGEL: Die Angst vor dem Fremden, dem Unbekannten, ist eine instinktive Reaktion, Kontaktvermeidung die Folge. Einheimische und Zuwanderer leben nebeneinander, nicht miteinander. Sie lassen sich nicht aufeinander ein.

 

Bauman: Es trennt sie eine unsichtbare Grenze des Schweigens. Soziale und physische Nähe waren lange Zeit in der Geschichte der Menschheit eng verbunden. Heute ist die Fremdheit zur permanenten Verfassung geworden. Das Problem moderner Gesellschaften kann nicht sein, wie Fremde zu eliminieren sind, sondern wie man in Nachbarschaft mit ihnen leben kann. Die Abstimmung zwischen physischer und sozialer Nähe ist gestört. Das ist eine völlig neue Situation: Die Fremdheit der Fremden ist nicht mehr eine vorübergehende Irritation. Die Fremden bleiben und weigern sich zu gehen, obwohl man insgeheim hofft, dass sie am Ende doch wieder verschwinden. Sie sind keine Gäste und keine Besucher, sie sind nicht wie ausgemachte Feinde, aber auch nicht wie bekannte Nachbarn. Sie bleiben Fremde, weil sie sich dem örtlichen Regelwerk, der lokalen Lebensweise zumindest teilweise entziehen und auf ihrer Eigenheit beharren.

 

SPIEGEL: Sie bleiben sichtbar, weil sie ihre Fremdheit und ihr Anderssein zum Beispiel durch Kopftuch und Schleier zur Schau tragen. Wie lässt sich der dem Begriff vom Fremden inneliegende Widerspruch überwinden, dass er bei uns, aber keiner von uns ist?

 

Bauman: Man muss sich die Lage des Flüchtlings, oder besser gesagt: seine Zwickmühle, vergegenwärtigen. Er verliert, weil er vor Not oder Gewalt flieht, seine Heimat, ohne eine neue zu gewinnen, denn er ist kein Auswanderer. Flüchtlinge hängen in einem luftleeren Raum, sie sind eigentlich weder Sesshafte noch Nomaden. Sie eignen sich hervorragend für die Stigmatisierung, für die Rolle der Strohpuppe, die man stellvertretend für die globalen Kräfte des Unheils verbrennt.

 

SPIEGEL: Die unkontrollierte Zuwanderung verkörpert den Zusammenbruch der Ordnung. Diese Neuankömmlinge, für deren Entwurzelung wir uns nicht verantwortlich fühlen, gemahnen uns an unsere eigene Verwundbarkeit, an die Zerbrechlichkeit unseres Wohlstands?

 

Bauman: Der Flüchtling ist, wie Bertolt Brecht in seinem Gedicht "Die Landschaft des Exils" schrieb, ein Bote des Unglücks. Er bringt die schlechten Nachrichten, die Konflikte und Stürme aus der Ferne vor unsere Haustür. Er führt uns vor Augen, dass es globale, nicht leicht vorzustellende Kräfte gibt, die weit draußen wirken, aber mächtig genug sind, auch unser Leben zu beeinträchtigen.

 

SPIEGEL: Wird in der Fremdenfeindlichkeit der Bote für die Botschaft verantwortlich gemacht? Gegen die schwer zu fassenden Kräfte der Globalisierung können wir ja wenig unternehmen.

 

Bauman: Den Flüchtling trifft ein umgeleiteter Zorn. Der Sündenbock erleichtert das beunruhigende und demütigende Gefühl unserer Hilflosigkeit und existenziellen Unsicherheit, dem wir alle in der flüssigen Moderne ausgesetzt sind. Das ist die Chance der politischen Stimmenfänger, Kapital zu schlagen aus den Ängsten, die der Zustrom der Fremden auslöst. Die aufgestaute Angst vor dem Unbekannten sucht nach Ventilen. Das Versprechen, die unerwünschten Ausländer draußen zu halten, ist eine Art Exorzismus - das Furcht einflößende Gespenst der Ungewissheit soll ausgetrieben werden.

 

SPIEGEL: Der populistische Politiker ist ein Scharlatan und ein Schamane?

 

Bauman: Politik handelt heute unter den Bedingungen einer endemischen Ungewissheit. Ihre Wirkungsmöglichkeit ist lokal, während die Probleme, vor denen sie steht, global sind. Wir erleben im Übergang von der festen zur flüssigen, flüchtigen Phase der Moderne die zunehmende Trennung von Politik und Macht. Die entfesselten Kräfte der Globalisierung entziehen sich nationalstaatlicher Kontrolle. Die politischen Institutionen erweisen sich als zunehmend ungeeignet für die Bewältigung neuer Herausforderungen. Die fragmentierte Gesellschaft bildet keine Gemeinschaft mehr, die territoriale Souveränität des Nationalstaats erodiert. Er verliert seine Problemlösungskompetenz und damit seine Schutzfunktion.

 

SPIEGEL: Versagt die Demokratie, die den Rahmen des Nationalstaats braucht, vor der wachsenden Diskrepanz zwischen Zielen und Mitteln effektiven Handelns?

Bauman: Die Krise der Demokratie resultiert in den Augen der Bürger aus ihrer tatsächlichen und vermeintlichen Unfähigkeit zu liefern. Die Hilflosigkeit der Politiker, ihr Verweis darauf, es gebe keine Alternative, sie könnten also gar nicht anders, wird als Kapitulation empfunden. Die Attraktivität des starken Mannes oder der starken Frau - Donald Trump in den USA, Marine Le Pen in Frankreich - gründet auf der Behauptung und dem ungeprüften Versprechen, sie könnten anders handeln, sie seien in ihrer Person selbst die Alternative.

 

SPIEGEL: Die Ankündigung, die Verhältnisse durch Mauern, Einreiseverbote und Abschiebungen wieder in Ordnung zu bringen, hat unbestreitbar einen verführerischen Reiz.

 

Bauman: Nationalismus und die Beschwörung ethnischer Einheit sind ein Ersatz für fehlende Integrationsfaktoren in einer desintegrierenden Gesellschaft. Der Nationalstaat wird seine Macht nicht wiedergewinnen. Längst sind die großen Städte der Welt die Laboratorien der neuen Mischgesellschaften geworden. In ihnen werden die Spannungen zwischen Mixophilie und Mixophobie im Pluralismus der Kulturen ausgetragen. Abschottung ist eine trügerische Versuchung. Die Tore sind aufgebrochen, sie lassen sich nicht mehr schließen. Die Legitimation des Nationalstaats ruhte auf drei Pfeilern: militärische Sicherheit nach außen, Wohlfahrt im Innern, Gemeinsamkeit von Sprache und Kultur. Dieses Stativ ist weggebrochen.

 

SPIEGEL: Was ist zu tun, damit die Menschen nicht in einer wiederauferstandenen Welt des Krieges aller gegen alle landen, gegen die Thomas Hobbes am Anfang der Neuzeit den Nationalstaat als Garanten für Freiheit und Sicherheit empfahl?

 

Bauman: Umberto Eco, einer der letzten großen Universalgelehrten, insistierte auf dem fundamentalen Unterschied zwischen Migration und Immigration. In der politischen Praxis werden beide ständig verwechselt. Einwanderung kann eine Regierung per Gesetz planen und steuern. Wanderung dagegen ist wie ein unkontrollierbares Naturphänomen. Sie findet einfach statt, sie geschieht, sie entzieht sich der Autorität irgendeines Nationalstaats, wie ein Erdbeben oder ein Tsunami. In den Großstädten der Welt sammeln sich in der Diaspora lebende Gruppen, ohne dass irgendjemand diesen Prozess geplant hätte. In London leben 70 verschiedene sprachliche, ethnische, religiöse, ideologische Gemeinschaften. Sie assimilieren sich nicht oder nur oberflächlich, anders als die Einwanderer des 19. Jahrhunderts. Die Türken in Deutschland wollen loyale Bürger in Deutschland sein, aber sie wollen auch Türken bleiben. Warum? Sie sind alle Produkte von Migration, nicht von Immigration. Doch wir fahren fort, so zu tun, als wäre Migration gleich Immigration - planbar, regulierbar, kontrollierbar durch die Regierungen in Berlin, Paris oder London.

 

SPIEGEL: Müssen diese dabei scheitern, das globale Problem mit ihren nationalen und lokalen Mitteln beherrschen zu wollen? Ist Integration, das Ziel, das alle wie mit einem Zauberstab herbeizitieren, eine Schimäre?

 

Bauman: Die Nachzügler der Moderne, die man verschämt und verlogen Entwicklungsländer nennt, stehen vor den Türen des Westens und werden sich Eintritt verschaffen. Diese Feststellung führt zu einer zweiten Einsicht, die der verstorbene deutsche Soziologe Ulrich Beck, ein großer Kollege, formuliert hat: Wir leben längst, ob es uns gefällt oder nicht, in einer kosmopolitischen Situation mit undichten Grenzen und universeller wechselseitiger Abhängigkeit. Aber was uns fehlt, ist das kosmopolitische Bewusstsein.

 

SPIEGEL: Die kognitive Durchmessung des sozialen Raums hängt hinter der realen Entwicklung zurück und verleitet die Politik zu Fehlentscheidungen?

 

Bauman: Wir müssen anfangen, dieses kosmopolitische Bewusstsein, die Erkenntnis der globalen Interdependenz zu entwickeln und zu fördern. Das ist ein schwieriger Prozess, denn er setzt eine Umkehrung der Denkrichtung voraus. Die Frage darf nicht mehr lauten: Was ist gut für mich und mein Land, sagen wir Ungarn, sondern Viktor Orbán müsste fragen: Was sollte Ungarn tun, um die Europäische Union, zu der es gehört, zu einem besseren und stärkeren Teil der Welt zu machen?

 

SPIEGEL: Davon hat sich Großbritannien mit dem Brexit verabschiedet. Der Alleingang scheint noch immer verlockend.

 

Bauman: Die Ansetzung des Referendums durch David Cameron war eine kapitale politische Dummheit. Der berühmte und berüchtigte Staatsrechtler Carl Schmitt definierte Souveränität als das Recht, den Feind zu benennen. Identität ist der Zwillingsbruder der Feindschaft: Wir sind, wer wir sind, weil wir einen gemeinsamen Feind haben. So funktionierten die Menschen von den Urhorden der Jäger und Sammler bis zu den Nationalstaaten des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der Geschichte der Menschheit gehörten Integration und Segregation immer zusammen: wir und die. Integriere dich, oder du wirst ausgestoßen. Das ist vorbei, "die" sind unter uns, wo ist der Feind? Wir müssen die Kunst der Integration ganz neu erlernen, unter Verzicht auf das Entweder-oder, wenn wir unserer Lage gerecht werden wollen.

 

SPIEGEL: Diejenigen, die keinen Zugang bekommen, werden in Elendslagern geparkt. Immer mehr europäische Politiker plädieren dafür, sie dort auf Dauer zu verwahren.

 

Bauman: Diese Flüchtlinge werden wie menschlicher Abfall behandelt. Sie haben das Recht verloren, sich selbst zu bestimmen und zu behaupten. Sie stehen außerhalb des Gesetzes, bar jeder Individualität. Ihre Aussicht auf Recycling in Aufnahmegesellschaften ist verschwindend gering. Sie sind Menschen ohne Identität und ohne Eigenschaften, für uns sind sie Unvorstellbare und Undenkbare.

 

SPIEGEL: Ohne Platz im kosmopolitischen Bewusstsein. Verstärkt sich gerade im Zeitalter der Universalität das Bedürfnis nach einem Rückzug in die Gemeinschaft des Gleichartigen?

 

Bauman: Haben Sie schon mal den Begriff "Retrotopia" gehört?

 

SPIEGEL: Nein, aber ich ahne, was Sie damit meinen.

 

Bauman: Nun, ich verrate Ihnen mein neues Projekt: "Retrotopia" wird der Titel meines nächsten Buches sein. Vor 500 Jahren schrieb Thomas Morus sein Werk "Utopia", den Entwurf eines Nirgendwolandes, eines Nochnichtlandes, eines besseren Platzes, der noch nicht Wirklichkeit geworden ist. Retrotopia ist ebenfalls ein Ort, den es nicht gibt, aber nicht, weil er noch nicht existiert, sondern bereits existiert hat.

 

SPIEGEL: Im Gegensatz zur Utopie symbolisiert er die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die verklärt wird, aber nicht wiedergefunden werden kann.

 

Bauman: Wir träumen von einer verlässlichen Welt, einer Welt, der wir trauen können, einer sicheren Welt der Konformität. In den auf Thomas Morus folgenden Jahrhunderten war die moderne Welt eine optimistische, auf dem Weg nach Utopia. Als ich ein junger Mann war, was schon sehr, sehr lange zurückliegt, war ich ein unbeirrbarer Fortschrittsgläubiger. Ich war überzeugt, dass eine Gesellschaft ohne Utopie unerträglich sei. "Der Fortschritt", schrieb Oscar Wilde, "ist die Verwirklichung von Utopien." Die Utopie ist die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Zukunft. Die Menschheit hält Ausschau nach einem besseren Land und setzt ihre Segel.

 

SPIEGEL: Und heute ist sie versucht zurückzusegeln?

 

Bauman: Wir erleben derzeit die wahrscheinlich wichtigste Kehrtwende im vorherrschenden Denken. Die jungen Menschen in Europa und wohl auch in Deutschland erwarten von der Zukunft keine Gewinne, sondern Verluste. Sie sind die erste Generation nach dem Zweiten Weltkrieg, die befürchtet, dass sie den Lebensstandard und die Lebensqualität ihrer Eltern nicht erreichen oder halten kann. Anscheinend ist Frankreich die pessimistischste Nation in Europa. Eine große Mehrheit sorgt sich, dass die Zukunft schlechter sein werde als die Vergangenheit. Unglaublich! Utopien erblickten gleichzeitig mit der Moderne das Licht der Welt und konnten sich nur im Klima der Moderne entfalten. Ihr Ende signalisiert auch das Ende der Moderne.

 

SPIEGEL: Die großen Utopien des 20. Jahrhunderts sind gescheitert, sie waren blutige Karikaturen eines Wunschtraums. Aber die Leitidee des Fortschritts bleibt doch ungebrochen, nicht nur auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Technik, sondern selbst auf dem der Moral?

 

Bauman: In meiner Idee von Retrotopia hat der Engel der Geschichte sich um 180 Grad gedreht. Die Werte, die sich mit den beiden entgegengesetzten Richtungen von Vergangenheit und Zukunft verbinden, haben die Plätze auf der Zeitachse gewechselt. Die Enttäuschung wartet in der Zukunft. Statt einer sorgenfreien Zeit erleben wir eine Katastrophe nach der anderen: Terrorismus, Finanzkrise, Wirtschaftsstagnation, Arbeitslosigkeit, Prekarität. Die Idee des Fortschritts verheißt heute weniger die Hoffnung auf eine Verbesserung der persönlichen Lage als die Angst davor, zurückgelassen und abgehängt zu werden. Also wenden wir uns der Vergangenheit zu und bewegen uns dennoch blind voran.

 

SPIEGEL: War der Fortschritt nicht immer blind?

 

Bauman: In Franz Kafkas Parabel "Der Aufbruch" fragt der Diener: "Wohin reitet der Herr?" Der antwortet: "Ich weiß es nicht, nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier ... das ist mein Ziel." So beschreibt Kafka die Fatalität in zwei Sätzen. Das ist die Lage, in der wir uns befinden.

 

SPIEGEL: Könnte es sein, dass die Fatalität der Geschichte die Menschheit in einen globalen Bürgerkrieg statt zu Immanuel Kants Vereinigung einer Weltbürgergesellschaft führt?

 

Bauman: Eine sehr gute Frage, aber ich kann nur eine Straßenkarte zeichnen, ich vermag nicht zu sagen, welchen Weg wir einschlagen.

 

SPIEGEL: Wie sieht Ihre Karte aus?

 

Bauman: Trotz aller Konflikte, Kriege und Klassenkämpfe im Frühkapitalismus hatten unsere Vorfahren einen Vorteil: Die Morphologie des menschlichen Zusammenlebens erzwang Solidarität. Henry Ford wusste, dass er seine Arbeiter anständig entlohnen musste, um seinen eigenen Erfolg zu gewährleisten. Diese Versicherung auf Gegenseitigkeit hat der Neoliberalismus in seiner Form der offenen Gesellschaft einseitig gekündigt. Gesellschaftliche Solidarität wurde zugunsten individueller Selbstverantwortung verdrängt. Es ist Sache des Einzelnen geworden, für sein persönliches Überleben in einer zersplitterten und unberechenbaren Welt zu sorgen, obwohl seine Ressourcen dafür völlig unzulänglich sind. Das allgemeine Gefühl der Prekarität, das mit dem Prozess ökonomischer Deregulierung einherging, löst zwischenmenschliche Bande auf und schürt das Misstrauen aller gegen alle. Der Fortschritt steht für die Bedrohung durch unablässige Veränderung. Jeder ist für den anderen ein potenzieller Gegner und Konkurrent. Das ist sehr beunruhigend.

 

SPIEGEL: Lauert in der Unsicherheit der Leistungsgesellschaft die Gewalt?

 

Bauman: Alle Bedrohungen werden vereint in der Gestalt des illegalen Einwanderers. Er ist der ideale Phantomgegner. Statt stereotypisiert muss er personalisiert werden, um die Feindseligkeit gegen ihn zu entschärfen. Er hat Anspruch darauf, als Individuum, nicht als Vertreter einer Kategorie, Rasse oder Religion betrachtet zu werden. Und der einzige Weg dahin führt über das Verständnis, das heißt über den Dialog.

 

SPIEGEL: Toleranz allein reicht nicht?

 

Bauman: Toleranz ist oft nur Ausdruck von Gleichgültigkeit. Tu, was du willst, solange es mich nicht berührt. Wenn du kopfüber auf den Händen gehen willst, bitte, mach es, wenn es dir gefällt. Im Gegensatz dazu steht die Solidarität, die Erkundung von Motiven und Absichten des Nächsten, die Erforschung des Fremden: Warum gehst du auf den Händen? Reden wir darüber! Es ist bemerkenswert, dass gerade Papst Franziskus nachdrücklich zu einer Kultur des Dialogs aufruft. Nur sie befähigt uns, den anderen als berechtigten Partner wahrzunehmen und zu respektieren.

 

SPIEGEL: Sie waren selbst im Exil, verloren Ihre polnische Heimat.

 

Bauman: Ein Pole in einem fremden Zug.

 

SPIEGEL: Fühlten Sie sich jemals in Ihrer Identität bedroht?

 

Bauman: Ich kam nach Leeds an die Universität, als ich 45 Jahre alt war. Alles war anders: die Sprache, die Kultur, die Geschichte. Sicher war es eine traumatische Periode. Ich brauchte zehn Jahre, um ein reibungsloses Verständnis, eine echte Gegenseitigkeit mit meinen Kollegen in der britischen akademischen Welt herzustellen. Aber ich habe meine Probleme nicht als Identitätsstörungen wahrgenommen. Die Suche nach Identität ist Teil von Retrotopia: Da ich das Glück in der Zukunft nicht finde, trete ich den Rückzug in die Vergangenheit an. Der Historiker Eric Hobsbawm sagte, die Menschen fangen an, über Identität zu reden, wenn sie aufhören, über Gemeinsamkeit zu reden.

 

SPIEGEL: Herr Professor Bauman, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.