Der Nationalstaat ist keine Antwort. Blockupy-Aktivist_innen diskutieren über die veränderten Voraussetzungen des transnationalen europäischen Protests

Erstveröffentlicht: 
20.08.2016

Das Blockupy-Bündnis hat dazu aufgerufen, am 2. September das Ministerium für Arbeit und Soziales in Berlin zu blockieren. Damit wollen sie einen der zentralen Orte markieren, an dem die Politik der Prekarität, der Verarmung und der Exportwirtschaft gestaltet wird. Tags darauf ruft das linke Netzwerk zur bundesweiten Demonstration des Bündnisses Aufstehen gegen Rassismus auf, um dem Aufstieg der Rechten etwas entgegen zu setzen. Mitte Juli sprachen wir mit den Blockupy-Aktivist_innen Hannah Eberle von der Interventionistischen Linken (IL) Berlin und mit Wolfgang Raul von attac Frankfurt am Main über das Aktionswochenende.

 

Interview: Sebastian Friedrich (aus: analyse und kritik Nr. 618)


Frage: Im März vergangenen Jahres richtete sich euer Protest gegen die Eröffnung der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main – und damit gegen die »wichtigste Agentur der Erpressungspolitik«, wie es damals von euch hieß. Warum habt ihr jetzt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales als Ziel auserkoren?

 

Hannah Eberle: Das Ministerium ist wesentlich an der sozialen Spaltung beteiligt. Es spaltet zwischen den Leuten, die nicht viel haben, und denjenigen, die in Reaktion auf kriegstreiberische, ausbeuterische, ausgrenzende europäische Politik hier ankommen. Gleichzeitig erleben wir eine gesellschaftliche Polarisierung, von der rechte Kräfte profitieren. Deshalb haben wir die Einladung des Bündnisses Aufstehen gegen Rassismus angenommen. Wir wollen es aber nicht bei der Demo am Samstag belassen, denn die AfD kann nicht bekämpft werden, ohne grundsätzliche Fragen zu stellen: Wie wollen wir zusammen leben und arbeiten, wie kann Sozialpolitik in Deutschland funktionieren.

 

Wolfgang Raul: Blockupy war auch deshalb erfolgreich, weil wir mit der EZB einen konkreten, dem Thema angemessenen Gegner ausgewählt haben, an dem die Austeritätspolitik aufgezeigt wurde. In Berlin haben wir uns das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ausgesucht, stellen dort aus unterschiedlichen Blickrichtungen die soziale Frage und zeigen vorhandene und sichtbar werdende Brüche in der Austeritätspolitik auf. Außerdem bieten sich hier Anknüpfungspunkte für Gewerkschaften und Initiativen gegen prekäre Beschäftigung an.

 

Im März 2015 war SYRIZA gerade frisch in Regierungsverantwortung in Griechenland. Blockupy verband mit der Regierung Tsipras und mit Podemos in Spanien die Hoffnung, dass dem von Austerität geprägten Europa ein anderes, sozialeres entgegen gesetzt werden könnte. Diese Erwartungen wurden spätestens im Sommer vergangenen Jahres zerstört. Sind SYRIZA und Podemos für euch dennoch weiterhin positive Bezugspunkte für ein Europa von unten?


Hannah: Es gibt immer noch eine enge Verbindung zu den Kämpfen in Spanien, Portugal, Frankreich und Griechenland. Wir überlegen gemeinsam, wie man die technokratische Mitte angreifen kann. Über die Entwicklungen von SYRIZA und Podemos gibt es im Blockupy-Bündnis unterschiedliche Ansichten. Als IL-Aktivistin sehe ich den Fehler von SYRIZA und Podemos darin, dass sie sich nicht an den gesellschaftlichen Bruchlinien orientiert haben. Sie sind keinen Bruch mit dem herrschenden System eingegangen, sondern sind im parlamentarischen System versunken.


Wolf: Wir haben es nicht nur mit einer ökonomischen und sozialökologischen Krise zu tun, sondern auch mit einer Krise der Demokratie. Es geht also nicht nur um europäische Austeritätspolitik, wie das Beispiel SYRIZA zeigt. Die Partei wurde gewählt, bekommt jedoch keinerlei Handlungsspielraum für politische Entscheidungen. Auf Druck Deutschlands zusammen mit den Institutionen wurde die griechische Regierung ungewollt zu einer technokratischen Regierung, die Entscheidungen anderer umsetzen muss. Der Protest dagegen muss weitergehen.


Das der IL nahestende Netzwerk Diktyo ist da eindeutiger in der Kritik. Es spricht von der Schuld der Regierung, Unwahrhaftigkeit, undemokratischen Machenschaften, einer Parteichef-Autokratie und von bürgerlicher Europatümelei.


Hannah: Uns war immer klar, dass nur der Druck auf der Straße grundlegende Veränderungen ermöglichen kann. Wir haben nie gesagt, dass sich mit der Regierungsbeteiligung SYRIZAs allein die Verelendungspolitik oder Kürzungspolitik oder der Kapitalismus auflösen wird. Als Aktivistin, die in Deutschland lebt, muss ich mich aber in erster Linie auf die Politik konzentrieren, die hier gemacht wird. Besonders in Deutschland muss wieder Ungleichheit und soziale Ausgrenzung thematisiert werden. Die Politik der Bundesregierung beeinflusst nicht nur das Leben der Menschen hierzulande, sondern auch das der Bevölkerung in ganz Europa. Die deutsche Bundesregierung ist mit der Austeritätspolitik und der Exportorientierung immer noch dabei, Griechenland immer weiter vor die Hunde zu treiben.


Die Europäische Union ist nach Ansicht vieler Linker letztlich ein Klassenprojekt von oben. Im Nachgang des Brexit-Votums ist auch eine Diskussion um den Lexit, einen linken Ausstieg aus der EU, entbrannt. Ist ein solidarisches Europa von unten innerhalb der Europäischen Union denkbar?


Wolf: Die Gemeinschaft der EU, wie wir sie kennen, zerfällt. Es gibt innerhalb der Linken schon Forderungen nach nationaler Handlungsermächtigung, wobei nicht klar ist, was das letztlich bedeutet. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Europa, das allerdings anders sein muss, als es heute ist. Ein gemeinsames, solidarisches Europa. Nicht ein Europa, von dem nur wenige auf Kosten der Schwachen profitieren.


Hannah: Ich hatte nie die Hoffnung, dass die EU ein Projekt für Frieden und Wohlstand für alle sein kann. Es war von Anfang an ein neoliberales Projekt. Aber ein Bruch mit der EU würde momentan all denen noch mehr wehtun, die ohnehin schon abgehängt sind. Letztlich müssen wir grundsätzlich fragen, wie Arbeit verteilt ist, wer für wen arbeitet, wer die Profite einstreicht. Wir müssen den Kapitalismus infragestellen. Antworten finden wir nicht im Nationalstaat, sondern nur transnational. Wir müssen einerseits Europa mitdenken und gleichzeitig im Lokalen kämpfen. Über die selbstverwalteten Firmen und die entstandenen Medibüros in Griechenland haben wir bisher meistens nur gesprochen. Jetzt müssen wir sie auch hier in Deutschland erkämpfen.


So etwas wie eine Sozialunion gibt es nicht, es ist kein europäischer Sozialstaat in Sicht, an den man konkrete Forderungen richten kann. Auf Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik haben soziale Bewegungen immer noch im nationalstaatlichen Rahmen den besten Zugriff. Verliert ihr bei eurem Fokus auf den europäischen Rahmen die konkreten Anknüpfungspunkte für soziale Kämpfe aus den Augen?


Wolf: Das was du beschreibst, zeigt, dass wir eine europäische Verfassung brauchen, die auch soziale Mindeststandard beinhalten muss um nur ein Beispiel zu nennen. Dieses Europa kann nicht länger geprägt sein durch die Freiheit von Waren, des Finanzsektors und der Dienstleistungen. Europa muss endlich an den Menschen ausgerichtet werden.


Kämpft ihr also auch für eine Sozialunion, für einen europäischen Sozialstaat?

Hannah: Es geht uns nicht um den Sozialstaat oder eine Sozialunion, sondern um eine Abkehr von Profit- und Wettbewerbslogiken. Wir wollen nicht eine neue Verfassung schreiben, sondern Teil eines neuen Europas sein. Wir kämpfen für ein Europa, das die Grenzen zwischen Oben und Unten genauso wie die Grenzen innerhalb Europas und die Grenzen an der Festung Europas angreift. Alle drei Grenzen bedingen einen Ausstieg aus der Verwertungslogik.


Blockupy erscheint als ein Netzwerk der jüngeren, gut ausgebildeten, international vernetzten, prekär Beschäftigten. Ist das die Gruppe die ihr ansprechen wollt, in der ihr so etwas wie das revolutionäre Subjekt seht?

Hannah: Wir suchen nicht ein revolutionäres Subjekt im traditionellen Sinne, sondern wir wollen ein Projekt formulieren, in dem sich Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit wiederfinden können. Die Klammer ist neben der Abkehr von einem profitorientierten Wirtschaftssystem die Forderung nach echter Demokratie. Die Plätze in Südeuropa und in Frankreich wurden vor allem von der Jugend besetzt, aber die Bewegung beschränkt sich nicht auf sie. In Frankreich war die allnächtliche Besetzung der Place de la République in Paris der Ausgangspunkt für Streiks und Fabrikbesetzungen im ganzen Land. Blockupy spricht zwar verschiedene Menschen an, aber ganz viele auch nicht. Das hat aber auch damit etwas zu tun, dass etwa die großen Gewerkschaften nicht bereit sind, den Bruch mitzumachen.


Gleichzeitig müssen wir überall in Europa den Aufstieg rechter Parteien beobachten. Und auch Teile der weißen Arbeiterklasse fühlen sich durch rassistische Antworten auf die soziale Frage angesprochen. Was kann Blockupy dem entgegensetzen?

Wolf: Deshalb beteiligen wir uns auch an der Demonstration des Bündnisses von Aufstehen gegen Rassismus. Wir wollen dabei klarmachen, dass die neoliberale Politik den Rassismus begünstigt, sogar fördert. Aufstehen gegen Rassismus ist deshalb nicht genug, langt aber, um mit einem großen Bündnis gemeinsam auf die Straße zu gehen und dort weitere Blockupyforderungen zu stellen. Einfache Antworten, wie die Rechten sie geben, können von uns nicht kommen.


Hannah: Es geht nicht nur um einfache Antworten. Die Rechten verstehen es, mit der Angst der Menschen zu spielen. Sie schüren Ängste vor den sogenannten Fremden, provozieren damit soziale Spaltungen und setzen sich gleichzeitig dafür ein, weiße Privilegien zu verteidigen. Genau gegen diese Angst müssen wir ein Projekt formulieren. An diesem Punkt sind wir noch nicht, aber mit dem Fokus auf Arbeit versuchen wir, die soziale Spaltung aufzubrechen.


Einen Tag nach den geplanten Aktionen am 2. September findet in Berlin eine bundesweite Großdemonstration des Bündnisses Aufstehen gegen Rassismus statt. Als Teil des Bündnisses beteiligt ihr euch an der Demonstration. Von links gibt es einige Kritik an der Demo, weil daran auch die Jusos, Teile der SPD und die Grünen beteiligt sind. Wie breit sollen breite Bündnisse gegen Rechts sein?


Hannah: Klar ist es problematisch, gemeinsam mit Parteien gegen Rechts aufzustehen, die den institutionellen Rassismus vorantreiben, die Grenzen dichtgemacht haben und die soziale Verarmungspolitik massiv vorantreiben. Wir wollen aber dennoch in das Bündnis kritisch-solidarisch eingreifen, weil es ein Fehler wäre, Teile der technokratischen Mitte alleine ein sichtbares Zeichen gegen Rassismus setzen zu lassen. Am Freitag greifen wir die technokratische Mitte und ihren institutionellen Rassismus an. Am Samstag dann geben wir einen kraftvollen Ausdruck gegen Grenzen zwischen Oben und Unten, gegen Rassismus und europäische Abschottung. Es ist ein alter Fehler der radikalen Linken, mit aufgerissenen Augen daneben zu stehen. Man muss rein, intervenieren und den herrschenden Block zwingen, Farbe zu bekennen.


Wolf: Bündnispolitik ist Kompromissarbeit, die im besten Falle alle mitnimmt. Breite Bündnisse sind wichtig, nicht nur um politischen Druck zu erzeugen, sondern auch um in der Zivilgesellschaft einen wichtigen Punkt zu setzen. Und den brauchen wir gerade. Der Alltagsrassismus entzweit immer mehr Familien, Freundeskreise und Belegschaften. Wir wollen damit all jene stärken, die sich im Alltag gegen Rassismus positionieren.


Ihr kämpft also einerseits gegen die technokratische Mitte, andererseits mit ihr zusammen. Geht es euch darum, den herrschenden Block zu verändern, ihn nach links zu verschieben oder einen linken Block aufzubauen?


Hannah: Uns geht es um ein linkes Gegenprojekt, deshalb fokussieren wir uns auf Blockupy. Dennoch ist es aus antifaschistischer Perspektive notwendig, Teile des herrschenden Blocks herauszubrechen, um sich gemeinsam gegen eine rechte Gefahr zu stellen. Denn wenn sich die AfD in allen Institutionen festsetzt, haben wir als Linke massiv schlechtere Ausgangsbedingungen.


Hannah Eberle und Wolfgang Raul sind aktiv bei Blockupy. Blockupy ist ein linkes Netzwerk, in dem u.a. die Interventionistische Linke, attac und das …ums Ganze!-Bündnis aktiv sind.


Info: Blockupy am 2. und 3. September in Berlin
Blockupy beteiligt sich am Aktionswochenende gegen Rassismus, das Anfang September in Berlin stattfindet. Das Bündnis ruft dazu auf, am Freitag (2.9.) ab 8 Uhr morgens das Ministerium für Arbeit und Soziales zu blockieren. Im Ministerium sieht Blockupy eine Brutstätte für die soziale Spaltung zwischen Geflüchteten, Migrant_innen und allen, die auf Arbeit angewiesen sind. Außerdem sei das Ministerium Produzent von Verunsicherung und Erniedrigung und Teil der Regierung, die in ganz Europa das Spardiktat forciert und damit den Grundstein für Rassismus legt. Laut Blockupy müsse die Auseinandersetzung gegen die AfD und den Rechtsruck einhergehen mit dem Kampf für soziale Rechte, Demokratie und ein radikal anderes Europa. Für den 3. September ruft Blockupy zur Teilnahme am Grenzenlos-Block auf der Großdemonstration des Bündnisses Aufstehen gegen Rassismus auf. Am nächsten Tag findet in Berlin ein bundesweites Vernetzungstreffen der Initiative Welcome 2 Stay statt. Weitere Infos unter www.blockupy.org und twitter.com/blockupy.