Dortmund: Texte vom Edelweisspiraten Kurt Piehl

Dortmunder Edelweisspiraten

Anfang der 1980er Jahre wurde auch in Dortmund das Thema des antifaschistischen Widerstands der Edelweisspiraten bekannt/er. Die Forschungen und Veröffentlichungen der Geschichtswerkstatt waren dabei nicht unerheblich. Aber auch die Edelweisspiraten selbst waren rührig. So ging der Edelweisspirat Kurt Piehl vermehrt mit seinen Erzählungen aus der NS-Zeit an die Öffentlichkeit. Einige der damaligen Texte aus unserem Archiv stellen wir hier noch einmal digital zur Verfügung.

 

Anbei als Volltext:

Neue Arbeiterpresse (24.07.1981): Kurt Piehl erinnert sich: Ich war ein Edelweisspirat

Neue Arbeiterpresse (21.12.1984): Herbstreise 1944, Ein Mißgeschick in 3 Akten, 1. Akt

Neue Arbeiterpresse (04.01.1985): Herbstreise 1944, Ein Mißgeschick in 3 Akten, 2. Akt

Neue Arbeiterpresse (11.01.1985): Herbstreise 1944, Ein Mißgeschick in 3 Akten, 3. Akt

 

als PDF:

WAZ (20.09.1980) Sie wollten nicht marschieren

Neue Arbeiterpresse (24.07.1981): Kurt Piehl erinnert sich: Ich war ein Edelweisspirat

Neue Arbeiterpresse (16.07.1982): Kurt Piehl - Die Schlacht am Nordmarkt

Neue Arbeiterpresse (12.08.1983), Kurt Piehl - Das Schicksal eines Edeweisspiraten nach 1945

Neue Arbeiterpresse (20.07.1984): Kurt Piehl - Ein ganz normaler Kriegssommertag

Neue Arbeiterpresse (21.12.1984): Herbstreise 1944, Ein Mißgeschick in 3 Akten, 1. Akt

Neue Arbeiterpresse (04.01.1985): Herbstreise 1944, Ein Mißgeschick in 3 Akten, 2. Akt

Neue Arbeiterpresse (11.01.1985): Herbstreise 1944, Ein Mißgeschick in 3 Akten, 3. Akt

Neue Arbeiterpresse (12.04.1985), Kurt Piehl - Es geht alles vorüber, ...

Neue Arbeiterpresse (20.12.1985), Kurt Piehl - Winter in Trizonien

 

Von Kurt Piehl:

Dortmund: „Wir sind aus Dortmund`s Norden ...“ oder: Wie kommen die Nazis zum Borsigplatz?

 

Weiteres zu Kurt Piehl und dem Comic „Das Karbidkommando – Edelweisspiraten gegen Miesmolche“:

Dortmund: Das Karbidkommando - Interview Andreas Müller

Dortmund: Das Karbidkommando - Interview Günter Rückert

 


 

Kurt Piehl erinnert sich: Ich war ein Edelweisspirat

 

Neue Arbeiterpresse Nr. 235 24. Juli 1981 (Seite 6)

 

DIE Edelweisspiraten waren Arbeiterjugendliche zwischen 12 und 17 Jahren, die den Nazis Widerstand leisteten. Sie waren zu Tausenden in unabhängig voneinander existierenden Gruppen organisiert. Mitte der 30er Jahre tauchten sie in den Arbeitervierteln der großen Industriestädte auf. Ihre Bewegung entstand spontan und zerfiel spontan, wenn sie nicht vorher von den Henkern des Nazistaats erhängt wurden.

Die Edelweisspiraten wurden von der SS und der Gestapo als Staatsfeinde bitter verfolgt.

Sie hatten keine ausgebildete Ideologie. Was diese Jugendlichen zusammenbrachte, war die Ablehnung des verhassten Nationalsozialismus, gegen den sie mit ihren Mitteln, die sie unmittelbar zur Verfügung hatten, kämpften. Der organisierte Widerstand aus den ehemaligen Arbeiterparteien war zu der Zeit schon längst bis auf einen geringen Rest zerschlagen.

Die SS und die Gestapo, die Henkersknechte des Nationalsozialismus erhängten Ende des Krieges, am 10. November 1944 in Köln-Ehrenfeld 13 Edelweisspiraten. Die Verantwortlichen wurden von der Kölner Justiz in den 50er und 60er Jahren freigesprochen. Ihre damalige Aussage, sie hätten ja nur Verbrecherbanden gejagt, wurde akzeptiert.

In den Akten der Kölner Justiz werden die Edelweisspiraten weiter als Kriminelle geführt. Ihren Angehörigen wird jeden Wiedergutmachung von der deutschen Justiz verweigert.

Kurt Piehl gehörte der jugendlichen Widerstandsgruppe der Edelweisspiraten an. Er wurde am 6. Januar 1928 geboren und entstammt einer sozialistischen Familie. Seine Mutter war aktiv in der syndikalistisch-anarchistischen Jugendbewegung, wie die meisten der Arbeiterfamilien im Norden Dortmunds entweder Kommunisten, Anarchisten oder Syndikalisten waren.

Kurt Piehl wurde kurz vor Kriegsende verhaftet, weil er einen Gestapo-Mann im Kampf mit dem Dolch verletzte. Er wurde zur Steinwache gebracht, der „Hölle von Westdeutschland" und wurde dort als 17jähriger brutal gefoltert und misshandelt. Heute lebt Kurt Piehl in Bergkamen und ist gewerkschaftlich aktiv als Vorsitzender des Ortsvorstands der IG Bau-Steine-Erden in Bergkamen-Obladen.

Die Neue Arbeiterpresse sprach mit ihm über seine Vergangenheit als Edelweißpirat.

 


 

Wir wuchsen als Kinder im Dortmunder Norden auf in den schlechten sozialen Verhältnissen dieser Zeit. Es war eine rauhe, ruppige Umgebung und bei uns 10 bis 11jährigen herrschte das Faustrecht. Wir bildeten Meuten und prügelten uns mit Kindern von den anderen Straßen.

Mein Vater wurde 1933 verhaftet und ins KZ gebracht. Als ich 15 Jahre alt war, rief ich die freie Republik Dortmund aus, meine politische Zielsetzung war phantastisch. Das war die Zeit, in der sich unser Treffpunkt, die Danziger Freiheit, enorm erweiterte und Jugendliche aus einem größeren Einzugsgebiet kamen.

Die Edelweisspiraten waren keine politische Bewegung in dem Sinne. Was wir gemeinsam hatten, war die Abneigung gegen die Hitlerjugend, wir wollten nicht marschieren, wir wollten latschen, und so nannten wir uns die Latscher. Wir waren gegen die Staatsgewalt und die Obrigkeit. Edelweisspiraten waren wir offiziell erst ab 1938, das war die Zeit, als die Hitlerjugend zur Staatsjugend erklärt wurde.

Zu dieser Zeit kamen all diejenigen zusammen, die oppositionell eingestellt waren.

 

'Latscherbuben'

 

Wir wollten provozieren. Ich erinnere mich da an einen Vorfall, wo wir im Hauptbahnhof in Dortmund 'Hohe Tannen' gesungen haben, das geht so: „Latscherbuben, lasst euch sagen: Volk und Vaterland sind nicht mehr frei. Schwingt die Keulen, ihr Edelweisspiraten, schlagt den Nazis die Köpfe entzwei."

Damals waren wir 60 Mann am Bahnhof. 1943 verlagerten wir unseren Treffpunkt in den Brügmann-Park, den wir Luna-Park nannten, weil wir uns im Mondschein trafen. In der Nähe war das Haus der Jugend, das war das Haus der HJ. Jedesmal, am Ende ihrer Veranstaltungen exerzierte die Hitlerjugend vor dem Haus ihren Appell und die wurden jedesmal darauf von uns verprügelt.

Sie mussten soviel einstecken, manchmal auch wir, dass sie Ende 1943 nur noch vormittags zum Dienst gingen."

 

Im Oktober 1943 schaltete sich die Gestapo ein. Durch die Razzien der Gestapo wurden einige der Freunde Kurt Piehls verhaftet. Ein Freund, der staatenlos war, wurde nach Dachau abtransportiert. Die Verhafteten wurden nach Neuwied transportiert in ein ausgesprochenes Jugendlager.

Die Gestapo konnte ohne Verhandlungen Verhaftungen durchführen.

 

Man muß sich das vorstellen. Wir waren 15 Jahre alt.

Der Park war unsere Kontaktstelle zu' den Mädchen. Wir machten Musik und tanzten. Tanzen war damals ein Straftatbestand und Musik galt als Ruhestörung, obwohl keiner gestört werden konnte, weil die Häuser alle ausgebombt waren und dort keiner mehr wohnte. Die Prügeleien mit der Hitler-Jugend waren für uns mehr ein Spaß als eine politische Aktion.

Im Oktober 1943 änderte sich die Situation. Freunde wurden verhaftet, und als sie aus den ersten unsere Namen herausgeprügelt hatten, bekamen wir Vorladungen... Mit der Vorladung mussten wir zum Gestapo-Gebäude in der Benninghoferstr. 16, eine unvergessliche Adresse für uns.

Vorne rechts, am Eingang, war ein Schalter, durch den wir die Vorladungen geben mussten. Danach öffnete sich automatisch eine Tür, und wir mussten durch einen Gang durch eine zweite Tür, die sich ebenso automatisch öffnete und wieder schloss.

Hinter dieser Tür traf ich meine Kameraden wieder. Wir mussten uns alle auf eine Bank setzen. Dann erschien Buschmann,ein Zweimeter-Bulle der Gestapo, wohl der gefürchtetste und meist gehasste Mann in Dortmund. Wer von uns nicht von der Bank aufstand und grüßte, wurde zusammengeschlagen."

 

Kurt Piehl erinnert sich noch genau, wie sein Freund Wolfgang behandelt wurde:

„Er nahm Haltung an, aber nicht so zackig wie vorher. Es war mehr die legere Habachtstellung aller Frontsoldaten mit gelockerten Gliedern ohne jede rekrutenhafte Verkrampfung. „Ich melde Ihnen, dass ich das Protokoll nicht unterschreiben kann, Herr Buschmann“, sagte er. „Das is' nämlich, weil ich sowas gar nicht ausgesagt hab“.“

 

Gestapo

 

Der Gestapomann blickte überrascht auf. Dann erhob er sich langsam und stellte sich vor den Jungen. „So, so“, sagte er nachdenklich. „Du hast das also nicht ausgesagt, was da steht. Dann habe ich deine Aussage wohl gefälscht, he?“

Obwohl Wolfgang darauf vorbereitet war. traf ihn der Schlag völlig überraschend. Buschmann hatte ohne Warnung zugeschlagen - nicht auf das Kinn, wie der Junge erwartet hatte, sondern mitten ins Gesicht. Jedoch der zweite Schlag verpuffte schon ins Leere.

Die lockere Haltung des Jungen setzte der Wucht des Treffers keinen Widerstand entgegen und minderte so die Wirkung der Misshandlung. Gleich der erste Schlag hatte Wolfgang von den Füßen gerissen. Im Fallen drehte er sich und kam auf sein Gesicht zu liegen, wobei er die Hände um den Kopf verschränkte. Wollte den Gestapo-Scherge weiter schlagen, musste er sein Opfer erst mit eigener Kraft hochreissen.

Gegen Misshandlungen durch Fußtritte waren wenigstens der Kopf und die vorderen Körperpartien geschützt. Dieses Verhalten wurde da angewandt, wo Gegenwehr sinnlos war. „Komm hoch, du Schlappschwanz!“ brüllte der Gestapomann. Er stieß dem Jungen die Stiefelspitze in die Rippen, aber dieser rührte sich nicht.

Wolfgangs Lippen waren aufgeplatzt. Aus seiner Nase floss das Blut direkt auf den Fußboden. Sein Atem ging jedoch tief und gleichmäßig, so als ob er friedlich schliefe. „Komm jetzt endlich hoch, verfluchter Hund!“ brüllte Buschmann noch zweimal. Er riss den Jungen an den Haaren hoch und schlug ihm zweimal ins Gesicht. Dann ließ er ihn wieder zurückfallen. Es war, als hätte er gegen eine leblose Masse geschlagen.

Wenn du jetzt nicht sofort hochkommst, dann tret' ich dir die Eingeweide aus dem Bauch“, drohte er mit gefährlicher Ruhe und hob den Fuß. um zu zeigen, dass er es ernst meinte."

 

Dieser Terror der Nazis bewirkte eine zunehmende Politisierung bei den Jugendlichen. Einige Monate später, in der Nacht zum 25. Mai hatte ein schwerer Bombenangriff auf Dortmund das Gebäude der HJ mitsamt ihren Mitgliederkarteien vernichtet. Da sie ihre Mitglieder dadurch nicht mehr erreichen konnten, hat die HJ vorübergehend aufgehört zu existieren. Am 1. Juni kam es dadurch zu der ersten großen Erfassung.

 

"Jeder Jugendliche, ob HJ oder nicht, musste da hin und sich bei der Dienststelle melden. Wer nicht hinging, bekam keine Lebensmittelkarten mehr; die waren aber unsere physische Existenzgrundlage.

Die erste Erfassung war für die Nazis ein Schlag ins Wasser. Ich und meine Freunde sind nicht hingegangen. Nach der zweiten Erfassung, die auch so ausging, wurden Razzien an allen Treffpunkten durchgeführt, in den Parks und Freibädern. Auch Mädchen wurden jetzt erfasst. Durch das Gesetz der Staatsjugend mussten alle 14 bis 18jährigen in die Hitlerjugend oder den Bund Deutscher Mädchen. Mit 17 musste man Soldat werden."

 

Corso-Schlacht“

 

Das Corso war bei den Edelweißpiraten sehr beliebt. Neben den Fronturlaubern und deren Begleiterinnen bildeten sie mit ihren Mädchen den Hauptteil der Gäste ...

Es war auffallend, dass die Jungen heute ihre Edelweissabzeichen so öffentlich trugen. Sonst waren sie immer unter den Jackenaufschlägen versteckt, aber heute nicht. Ausgerechnet am Erfassungssonntag protzten sie damit herum...

Im Eingang erschien Streifenführer Pöpping, der dicke Pöpping, wie er genannt wurde. Hinter ihm drängten sich etwa fünfzehn Hitlerjungen in das Lokal. Sieben oder acht von ihnen verteilten sich im Saal und begannen Ausweise und Erfassungsscheine zu kontrollieren ...

Hitlerjungen und Edelweißpiraten sahen sich höhnisch grinsend an - jede Partei im Gefühl ihrer grenzenlosen Überlegenheit ...

Edelweisspiraten sind treu!“ schallte es plötzlich aus der hinteren Ecke des Saales ... Zwei Hitlerjungen waren mit am Hintereingang postierten Edelweisspiraten zusammengestoßen. „Edelweißpiraten sind treu!“ schallte es auch von der Balustrade. Tische wurden umgeworfen, Stühle zerbrochen.

Die abgebrochenen Stuhlbeine gingen von Hand zu Hand. Den dicken Pöpping traf ein Bierglas mitten ins Gesicht. Er spuckte Blut und zwei Zähne. ...

 

Zehn Tage nach der Schlacht im Corso, wie der stattgefundene Kampf jetzt allgemein genannt wurde, veranstaltete Buschmann eine Razzia am Hauptbahnhof und am gegenüberliegenden Bahnhofsbunker ... es wurden etwa achtzig Personen festgenommen, rund ein Viertel davon waren Mädchen. Die Festgenommenen wurden zur Bahnhofswache gebracht und dort verprügelt."

Das war im Sommer 1944, erinnert sich Kurt Piehl, und war wohl als Rache gedacht, weil die HJ bei der Corsoschlacht schwere Einbußen einstecken musste.

Dem folgten auch Razzien in unserem Park und meine erste Verhaftung auf der Flucht in die Schweiz. Ich wollte mit zwei Freunden abhauen, um mich dadurch dem Wehrdienst zu entziehen, den ich, jetzt 16 Jahre alt, vor mir hatte. Meiner Mutter hinterließ ich nur einen Zettel, auf dem ich geschrieben habe, dass ich nach dem Krieg wiederkomme. Sie hat ihn glücklicherweise vernichtet, den dies galt als ein „Totsicheres“ Verbrechen. Wir wurden in Pforzheim geschnappt.

Nach der Freilassung am 19. Oktober hatten wir keine öffentlichen Treffpunkte mehr, sondern trafen und versteckten uns in kleineren Gruppen in Privatwohnungen von Bekannten, die wir ständig wechseln mussten.

 

Mit jeder Verhaftung steigerte sich das Ansehen eines Latschers, weil man dadurch mit der Staatsanwaltschaft in Konflikt war. Ich war jetzt 17 Jahre und gehörte schon zu den Veteranen. Viele meiner Freunde waren schon eingezogen.

Am 21. Januar war ich mit einem Freund unterwegs und wir wollten uns mit zwei Mädchen treffen, die, ohne das wir das wussten, von der Polizei beschattet wurden. ,

Ich hatte meinen Dolch dabei, mein Freund eine 12mm Pistole. Irgendwie tauchten zu der Zeit von irgendwoher Waffen auf."

 

An diesem Tag wurde der 17jährige Kurt von den Nazis in dem Lokal 'Alting' an der Lortzing-/Münsterstraße geschnappt.

 

Laß los, du Nazi-Sau“, keuchte ich. Der Druck um meine rechte Hand wurde schwächer ... „Jetzt leg' ich dich um du Schwein“, fauchte er mich an. Seine freie Linke tastete nach der rechten Manteltasche, wo die Pistole steckte.

Falsche Rücksicht wäre jetzt Selbstmord gewesen. Blitzschnell fuhr ich mit der Rechten unter die Jacke. Einen winzigen Augenblick blinkte die lange schmale Klinge im Mondlicht. Dann fuhr sie ihm unterhalb der linken Hüfte bis zum Heft in den Unterleib …"

 

Die Flucht misslang. Er wollte sich in der nahen Leichenhalle unter den Leichen verstecken, rutschte aber auf einer schneebedeckten Eisschicht aus. Er landete in der Lortzingwache.

 

„Auf der Wache wurde ich von 10 - 15 Mann in die Mangel genommen, die sich in der Mitte des Raumes halbkreisförmig aufgestellt hatten. Hinter ihnen Buschmann. Er grinste mich fast freundlich an und leckte genüsslich die Lippen. Was nun kam, war ganz nach seinem Geschmack.

„Da ist das Schwein“, brüllte einer bei meinem Erscheinen. Ein Schlag ins Genick schleuderte mich gegen die Wartenden. Im Nu schloss sich der Kreis und es hagelte Schläge und Fußtritte gegen alle Körperteile. Die bulligen Schläger spielten Fangball mit mir. Jeder Treffer schleuderte mich in einen neuen Schlag hinein.

„Schlagt das Schwein tot!“ schrie einer „Bringt das Schwein um“, ein anderer ... ich kippte vornüber, aber ein Kinnstoß ins Gesicht richtete mich wieder auf.

Ein heftiger Schlag gegen den Kopf und ein schneidender Schmerz in meiner rechten Gesichtshälfte unterbrach die dumpfe Monotonie der Prügel. „Das war Buschmann“, fuhr es mir durch den Kopf, bevor ich das Bewusstsein verlor. Er hatte mir mit einem gezahnten Schlagring von hinten durch das Gesicht geschlagen ... Mir fiel ein, dass ich erst 17 Jahre alt und höchstens 20 Minuten in dem Wachlokal war.

 

Steinwache

 

Als ich aufwachte, lag ich in meinem eigenen Saft mit dem Gesicht nach unten und meine Hände nach hinten gefesselt. Dann gings von vorne los und ich musste mich nackt ausziehen. Mit brennenden Zigaretten drückten sie gegen Hintern und Hoden, dann sollte ich mich mit Lehmseife waschen.

Mit Lehmseife kann man alles machen nur nicht waschen, und als beim Abtrocknen an einem schwarzen, verdreckten Laken mein Blut kleben blieb, wurde ich wieder bewusstlos geschlagen, wegen mutwilliger Beschädigung von Staatseigentum. Ein unglaublicher Zynismus."

 

So zugerichtet wurde Kurt Piehl in die Steinwache eingeliefert. In dieser „Hölle von Westdeutschland" hatte er eine Zukunft von systematischer Folter und Grausamkeiten vor sich.

Die Zelle 19 der Steinwache, in die er kam, eine Zelle von 1,3 Meter mal 3 Meter, war überbelegt mit fünf Gefangenen. Die Nahrung war auf eine Lebensdauer von drei Monaten ausgerechnet, vorausgesetzt eine stabile Gesundheit bei der Einlieferung.

 

"Dass ich diese Wochen überlebt habe, verdanke ich Wassil, einem Russen, der kaum Deutsch konnte und ein politischer Gefangener war. Die Nazis nannten ihn 'Politruk'. Wassil war wohl der beste Mensch, den ich in meinem Leben begegnet bin, das bin ich ihm heute noch schuldig zu sagen.

Er zeigte mir, wie die Fesseln loszumachen sind. Er saß nächtelang im Schneidersitz, während ich mit meinem Kopf in seinem Schoß schlief. Wir hatten keine Pritsche, keine Decken, nur einen Blechnapf. Es war Januar und 12 Grad minus. Wassil suchte uns nach Läusen ab und half uns, wenn wir auf Toilette mussten. Durch ihn habe ich überlebt. Als ich in eine andere Zelle verlegt wurde, sah ich noch wie Wassil starb, er war wohl zwei Monate vor mir eingeliefert worden."

 

Ende Februar wurden die Gefangenen aus der Steinwache in den 'Lübecker Hof überführt. Kurt Piehl glaubt heute, dass die Überführung aus Platzmangel für neue Gefangene geschah und er es nur einem Versehen verdankt, dass er bei der Überführung mit dabei war. Die Nazis wollten unter allen Umständen seinen Kopf. „Wer einen Staatsbeamten verletzt, hat kein Recht mehr zu leben". Diese Morddrohung kam vom Direktor der Steinwache.

 

Als ich noch in der Steinwache gefangen war, kannte ich keine Todesangst mehr, denn der Tod wäre eine Erlösung gewesen. Doch jetzt, unter besseren Bedingungen im „Lübecker Hof“ kam die Todesangst wieder. Die Angst vor der Hinrichtung.

Am 10. März kam der Direktor in meine Zelle, um sich mit mir zu unterhalten: „Dein Kopf ist futsch, damit musst du dich abfinden." Nachmittags fielen die Bomben so dicht, dass die Zellentüren aufsprangen, alle von Nr. 18-20. Ich lag auf 21. Zwei Tage später der letzte und schwerste Bombenangriff auf Dortmund, den die Stadt jemals erlebt hat. Man sprach von 12.000 Toten. Die Justizverwaltung hat auf eigene Verantwortung alle Jugendlichen freigelassen und alle Erwachsenen, die eine Strafe unter sechs Monaten hatten.

Am Montag, den 19. März, wurde ich entlassen und vorher dem Gefängnisdirektor vorgeführt, der sagte: „Die Gestapo wollte dich wiederhaben, aber wir haben dich nicht ausgeliefert, was das bedeutet, wirst du später begreifen, erinnere dich dann daran."

Ich habe es dann begriffen, als ich von den Erhängungen in den Parks gehört habe."

 

Nach Kriegsende erhielt Buschmann lediglich eine Strafe von zwei Jahren Freiheitsentzug durch die deutsche Justiz.

 


 

Herbstreise 1944, 1. Akt

Ein Mißgeschick in 3 Akten

 

(Neue Arbeiterpresse, Nr. 403, 21. Dezember 1984)

 

Vun Kurt Piehl

 

Wir veröffentlichen hier den ersten Teil einer neuen Geschichte von Kurt Piehl über seine Erlebnisse als jugendlicher Edelweisspirat.

Kurt Piehl ist im Dortmunder Norden aufgewachsen und schloss sich als14jähriger den Edelweisspiraten an, in Dortmund auch „Latscher" genannt. Dies waren Gruppen von Arbeiterjugendlichen in verschiedenen Großstädten, die sich gegen die Hitlerjugend zur Wehr setzten und in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs gegen die Nazis Widerstand leisteten. Bis heute werden sie als „kriminelle Banden" in den Akten der Justiz geführt.

Kurt Piehl ist dem Tod durch die Gestapo bei Kriegsende nur knapp entronnen. Nach dem Krieg arbeitete er als Eisenflechter in einer Baufirma in der Nähe von Dortmund, wurde Betriebsratsvorsitzender und Orts-Vorsitzender der IG Bau-Steine-Erden in Bergkamen-Oberaden. Seit der Pleite der Baufirma 1982 ist er arbeitslos.

 

1. Akt: Flucht und Verhaftung

 

Der Anblick brachte meine staatspolitischen Vorstellungen ins Wanken - so schön war er. Mein Freund Tönne und ich wanderten durch das Sauerland. Es war Anfang September 1944 und früher Morgen. Der Weg bog leicht nach links, und wir blickten in das bewaldete Tal. Unten gab es einen Bach - kaum sichtbar, aber deutlich zu hören. Die Baumstämme waren in weißen Bodennebel gehüllt. Daraus ragten die Kronen und Spitzen hervor. Blätter und Tannennadeln waren mit Rauhfrost bedeckt und glitzerten in der Morgensonne. Der Himmel war blau und wolkenlos.

„Mensch, Curry, guck Dir das an! Ob das wohl Zucker aussieht?" Tönne stellte unseren Koffer ab und berauschte sich an der Aussicht.

Ich nickte nur, Worte waren hier überflüssig. Und dann nahm ich Abschied von einer liebgewordenen Illusion.

Im Herbst 1943 hatte sich die politische Situation so entwickelt, dass wir, die Dortmunder Edelweisspiraten, einen verlorenen Krieg für das kleinere von zwei möglichen Übeln hielten. Ein Großdeutschland würde es dann nicht mehr geben. Meine persönliche Lieblingsalternative war die Republik Dortmund - eine unrealistische Vision, über die ich jedoch ganz reale Vorstellungen hatte. Aber damit war es jetzt vorbei. Diese herrliche Landschaft in der Nähe von Kirchhundem sollte zu meinem Land gehören und nicht ausgegrenzt werden.

Tönne und ich waren auf der Flucht vor der Staatsgewalt. Nicht, dass sie uns direkt verfolgt hätten, so war das nicht. Aber wenn wir nicht geflohen wären, hätte es sicherlich Ärger gegeben - mit der Gestapo und der Streifen-HJ. In den letzten Wochen war einiges zusammengekommen.

Nach leidvollen Gestapokontakten im vergangenen Winter begannen meine sommerlichen Ärgernisse mit einem Kommisbrot.

Ein freundlicher Bekannter, der z.Zt. gerade die Sowjetunion erobern musste, hatte uns eins geschickt. Das Feldpostpäckchen war 6 Wochen unterwegs gewesen. Das Brot war knüppelhart und ungenießbar. Ich erzählte das einem befreundeten „Badoglio", einem italienischen Kriegsgefangenen namens Adolfo. Dieser erklärte mir, man könne hartes Brot in Wasser einweichen und als Brei essen. Wenn man richtigen Hunger habe, schmecke das gar nicht so schlecht. Am nächsten Tag schenkte ich ihm das Brot. Bei der Übergabe auf unserer Baustelle wurden wir von Emil beobachtet. Emil war Zimmermann und Parteispitzel. Seine beruflichen Fähigkeiten waren ebenso bescheiden wie seine Intelligenz. Seine Moral war noch bescheidener.

„Sowas hab ich gerne", raunzte er mich an. „Anständige Deutsche ham nix zu fressen. Aber Du musst gutes Brot an so'n Scheiß-Itaker verschenken. Dich sollte man glatt weg'n Sabotage melden."

„Kümmer Dich um Dein' eigenen Dreck, Du Arschloch", konterte ich. „Sonst fängste' Dir'n paar am Ballon". Das war weder klug, noch weise, gesprochen, aber ich war wütend.' Adolfo hatte sich inzwischen lautlos verdrückt - mit dem Kommisbrot,

„Erst Sabotage und Hochverrat und dann noch frech wer'n," wetterte Emil. „Du wirst schon sehn, wasse davon has'."

Bevor ich antworten konnte, mischte sich Franz Hanke ein; ebenfalls ein Zimmermann. Er wies meinen Gesprächspartner freundlich darauf hin, wie leicht man auf einem Baugerüst stolpern kann, und wie ungesund das ist, wenn so etwas in 20 Meter Höhe passiert. Emil meckerte noch ein bischen, zog dann aber mürrisch ab.

Das war das erste meiner Ärgernisse, das letzte war es nicht. Da gab es u.a. die beiden Erfassungen, die von der Hitlerjugend veranstaltet wurden um deren verlorene Mitglieder wieder einzufangen, Diesen HJ-Gelüsten war ich nur mit Mühe, Not und viel List entgangen. Ferner war es bekannt geworden, dass ich Teilnehmer der Corso-Schlacht war. Bei dieser großartigen Keilerei im Cafe Corso hatten die Streifenpimpfe fürchterliche Prügel bezogen. Und dann hatte ich einmal Überstunden verweigert und dabei erklärt, ich sei kein Kriegsverlängerer. Das hing damit zusammen, dass die Arbeit angeblich dem Endsieg diente.

Meine vorläufig letzte Missetat hatte ebenfalls mit der Arbeit für den Endsieg zu tun. Um einer solchen Tätigkeit möglichst auszuweichen, war ich in kerngesundem Zustand zum Arzt gegangen, um mich krankschreiben zu lassen. 10 Minuten bevor ich in das Behandlungszimmer kam, rauchte ich eine Zigarette, die ich am Vortag in Essig getaucht hatte. Danach litt ich dann an Schweißausbrüchen, Schüttelfrost und starkem, unregelmäßigem Herzklopfen. Die Beschwerden hielten etwa eine halbe Stunde an. Das reichte aus, um für 3 Tage krankgeschrieben zu werden.

Das Arbeitsunfähigkeitsattest musste ich selbst auf einen mitgebrachten Zettel schreiben. Der Arzt setzte nur Stempel und Unterschrift darunter. Da ich einen weichen Bleistift benutzt hatte, ließ sich die Bescheinigung leicht radieren. Darum verlängerte ich meine Arbeitsunfähigkeit erstmal um eine Woche. Am Ende dieser Zeit hatte sich immer noch keine Arbeitswut bei mir eingestellt. Folglich radierte ich noch einmal. Nach 3 Freizeitverlängerungen war die Radiererei jedoch offensichtlich geworden, und ich fiel auf. Im Zusammenhang mit meinen anderen Untaten war das Grund genug für mich, die Arbeit endgültig einzustellen. Den unvermeidlichen Endsieg wollte ich in einer Gegend mit einem gesünderen Klima abwarten.

Das war in den letzten Augusttagen gewesen.

Ich reiste allerdings nicht sofort ab, sondern blieb noch einige Tage in Dortmund. Dabei fiel meinem Freund Tönne auf, dass er sich in der gleichen Situation befand, wie ich. Also beschloss er, mit mir auf Tour zu gehen. Tönne war einige Monate jünger und ein ganzes Stück länger als ich. Er war stark, gutmütig und meistens gut gelaunt. Gegen so einen Reisegefährten - hatte ich keine Einwände.

Am Sonntag, dem 3. September 1944 fuhren wir mit dem Zug nach Kirchhundem ins Sauerland. Abgesehen von einer harmlosen Polizeikontrolle in Hagen blieb die Reise ereignislos. In Kirchhundem gab es ein RAD-Lager (RAD-Reichsarbeitsdienst), und in diesem gab es einen taufrischen RAD-Mann, unseren Freund Heinz Böhmer. Von ihm mussten wir uns natürlich verabschieden, das war doch wohl klar.

Am Nachmittag trafen wir in dem Gasthof in der Nähe des Lagers ein. Es dauerte noch etwas bis die ersten RAD-Leute hier einkehrten. Wir fragten nach Heinz, und einer lief ins Lager zurück, um ihn zu holen.

„Da habt Ihr aber Massel gehabt, dass Ihr nich` gestern gekommen seid", sagte ein RAD-Mann. „Heinzken hatte nämlich drei Tage Ausgangssperre".

 

Corso-Schlacht

 

„Was lag denn an?" frage ich interessiert. Heinz war immer für ein paar Überraschungen gut. Zuletzt hatte ich das im Juli gemerkt, während der Corso-Schlacht. Da hatten wir noch Seite an Seite gekämpft.

„Lass ihn das man selber erzähl'n". meinte der RAD-Mann. „Das' is' seine Geschichte''

Als Heinz kam, freute er sich über unseren Besuch. Wir umarmten uns, wie das bei Dortmunder Edelweisspiraten üblich war. Dann setzten wir uns Zusammen und er erzählte von seiner Bestrafung.

„Also', das war so. Ich war da nachts am Wache schieben und hatte'n unheimlichen Lungenschmacht. Und auf Wache darfste nich' torfen (rauchen); das is' nämlich schwer verboten. Und wie ich das nicht länger aushalten konnte, hab ich mich einfach inne Latrine verdrückt und hab mir so'n paar durche Lunge gezog'n. Das war garnich auf gefall'n, wenn ich mich nich' so gemütlich hingesetzt hätte. Hier is' es inne Nacht schon ziemlich kühl, und auf'm Scheisshaus war das richtig mollig warm: Und wie ich da gesessen hab, bin ich glatt eingepennt. Ich bin erst wach gewor'n, als mich der Vormann, wo g'rade U.v.D. war, angebrüllt hat. Mann oh Mann, hab ich'n Schreck' gekriegt. Und weil mir keine Ausrede einfallen tat, hab ich erstma' so gemimt, als ob ich noch am röcheln wär.

Den duss'ligen Kapo (Unteroffizier) is' das dann zu blöde gewor'n, und er hat mich gepackt und anständig geschüttelt. Und genau das war verkehrt. Mir war sowieso schon alles egal, und wie der mich so am schütteln war, hab ich dann Maß genomm'n und hab ihm anständig was kommen lassen. Der sah vielleicht lecker, aus, kann ich Euch sag'n.

Am nächsten Tag mussten wir dann beide zum Rapport. Mir harn se'n strengen Verweis und 3 Tage Ausgangssperre verordnet; wegen Wachvergeh'n vore Vereidigung. Da soll das noch nich' so schlimm sein. Aber der Vormann hat sich 14 Tage Dicken (verschärfter Arrest) eingehandelt. Was der gemacht hat, war'n tätlicher Angriff auf n Untergebenen. Der hätte mich nämlich erst frag'n müssen,' ob er mich anpacken darf. Und was ich gemacht hab, war berechtigte Notwehr, ham se da gesagt.

Meine 3 Tage Ausgehverbot sind jetzt rum. Das arme Schwein von Kapo kann seine Zeit aber erst abreißen, wenn er außen Lazarett kommt. Wenn man das richtig bedenkt, is' es manchma' garnich' so schlecht beim RAD."

Dann erzählten Tönne und ich von unseren Absichten. Mein Kumpel wollte bei einer Tante in Freiburg bleiben und dort den Endsieg abwarten. Ich hatte ebenfalls eine passende Tante, aber die wohnte in der Schweiz - gleich hinter Basel. Und dort lag mein Reiseziel.

Heinz erkannte sofort die Schwachstellen unserer Pläne.

„Wenn Deine Tante genug anne Füße hat, kann se Dich wohl ohne Marken durchzieh'n", sagte er zu Tonne. „Aber wenn nich'..." Er hob skeptisch die Schultern. „Dann wirste vor Kohldampf die Tapeten vonne Wände fressen".

„Aber nur, wenn's da noch Tapeten und Wände gibt", erklärte Tönne grinsend.

„Inne Schweiz ham se natürlich Achiele (Essen) satt", fuhr Heinz fort. „Aber dazu musse ers' ma' übere Grenze komm'n. Und das is' der Rhein. Ich hab gehört, da unten soll'n nur SS-Posten sein. Wenn de die triffst, ballern die gleich ihre Em-Pis (Maschinenpistolen) leer. In so 'ne Gegend kannste eh'r über'n Jordan gehn (sterben), als über'n Rhein. Aber Ihr müsst selber wissen, was Ihr

tut".

Heinz hatte zweifellos recht, aber das hatten wir schon vorher gewusst. Und umkehren kam für uns nicht in Frage.

Um 22 Uhr war Zapfenstreich für unseren Kumpel. Wir trennten uns eine Viertelstunde vorher. Dann suchten Tönne und ich ein Nachtquartier. Das war kein großes Problem. Wir verließen Kirchhundem in südlicher Richtung, kletterten dann einen Hang hinauf, und krochen bäuchlings ein Stück in den Tannenjungwald hinein. Hier waren wir sowohl gegen Sicht, als auch gegen etwaigen Regen schützt. Allerdings war unser Koffer ausgesprochen hinderlich.

Wir besaßen zwei Decken. An einer passenden Stelle breiteten wir eine als Unterlage aus, legten uns Rücken an Rücken darauf und deckten uns mit der anderen zu. Die Nacht erwies sich als weniger angenehm, als wir erhofft hatten. Unter uns gab es Ameisen und die Mücken über uns machten Überstunden. Außerdem zog Tönne mir dauernd die Decke weg. Mindestens fünf bis sechsmal wurde ich dadurch wach. Als ich ihn zur Rede stellte, drehte er den Spieß um. Angeblich war ich derjenige, der immer an der Decke zog. In dieser Nacht wurde unsere Freundschaft auf eine harte Probe gestellt und kühlte merklich ab.

Als es hell wurde, waren wir müde, mürrisch und reizbar. Wir machten uns schweigend auf den Weg. Nach einer Weile kamen wir an einen Bach, wo wir uns waschen konnten. Das besserte unsere Laune, aber so richtig war das immer noch nicht.

Der Weg bog etwas nach links ab. Da hatten wir das Tal im Blickfeld - unten der weiße Frühnebel und über' uns strahlende Morgensonne. Und alles, was uns nachts geärgert hatte, war ab sofort vergessen.

Die Schönheit der Natur zu lieben, ist leicht. Schwieriger ist es, mit mangelhafter Ausrüstung in ihr zu übernachten.

An diesem Tag wanderten wir nebst Koffer bis in den späten Nachmittag hinein. Das war recht beschwerlich,- jeweils für den, der gerade tragen musste. Wir aßen Fallobst und selbstgeerntete Feldfrüchte, vorwiegend Möhren. In einem Dorf mit Bahnhof erreichten wir einen Personenzug, der bis Frankfurt durchfuhr. Hier kamen wir gegen 21 Uhr an.

So ein Großstadtbahnhof war ein gefährliches Pflaster. Es gab Polizei- und HJ-Streifen, und sicherlich trieben sich auch die Stapolumpen (Gestapo) hier herum.

„Was meinste, Curry, ob sich hier was zu spachteln (essen) organisiert?" fragte Tönne unschlüssig.

Wir besaßen noch ein paar 50-Gramm-Brotmarken und einige 10-Gramm-Abschnitte für Fett und Zucker. Ferner hatte Tönne noch ca. 50 Zigaretten. Das war unser wertvollster Schatz. Er ging auch sehr sparsam damit um und genehmigte pro Mann und Tag nur 3 Stück zum rauchen. Falls wir längere Zeit unterwegs sein würden, müsste ein Teil der Zigaretten gegen Lebensmittel eingetauscht werden.

„Hier nich'," wehrte ich Tönnes Ansinnen ab. „Wenn de hier mit sowas anfangs', ham se uns gleich beim Schlawickel. Wir müssen hier nix wie weg."

Zwei langhaarige Sechzehnjährige, die abends am Bahnhof Lebensmittel auftreiben wollten,, fielen hier genauso auf, wie ein Zebra im Kaninchenstall. Und das wollten wir gerne vermeiden.

Der Frankfurter Hauptbahnhof ist eine Kopfstation. Eine Durchfahrt ist nicht möglich. Wir standen noch immer da, wo wir ausgestiegen waren. Ziemlich weit vom Schienenende entfernt. Hier kamen nur vereinzelte Reisende vorbei. Und die stiegen in den Zug auf der anderen Bahnsteigseite.

„Weinheim, Bergstraße, Abfahrt 21,18 Uhr", las ich auf der Anzeigetafel. „Bleib hier stehen", sagte ich zu Tönne. „Ich besorg eben Fahrkarten". ,,ls' das auch die richtige Strecke?" fragte mein Kumpel besorgt.

„Klar. Das muss weiter im Süden lieg'n. Wenn es nämlich nördlich wär, tat ich es kenn'n. Die Richtung stimmt schon".

Tönne war ein einsichtiger Mensch und ließ sich überzeugen.

 

Paket

 

Der Zug war nur mäßig besetzt. Das war ungewöhnlich und angenehm. Uns gegenüber saß eine dicke mittelalterliche Frau mit ihrer dicken jungen Tochter. Ich aß eine rohe Möhre und mein Kumpel mehrere halbreife Äpfel. Unsere Mitreisenden sahen uns schweigend zu. Als sie in Darmstadt ausstiegen, ließ die Frau ein Paket mit belegten Broten liegen.

„Danke!" riefen wir ihr nach, aber sie reagierte nicht.

Wir hatten jetzt die Abteilnische für uns - eine gute Gelegenheit, ein kleines Nickerchen zu machen. Nach den Strapazen der letzten 24 Stunden würde uns das gut zu Gesicht stehen. Wir machten uns lang und schliefen sofort ein; trotz der harten Holzbank die uns als Lager diente. Das gleichmäßige Rattern versenkte uns in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Es waren nicht die Explosionen; die uns weckten, sondern die berstenden Fensterscheiben. Auf der anderen Seite des Mittelganges fielen, sie klirrend in den Wagen. Auf unserer Seite nicht. Es hatte dreimal, gekracht - nicht sehr gewaltig, aber ziemlich nah. Dazu gab es Bordwaffenbeschuss, kurze Feuerstöße in ständiger Wiederholung. Das Dröhnen der Flugzeugmotoren war unheimlich laut. Beim Anflug schwoll es noch an. So kannte ich das noch nicht. Das war nicht das gleichmäßige Brummen der viermotorigen Bomber. Das war ..., ja, was zum Teufel war das, eigentlich?

„Das müssen Jabos (Jagdbomber) sein," sagte Tönne. „Die machen hier alles zur Sau. Gleich sind wir dran". „Wo sind wir eigentlich?" „Ich hatte noch Schwierigkeiten mit dem Wachwerden.

„Keine Ahnung. Sieht aus wie'n' Verschiebebahnhof. Wir stehen hier fast am Rand. Nur ein Gleis, dann is' da ne Böschung".

Hinter uns anschwellendes Motorengeräusch. Dann ein kurzes Zischen und wieder drei Bombeneinschläge.

Wir waren schon zur Tür gerobbt. Tönne langte hoch, zum Türhebel. „Jetzt aber raus!!" brüllte er.

Ein Sprung und drei Schritte, dann rutschten wir samt Koffer die Böschung hinunter. Wir landeten sanft in hohen Brennesselstauden. Über uns spritzten Steine und Erdfontänen hoch. Das waren die Einschläge der Bordwaffengeschosse. Ich hatte noch nie so gerne zwischen Brennesseln gelegen wie jetzt.

Der Jabo donnerte im Tiefflug über uns hinweg und zog dann hoch. Auf der anderen Seite des Bahngeländes krachten noch einmal drei Bomben. Dann waren da nur noch die Feuerstöße der Maschinenwaffen - und der Motorenlärm. Aber der tat uns nichts.

Wir sprangen auf und stolperten den schmalen Pfad neben der Böschung entlang. Vor uns war die dunkle Silhouette eines Hauses zu sehen. Da wollten wir Schutz suchen. Es war der Bahnhof von Weinheim an der Bergstraße. Aber das erfuhren wir erst, als wir im Luftschutzkeller ankamen.

Der Schutzraum war nur mäßig besetzt. Hier hockten allenfalls ein Dutzend Reisende herum. An einem Tisch saßen 2 Soldaten und ein Eisenbahner. Wir setzten uns dazu.

„Das war knapp", stöhnte Tönne aufatmend. Aus Anlass unseres Überlebens genehmigte er uns eine Sonderzuteilung - eine Zigarette, für jeden eine halbe.

Die Männer an unserem Tisch grinsten herablassend.

„Ich will Euch mal zeigen, was knapp is'," sagte der Eisenbahner, ein Mann von etwa fünfzig Jahren. Er legte eine Brieftasche und ein Zigarettenetui auf den Tisch. Die Brieftasche wies ein durchgehendes Loch auf. Bei dem Zigarettenetui war die eine Seite durchschossen, die andere ausgebeult.

„Das war vor'n paar Wochen anne Ostfront. Ich hab Verladepapiere empfangen, und weil ich nich' wusste, wohin damit, hab ich die'n paar mal' gefaltet und inne Brieftasche getan. Das war lästig, weil das so dick war. Und dahinter steckte noch mein Zigarettenetui. 'Ne Stunde später legten wir Zunder, und der Iwan griff an. Unsere Landser sind getürmt. Und wir alten Knacker vonne Reichsbahn mussten mal wieder den Rückzug decken. Der ganze Papierkram war inzwischen für'n Arsch - is doch klar. Später kriegte ich ein' verplättet und bin erstmal weggetreten. Als ich wieder zu mir kam, war'n wir fleißig am retirier'n. 3 Mann auf eine Lok. Das war der Rest von unser'n Haufen. Und wenn ich das nutzlose Papierzeug nich' inne Tasche behalten hätte, dann läg ich jetzt mit'n kalten Arsch in Rußland.

Vor 2 Wochen ham se mich nache Westfront abkommandiert - gleich wieder rin inne dickste Scheiße. Und dann mussten wir wieder retirier'n gehn. Momentan bin ich g'rade ein Versprengter; Ich sag dies nur, damit Ihr wisst, was knapp ,is'."

Am nächsten Morgen erwischten wir einen Zug nach Heidelberg. Hier hatten wir 2 Stunden Aufenthalt. Auf dem Bahnsteig stellte ein „Heldenklau" eine Marschkompanie zusammen. Ob Versprengte, Abkommandierte oder Fronturlauber, hier wurde alles eingefangen, was nach Soldat aussah. Da musste wohl ein Loch in der Front gestopft werden.

Tönne und ich verzogen uns zum Ausgang hin. Nach Alter und Größe konnten wir leicht für Soldaten gehalten werden; für entlaufene Soldaten, denn wir trugen ja keine Uniformen. Falls da jemand einem falschen, Glauben anhing, konnten wir froh sein, wenn wir nur in den Marschkompanie landeten. Wahrscheinlicher wären ein Strick um den Hals und ein halber Meter Luft unter den Füßen. Plötzlich pfiff eine Lokomotive schrill und anhaltend. Das hörte sich an wie eine heranjaulende Granate. Die Soldaten der Marschkompanie warfen sich deckungsuchend, lang auf den Bahnsteig; die Zivilisten, nicht, nur die Soldaten. Die mussten wohl in letzter Zeit einiges durchgemacht haben.

Der Zug nach Karlsruhe wurde in Heidelberg eingesetzt und fuhr pünktlich ab. Die Wagen waren zeitgemäß überfüllt, nur die beiden ersten blieben leer. Das waren die Schutzwagen. Bei Tieffliegerangriffen wurde in der Regel nur die Lok beschossen. Wenn dabei mal eine Salve danebenging, traf es allenfalls die leerfahrenden Wagen. Es gab natürlich Ausnahmen, und die waren ungemein blutig.

 

Jabos

 

Am späten Vormittag war es dann soweit. Über uns kreisten 2 Jabos. Sie flogen im Tiefflug an, zogen hoch, wendeten und flogen erneut an. Aber sie schossen nicht.

Die Leute im Zug wurden unruhig. Einige begannen zu schreien. Wir saßen direkt im Vorfeld der Panik.

„Die Lumpen spielen Katz und Maus mit uns", knirschte Tonne wütend. „Man sollte die Schweine..." Dann schwieg er und sagte nicht mehr, was man hier sollte.

Meine Anatomie war in Unordnung geraten. Das Herz war tief nach unten, gerutscht, aber der Magen saß mir direkt in der Kehle.

„Wie is' es denn mit'n Stäbchen (Zigarette)?" fragte ich und unterdrückte das Würgen im Hals. „Wenn wir lebendig hier rauskomm'n, kannste das ja auf uns're Tagesration anrechnen."

Sonst brauchte ich vor ein Uhr gar nicht nachfragen. In dieser Hinsicht war Tönne eisern. Er wusste aber auch, dass tote Leute keine Zigaretten mehr brauchten. Jetzt noch zu sparen, wäre purer Blödsinn gewesen.

Er langte gerade nach der Zigarettenschachtel, als der Zug plötzlich' bremste. Ich saß in Fahrtrichtung und flog gegen ihn. Wir hielten auf freier Strecke. Rechts von uns war Wald, links Wiesen und Felder.

Draußen liefen zwei oder drei Eisenbahner am Zug entlang.

„Alles raus!" brüllten sie. „Schnell! Steigt aus Leute und rettet Euch! 'N bischen Beeilung und nicht so müde!"

Obwohl es eben noch nach einer Panik ausgesehen hatte, verhielten sich die Leute überraschend vernünftig. Die Reisenden schnappten ihr Gepäck und 'verließen schnell, aber ruhig den Zug. Das klappte wie einstudiert.

„Ab in den Wald!" kommandierten die Eisenbahner. „Nicht stehn bleiben! Laßt gehn, Leute schlaft nicht ein!"

Über uns kreisten die Jabos - lauernd und beutelüstern.

Wir drangen vielleicht 150 Meter in das Gehölz ein. Dann blieben wir einfach stehen und warteten. Einige setzten sich auf ihre Gepäckstücke und warteten auch.

Die Jabos stürzten sich auf den Zug und, zersiebten ihn mit ihren Bordkanonen - von vorne nach hinten und umgekehrt - immer wieder.

„Die haben gewartet, bis wir da raus sind", sagte eine Frau erstaunt. „Nicht zu glauben. Das sind ja richtige Kavaliere."

"Ich dachte, mit uns wär Sense", sagt ich zu Tönne und hielt die Hand auf. „Du wolltest doch'n Stäbchen raustun."

"Nix zu woll'n," lehnte er kategorisch ab. "Bis ein Uhr is' noch massig Zeit."

Wir waren kurz vor dem Bahnhof Karlsruhe-Durlach. Bis zur Innenstadt waren es noch 5 Kilometer. Diesen Weg mussten wir zu Fuß machen. Nicht nur Tönne und ich. Über die Eisenbahnschwellen stolpernd, bewegte sich die Karawane der Reisenden gepäckschleppend vorwärts. Dabei sahen wir, wie die' Stadt in einem mittäglichen Luftangriff zerbombt wurde.

Karlsruhe sah aus, wie eine Stadt nach einem Bombenangriff aussieht: Brennende Häuser und stinkende Schuttberge, die vor einer Stunde noch Häuser gewesen waren. Und auch wo „weiter nichts" passiert war, gab es abgedeckte Dächer und zersplitterte Fensterscheiben. Die Dachpfannen und Glasscherben lagen mit anderem Trümmerschutt auf dem Straßenpflaster.

Die Stadt war belebt. Verzweifelte und glückliche Menschen rannten ziellos umher. Das war immer so. Die Verzweifelten hatten ihre Lieben oder ihre Habe verloren - oder beides. Die Glücklichen waren froh, dass sie noch einmal davongekommen waren.

Es war schon fast zwei Uhr, als wir hier ankamen, und Tonne rückte endlich die längst überfällige Zigarette heraus. Am Bahnhof hatten wir erfahren, dass wir von hier nicht weiterkamen. In den nächsten 3 oder 4 Tagen konnte hier kein Zug abfahren. Die Wehrmacht hatte LKW's eingesetzt hauptsächlich zur Evakuierung der Ausgebombten. Aber Durchreisende konnten auch mitfahren. Wir wollten in Richtung Freiburg-Basel und fanden einen Wagen, der nach Pforzheim fuhr.

„Die Richtung stimmt nicht ganz", erklärte der Fahrer, ein Obergefreiter der Infanterie. Aber von hier kommt Ihr nicht anders weg. Und Pforzheim ist noch 'ne heile Stadt. Von da aus könnt Ihr überall hinfahren". Er ließ uns in seine Straßenkarte blicken.

Tonne sah mich fragend an. Ich nickte. „Liegt nur'n Stücksken weiter östlich", meinte ich. „Das hat nix zu sagen. Und irgendwie müssen wir ja weiter,"

Eine knappe Stunde später waren wir in Pforzheim. Unsere Mitfahrer verliefen sich schnell. Die kannten sich hier aus und hatten ihre Anlaufziele. Aber wir standen allein, in der fremden Stadt und wussten noch nicht mal, in welcher Richtung der Bahnhof lag. „Weißte was?" fragte ich. „Sag nich', Du willst schon wieder torfen", meckerte Tonne.

„Das auch", räumte ich ein „Aber wenn ich nich' bald was zu spachteln (essen) krieg, geh' ich ein, wie'n Kaktus ohne Sonne."

Wir gingen die Straße entlang und fanden eine Bäckerei. Das war purer Zufall. Es gab nämlich keinen Menschen hier, den wir hätten fragen können. Die Stadt schien völlig ausgestorben zu sein. ' Für ein paar Brot- und Zuckermarken erstanden wir zwei tellergroße Blaubeertorten - für jeden eine. Der Boden bestand aus schwarzbraunem Teig, der sogar etwas süßlich schmeckte. Der Belag war eine tintenblaue Klebmasse. Er schmeckte so, wie man sich bei IG Farben den Geschmack von Blaubeeren vorstellte. Die Bäckersfrau erlaubte uns, die frugale Köstlichkeit gleich im Laden zu verzehren. Sie spendierte sogar jedem noch ein Glas Magermilch. Pforzheim war gar nicht so übel. Ich hatte schon manchmal schlechter gegessen, allerdings nicht sehr oft.

Nachdem uns die freundliche Frau noch den Weg zum Bahnhof erklärt hatte, verließen wir den Laden. Draußen wurden wir schon erwartet. Als wir auf die Straße hinaustraten, standen wir vor zwei Polizisten, die uns umgehend verhafteten. * **

 


 

Herbstreise 1944

Ein Missgeschick in 3 Akten

Neue Arbeiterpresse Nr. 404 4. Januar 1985

 

Wir veröffentlichen hier den zweiten Teil einer neuen Geschichte von Kurt Piehl über seine Erlebnisse als jugendlicher Edelweißpirat.

Kurt Piehl ist im Dortmunder Norden aufgewachsen und schloss sich als14jähriger den Edelweisspiraten an, in Dortmund auch „Latscher" genannt. Dies waren Gruppen von Arbeiterjugendlichen in verschiedenen Großstädten, die sich gegen die Hitlerjugend zur Wehr setzten und in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs gegen die Nazis Widerstand leisteten. Bis heute werden sie als „kriminelle Banden" in den Akten der Justiz geführt.

Kurt Piehl ist dem Tod durch die Gestapo bei Kriegsende nur knapp entronnen. Nach dem Krieg arbeitete er als Eisenflechter in einer Baufirma in der Nähe von Dortmund, wurde Betriebsratsvorsitzender und Ortsvorsitzender IG Bau-Steine-Erden in Bergkamen-Oberaden. Seit der Pleite der Baufirma 1982 ist er arbeitslos.

 

II. Akt: Im Knast

 

Sie brachten uns zur nächsten Polizeiwache. Sie, das waren zwei freundliche Polizisten von etwa 45 Jahren. Der eine war untersetzt und dunkelhaarig, der andere groß, schlank und blondgraumeliert. Das sah man aber nur an den Schläfen, weil sie ihre Tschakos trugen.

Die Ursache unserer Verhaftung war ausgesprochen blöde Abgesehen davon, dass langhaarige Jungen mit Koffer immer verdächtig wirken, gab es keinen vernünftigen Grund, uns festzunehmen.

Wir waren aufgefallen, weil wir verbotenerweise bei Fliegeralarm auf der Straße waren. In Städten mit einschlägiger Bombenerfahrung kümmerte sich kein Mensch mehr um dieses Verbot. In Pforzheim war das anders. In dieser heilen Stadt nahm man sowas noch sehr genau. (Anmerkung: Als ich im Juni 1945 erneut in dieser Gegend war, hörte ich, dass Pforzheim in den letzten Kriegsmonaten zu 85% zerstört worden sei). Wir hatten den Polizisten erzählt, wir seien auf einer Urlaubsreise nach Freiburg. Und der Bombenangriff auf Karlsruhe habe uns zu dem Umweg über Pforzheim veranlasst. Das konnten sie nicht begreifen. Von Karlsruhe nach Freiburg fuhr man nicht über Pforzheim. Und ein Bahnhof, von dem keine Züge mehr abfuhren, weil da ein paar Bomben gefallen waren, den gab es nicht für diese biederen Gesetzeshüter. Sie glaubten nämlich unerschütterlich an den Endsieg und den Fahrplan der Reichsbahn.

Dann wollten sie noch die Urlaubsbescheinigungen unserer Arbeitgeber sehen. Nur damit könnten wir beweisen, dass wir tatsächlich Urlaub hätten, sagten sie. Nun mochten solche Bescheinigungen in Pforzheim üblich sein, in Dortmund hatten wir noch nie davon gehört. Wir sagten das auch, aber natürlich glaubten sie uns nicht. Aber sonst waren sie ausgesprochen nette Polizisten.

Auf der Wache wurden wir auch freundlich empfangen und gründlich gefilzt. Als sie bei mir einen Dolch und bei Tönne einen Schlagring fanden, schüttelten sie befremdet die weisen Häupter. Sie sagten aber nichts dazu. Unsere Edelweissabzeichen erregten Verwunderung. Nicht, dass wir sie hatten, sondern weil wir sie unter dem Jackenaufschlag trugen. Das fanden die Herren unbegreiflich. Dann wurde uns alles abgenommen, sogar unsere Gürtel. Nur die Taschentücher durften wir behalten, aber die waren sowieso nicht mehr sauber.

Wie das auf Polizeiwachen üblich ist, landeten wir schließlich in einer Zelle.

„Jetzt ham se uns beide Öhr'ns (Ohren), Altmeister'', sagte Tönne,, als wir uns auf der Holzpritsche niederließen. „Und das schon am dritten Tag", erwiderte ich missmutig. „Wo ich am meisten Rochus (Wut) drauf hab, is' weil das nich durch unse Düssligkeit passiert is', sondern durch die, von diese Kleinstadtspitzel (Polizisten). Wenn wir das später mal erzähl'n, lachen uns unse' Kumpels glatt aus."

Insgeheim hatten wir ja beide damit gerechnet, dass wir vielleicht mal gekascht (gefangen) würden; aber keineswegs so früh - und nicht unter so undramatischen Umständen. Für gestandene Edelweisspiraten war das direkt unwürdig. Wir waren mehr beschämt, als unglücklich.

Nach ungefähr einer Stunde wurde ich aus der Zelle geholt und zur Vernehmung gebracht. Tönne blieb zurück.: Der Beamte hinter dem Schreibtisch war wohl der Häuptling hier - Reviervorsteher oder sowas. Er war nämlich der einzige, der keinen Tschako, sondern eine Schirmmütze trug. Momentan lag das gute Stück vor ihm auf dem Schreibtisch.

 

Birschle, Birschle"

 

Er tippte mit zwei Fingern auf einer Schreibmaschine herum. Ich stand ihm gegenüber - auf der anderen Seite des Schreibtisches. Rechts von mir war das Fenster zur Straße. Wegen des schönen Wetters waren beide Flügel weit geöffnet.

„Name?" fragte der Polizist.

„Kurt Piehl". - Hier gab es noch nicht mal Gitter vor den Fenstern. Sowas hatte ich in Dortmund noch nicht gesehen. Die schienen hier wirklich nicht ganz auf der Höhe zu sein.

„Geboren?"

"Jawoll."

Der Beamte grinste. „Wann de gebore bischt, will i wisse. Oder hebbe se die mit e jeele Riewel (gelbe Rübe-Möhre) vom Baam (Baum) runnerg'lockt?"

Ich grinste freundlich und ein bischen arrogant.

„Das soll am 6. Januar '28 gewesen sein", sagte ich dann frech. „Aber das weiß ich nur vom Hörensagen. Erinnern kann ich mich nich' mehr- beim besten Willen nich!"

Der Mann lachte dröhnend los.

„Birschle, Birschle (Bürschchen), du bischt mer ebbes.."

Mehr verstand ich nicht. Ich packte rechts und links an den Fensterrahmen, setzte ein Bein auf die Brüstung, zog mich hoch und sprang. Bis zum Straßenpflaster war es nur ein guter Meter. Ich wandte mich nach links und rannte los.

Hinter mir wütendes Gebrüll. Fünf oder sechs schreiende Polizisten verfolgten mich.

Die Straße stieg leicht an. Meine gürtellose Hose begann herunterzurutschen. Das hinderte mich an sportlichen Höchstleistungen.

Die Polizisten holten auf. Rechts von mir zweigte eine abschüssige Straße ab. Ich wäre fast daran vorbeigelaufen. Als ich rechtwinklig abbog, hätten sie mich beinahe erwischt. Sie waren schräg über die Fahrbahn gelaufen, um mir den Weg abzuschneiden.

Auf der abschüssigen Fahrbahn entwickelte ich dann eine höhere Geschwindigkeit. Meine leichten Schuhe waren für so ein Rennen besser geeignet, als schwere Polizeistiefel. Außerdem ging meinen Verfolgern die Puste aus. Sie waren ja nicht mehr ganz jung. Auf dieser Strecke konnte ich meinen knapp gewordenen Vorsprung wieder ausbauen.

Und dann begannen die Sirenen zu heulen - Entwarnung. Der Fliegeralarm hatte mehrere Stunden gedauert. Weiter unten, etwa 200 Meter entfernt, war ein Luftschutzbunker. Als ich auf 100 Meter herangekommen war, strömten die Leute aus den Bunkertüren ins Freie.

Ich rannte mit unverminderter Geschwindigkeit weiter; immer noch verfolgt von den inzwischen hechelnden Polizisten. Die ersten Leute wichen mir aus. Ein Mann jedoch, so ein kleiner, dicker mit Parteiabzeichen, stellte sich mir in den Weg- mit ausgebreiteten Armen.

„Nur über meine Leiche!" rief er pathetisch.

Ausweichen konnte ich nicht. Ich prallte also mit voller Wucht gegen den Dicken. Er fiel auf das Pflaster und ich auf ihn drauf. Ehe ich mich befreien konnte, fasste mich ein Flaksoldat ins Genick und drückte mein Gesicht nach unten. Sekunden später waren meine Verfolger da. Zwei Mann verdrehten mir die Arme und führten mich ab. Weitere drei Mann deckten unseren Rückzug mit gezogener Pistole. Eine reelle Fluchtchance hätte ich sowieso nicht gehabt. Ich hatte aber wenigstens die versäumte Dramatik nachgeholt.

 

Fluchtversuch

 

Solange wir auf der Straße waren, taten sie mir noch nichts. Aber sobald wir den Hausflur betraten, schlugen sie wütend auf mich ein. Sie stießen mich in die Wachstube, wobei ich in einen gewaltigen Schwinger hineinlief. Der stammte vom Reviervorsteher, diesem netten, freundlichen Mann, den ich bei meiner missglückten Vernehmung so erheitert hatte. Ich stellte fest, dass selbst die freundlichsten Polizisten auf Fluchtversuche ziemlich unfreundlich reagieren. Der Reviervorsteher holte noch einmal aus, aber das hätte er sich sparen können. Ich hatte mich nach bewährter Methode einfach vornüber fallen lassen und rührte mich nicht. Zwar rissen sie mich noch zweimal hoch, aber ich fing mir nur noch zwei lauwarme Ohrfeigen ein. Dann schleiften sie mich zurück in die Zelle. Die Brüder glaubten tatsächlich, sie hätten mich bewusstlos geschlagen. Dabei hatte ich mich nur so verhalten, wie Leute mit entsprechender Erfahrung das vernünftigerweise tun. Aber das konnten diese Kleinstadtgendarmen natürlich nicht wissen.

Ich flog in die Zelle hinein, und Tönne musste hinaus. Dann blieb ich bis zum nächsten Mittag allein. Abendessen, Frühstück, und Mittagessen fielen für mich aus. Das war wohl als Strafe für meinen Fluchtversuch gedacht. Allerdings war Hunger kein neuartiges Erlebnis für mich und konnte mich so schnell nicht fertigmachen.

Am Mittwoch, den 6. September 1944 wurden mein Kumpel und ich in das Pforzheimer Gerichtsgefängnis eingeliefert. Der Weg dahin war ein Ereignis, das wir beide sehr genossen. Jedenfalls haben wir später oft und gern davon erzählt. Unser Begleitpolizist war ein älterer und gar nicht freundlicher Beamter. Er knöpfte eigenhändig unsere immer noch gürtellosen Hosen auf. Damit diese nicht herunterrutschten, mussten wir sie mit einer Hand festhalten. Mit der jeweils freien Hand trugen wir gemeinsam unseren Koffer.

Der Polizist ging etwa fünf Meter hinter uns - die schussbereite Pistole in der Hand. Falls wir den Koffer absetzen würden, so drohte er, würde er sofort schießen. Desgleichen, falls wir versuchen sollten, unsere Hosen zuzuknöpfen. So schnell könnten wir gar nicht sein, um einen alten Fuchs wie ihn zu überrumpeln. Der Fußmarsch zum Gefängnis dauerte fast eine Dreiviertelstunde. Und jeder Schritt war ein Genuss. Immer, wenn uns Passanten begegneten, machten wir grimmige Gesichter. Wir wollten ja wenigstens so gefährlich aussehen, wie wir von unserem Bewacher eingeschätzt wurden.

Im Gefängnis wurden wir zuerst dem Hausvater vorgeführt, so nannte man die Asservatenverwalter. Dieser sah aus wie ein „Alter Fritz" mit Hitlerbärtchen. Er war ein bärbeißiger Knabe, der seine schlechte Laune ungeniert an uns ausließ. Das haben Hausväter so an sich. Im Vergleich zu denen, die ich später noch kennenlernte, war dieser Pforzheimer Typ jedoch direkt ein Wohltäter der Gefangenen.

Nachdem unsere Habseligkeiten gezählt und katalogisiert waren, durften wir duschen. Vielleicht mussten wir auch - wir wurden nämlich nicht gefragt. Das war uns aber egal. Eine gründliche Reinigung war ebenso angenehm, wie notwendig. Dann ging es ab in die Zelle.

Das Pforzheimer Gerichtsgefängnis war ein relativ kleines Haus - so ein richtiger gemütlicher Familienknast. Es gab hier insgesamt 33 Zellen. Tönne kam in Zelle „1" und ich in „33". Und hier blieben wir auch für die Dauer von sechs langen und langweiligen Wochen. Während dieser Zeit sahen wir uns nur bei den täglichen Freistunden.

Freistunden haben nichts mit Freiheit zu tun - im Gegenteil. Morgens um neun Uhr wurden alle Zellen aufgeschlossen, und die Gefangenen mussten auf den Flur hinaustreten. Das ging in einer Art Count-down vor sich, denn es fing im Obergeschoss bei Zelle „33" an. Dann gingen wir im Gänsemarsch die Treppe hinunter - ich immer vorneweg. Wenn die unteren Zellen alle geöffnet waren, bildete Tönne aus Zelle „1" das Schlusslicht.

Danach wurden wir in einen Hof geführt, der teils vom Haus, teilweise aber auch von einer Mauer begrenzt war. Der Mittelteil des Hofes bestand aus einem kreisrunden Rasenstück, um das ein ebenso kreisrunder Weg herumführte. Auf dieser unteren Gefangenenlaufbahn drehten wir eine Stunde lang unsere Runden. Dabei wurden wir. von zwei Maschores bewacht.

Sobald sich der Kreis geschlossen hatte, trabte ich direkt hinter Tönne her. Das war eine Gelegenheit, uns flüsternd zu unterhalten und uns gegenseitig Mut zuzusprechen. In der Regel ging das eine Viertelstunde gut. Danach spürte ich meistens eine harte Hand im Nacken und wurde unsanft aus dem Kreis gezogen. Wenn Tönne dann auf der anderen Seite war, schob mich der jeweilige Maschores zwischen zwei fremde Gefangene. Dann war es mit der Unterhaltung vorbei. Stattdessen konnten wir uns gegenseitig ansehen.

Manchmal schimpften die Maschores auch und riefen: „Hier werde net geschwätzet". Die tägliche Viertelstunde gönnten sie uns aber alle. Auch in diesem halbwegs humanen Gefängnis war der Aufenthalt eine eintönige und langweilige Sache - selbst für die alten Hasen, denen das angeblich nichts mehr ausmacht. Es gab aber noch besondere Erschwernisse. Unbestritten ist die erste Haft jeweils die schwerste. Wenn die Tür zum ersten mal zuschlägt, der Riegel vorgeschoben und der Schlüssel umgedreht wird, passiert es häufig, dass die Eingeschlossenen Tobsuchtsanfälle oder Schreikrämpfe kriegen. Ich bin davon immer verschont geblieben, habe es aber oft bei anderen miterlebt.

Eine andere Belastung sind die besonderen Bedingungen der Untersuchungshaft. Man sitzt zwar „drin", weiß aber nicht, ob und wann man wieder herauskommt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Untersuchungs- und Strafgefangenen ist der Art des „Tagezählens". Der U-Häftling zählt die Tage, die er bereits hinter sich hat; der Strafgefangene nur diejenigen, die ihn noch von der Freiheit trennen.

Es gab natürlich noch mehr Dinge, die mir hier nicht gefielen. Das Unangenehmste davon war der ständige Hunger. Bereits nach einer Woche sah ich aus wie eine aufgewärmte Leiche. Das konnte ich durch einen Blick in den justizeigenen Spiegel feststellen. Und der Hunger war daran nicht unschuldig.

Das Essen hier war gut und spärlich. Zum Frühstück gab es einen Brotkanten, der aus einem runden Laib geschnitten war. Das Brot war besser, als das von zuhause, aber viel zu knapp bemessen. Der Kanten wog allenfalls 90 bis 100 Gramm. Dazu wurde der reichsübliche Kaffee-Ersatz-Aufguss gereicht, ein Getränk, das weder Herz noch Kreislauf beeinflussen konnte.

Das Mittagessen bestand aus dreiviertel Liter Suppe. Die schmeckte gut genug um den Appetit anzuregen, war aber zu dünn um zu sättigen.

Zum Abendessen wurde wieder ein Brotkanten verabreicht, dazu etwa 10 Gramm Margarine und ein Stückchen Wurst von 40 oder. 50 Gramm. Zweimal in der Woche gab es statt Wurst und Margarine einen halben Liter Suppe. Das waren dann besondere Gefangenenfesttage.

Wären die Rationen doppelt so groß gewesen, hätten sie trotzdem nicht gereicht. Die dreifache Menge hätte allerdings eine vernünftige Ernährung gewährleistet.

 

Zelle

 

Ich lebte in einer Zelle, die äußerst zweckmäßig eingerichtet war. Links neben der Tür befand sich die Toilette - ein hölzernes Gehäuse mit Klappdeckel. Der Kübel wurde vom Flur her eingeschoben und auch entleert. Das war angenehm und weniger unappetitlich, als in anderen Gefängnissen. An der linken Wand waren ein kleiner Tisch und eine Sitzbank befestigt. Beides konnte hochgeklappt werden. Dahinter, in der Ecke unter dem Fenster, hing ein kleiner Schrank. Darin wurden Essnapf und Löffel aufbewahrt. Auf der rechten Seite gab es nur das Bett. Das war tagsüber hochgeklappt und durch Kette und Vorhängeschloß gesichert.

Der Tagesablauf war denkbar einfach und begann mit dem morgendlichen Kübelentleeren. Das nahm ich aber nur akustisch wahr, sonst hatte ich nichts damit zu tun. Etwas später erfolgte die Frühstücksausgabe. Zu dieser Zeit musste ich mein Bett schon hochgeklappt haben. Der Maschores kam in die Zelle und kontrollierte, ob das Vorhängeschloß auch richtig eingerastet war. Das wurde hier sehr ernst genommen. Dann folgten Freistunde, Mittag- und Abendessen. Beim letzten „Schließen" des Tages wurde das Bett wieder herunter gelassen. Die Zeit dazwischen, diese zähen, langlebigen Stunden, wurde mit Warten auf die nächste Mahlzeit und „Schaffe" ausgefüllt. „Schaffe" nannte man hier in Pforzheim jede Art von Arbeit.

 

Meine Hauptkontaktperson war der Hauptwachtmeister, ein großer schlanker Mittvierziger. Im Umgang mit den Gefangenen war er korrekt und zurückhaltend. Zwar war er nie direkt unfreundlich, wurde aber nur selten etwas vertraulich. Im Umgang mit mir war das nur einmal der Fall. „Aus Esse' (Essen) bischt?" fragte er mich eines Tages. Zu dieser Zeit lebte ich schon einige Wochen unter seiner Obhut.

Ich erklärte ihm, dass ich aus Dortmund sei, einer Stadt, die ebenfalls im Ruhrgebiet liege. Das schien ihm aber nichts zu sagen.

„Neinzeli (1919) un' zwanz'g (1920) bin i in Esse' g'wese'; damals, als de rode Briedersch (die roten Brüder) no' do wäre." Als er das sagte, zwinkerte er mir so konspirativ zu, dass ich tatsächlich glaubte, er habe zu den roten Brüdern gehört. Das war aber ein Irrtum. 1919, während der Spartakistenkämpfe und ein Jahr später bei dem Aufstand an der Ruhr (zur Zeit des Kapp-Putsches) waren vorwiegend süddeutsche Regimenter gegen die aufständischen Ruhrgebietsarbeiter eingesetzt worden. Das habe ich aber erst viel später erfahren.

 

Paket

 

Am Morgen nach unserer Einlieferung kam der Hauptwachtmeister mit einem eingeborenen Häftling in meine Zelle. Dieser stellte mir ein großes Paket auf den Tisch. Zwar glaubte ich nicht an ein Begrüßungsgeschenk, aber neugierig war ich trotzdem. Ich wurde unverzüglich, aufgeklärt.

Das Paket enthielt das mir zugedachte Arbeitsmaterial, mit dem ich fleißig "schaffe" sollte - 2000 plattgefaltete Pappschachteln und genauso viele Etiketten mit der Aufschrift „Deutsches Einheitswaschpulver". Meine Aufgabe war es, die Etiketten so um die Pappschachteln zu falten, dass die Ränder im nächsten Arbeitsgang zusammengeklebt werden konnten. Aber da hatte ich schon nichts mehr mit zu tun. Wenn ich mit der Falterei fertig war, brauchte ich die Schachteln nur wieder ins Paket packen und dieses verschnüren.

Die Tagesnorm wäre 2000 Stück, erklärte mir der Hauptwachtmeister Ich solle mich aber nicht gleich überschlagen. Im Anfang würde ich die Norm sowieso nicht schaffen, aber später ginge das dann wie „g'schmiert". Dann könne ich alles nachholen.

Ich beherzigte den Rat des erfahrenen Mannes und machte gar nicht erst den Versuch, mich zu überschlagen. Tatsächlich habe ich niemals mehr als 300 Etiketten am Tag gefaltet. Ich wurde auch niemals gedrängt oder angetrieben. Allerdings bekam ich täglich ein neues Paket in die Zelle geschoben. Das hatte zur Folge, dass ich nach 14 Tagen völlig zugebaut war und mich kaum noch bewegen konnte.

Und dann erschien der Hauptwachtmeister mal ohne den paketebringenden Kalfaktor. - Warum; das weiß ich nicht. Aber von diesem Tag an musste ich mir die sperrigen Kartons selber in die Zelle holen - und das war gut für mich.

Wenn ich aus meiner Zelle heraustrat, waren links von mir die Nachbarzellen. Rechts ging es zur Treppe, die ins Erdgeschoss führte. Vor dem Treppenabsatz zweigte auf der rechten Seite ein kurzer, breiter Gang ab, eine bessere Nische. An der Kopfseite befand sich hier ein großes vergittertes Fenster. Der Gang, der direkt neben meiner Zelle lag, war genauso lang wie diese - etwa drei Meter. Die Breite mochte wohl gut zwei Meter betragen. Hier gab es rechts und links hohe Stapel von genau jenen Kartons, die in meiner Zelle soviel Platz wegnahmen.

Ich ergriff einen Karton von der rechten Seite und schleppte ihn befehlsgemäß in meine Zelle. Nachdem ich wieder eingeschlossen war, öffnete ich mein Beutestück und ich verschnürte es gleich wieder. Ohne es zu wollen, hatte ich ein Paket erwischt, dessen Inhalt schon fertig bearbeitet war. Ich hätte mir eins von der anderen Seite nehmen müssen.

Ab sofort fand bei mir eine wundersame Leistungssteigerung statt. Ich konnte jetzt täglich 2000 ordentlich gefaltete Waschpulverschachteln abgeben - und einmal in der Woche sogar noch einen zusätzlichen Karton. Der zusätzliche war natürlich derjenige, den ich höchstpersönlich bearbeitet hatte. Die anderen waren Fundsachen; die ich "dem falschen Stapel entnahm.

In meiner Zelle wurde die Anzahl der lästigen Pakete zunehmend geringer, und meine innerzellarische Bewegungsfreiheit nahm zu. Und der Hauptwachtmeister sprach mit vor Wohlwollen triefender, Stimme: „Siehgscht (Siehst) Jong, du lernscht es."

 

Es wäre falsch, zu behaupten, ich hätte im Knast immer nur „schaffe" müssen. Meine geistige Erbauung kam nämlich auch nicht zu kurz. Zu diesem Zweck wurde mir einmal pro Woche ein Buch ausgehändigt. Die meisten Exemplare waren so langweilig, dass ich sie nicht näher erwähnen möchte. Eines hat mich jedoch amüsiert. Es hieß „Herrnann Göring, der treue Paladin des Führers" und enthielt für mich mehr unfreiwillige Komik, als der Autor ahnen konnte.

Im Oktober erlebte ich dann meinen ersten Bombenangriff hinter Gittern. Es war kein besonders schwerer Angriff, aber ich habe nie die Hilflosigkeit der Eingeschlossenen stärker empfunden, als bei jenem ersten Mal. Dabei brachte ich mich selbst durch meine Unerfahrenheit in unnötige Gefahr. Tatsächlich hat mich nur mein gesunder tiefer Schlaf vor dem Tod oder zumindest vor schweren Verletzungen gewahrt.

Der Schlaf war ein Stück Freiheit für mich. Im Schlaf war ich sowohl frei von Hunger als auch von der sonstigen Trostlosigkeit des Gefängnislebens. War ich erst einmal eingeschlafen, so schlief ich tief und fest. Angst oder Alpträume kannte ich nicht.

In dieser Oktoberbombennacht hatte ich plötzlich das Gefühl, mein Bett wäre ein Schiff. Es hob und senkte sich, als würde es von Wellen getragen. Das hätte durchaus angenehm sein können, wenn diese Bewegungen nicht durch Bomben entstanden wären - von Bomben, deren Einschläge noch nicht nah genug lagen, um mich zu wecken. Aber da war auch ein Poltern, Klappern und Schreien. Irgendwie gehörte das nicht hierher. Ich war, aber noch viel zu sehr vom Schlaf befangen, um diese Merkwürdigkeiten bewusst wahrzunehmen.

 

Bomben

 

Und dann war da ein gewaltiger Knall - direkt danach noch zwei Explosionen. Jetzt war ich hellwach. Über mir flog etwas durch die Zelle und krachte gegen die Tür. Staub und Mörtelstücke rieselten auf mich herab. Ich hörte Bomben pfeifen und einschlagen. Und jedesmal wurde das Haus geschüttelt - mal mehr und auch mal wenige,- je nachdem wie nahe die Einschläge lagen.

„Lasset' mie naus, hier!" - schrie mein Nachbar und trommelte gegen die Zellentür. „Ich will hier net verrecke. Naus will i."

Andere schrien auch, und was sie schrien, hörte sich genauso an. Die Panik war vollkommen.

Ich sprang blitzschnell aus dem Bett und eilte zur Tür. Dort stolperte ich über etwas, was da nicht hingehörte. Als ich den Gegenstand untersuchte, merkte ich, dass mein Zellenfenster hier lag.

Sonst lässt der Explosionsdruck alle Scheiben in einem gewissen Umkreis zerbersten. Mein Zellenfenster war jedoch heil geblieben. Der massive Rahmen aus schwerem Hartholz umschloss eine dicke drahtdurchwirkte Scheibe. Jetzt wies sie einige Risse auf - sonst nichts. Der Luftdruck hatte nicht die Scheibe zertrümmert, sondern das ganze Fenster herausgerissen und gegen die Tür geschleudert. Wäre ich so rechtzeitig aufgewacht wie die anderen Gefangenen, hätte ich dort gestanden. Ich wäre unausweichlich getroffen worden.

Später lernte ich, dass in solchen Situationen der sicherste Platz unter dem Fenster ist. Hereingeschleuderte Gegenstände fliegen über einen hinweg. Damals wusste ich das noch nicht.

Ich rechnete damit, das Bombardement vielleicht nicht zu überleben. Meine Angst war entsprechend. Allerdings wollte ich nicht in schreiender Panik sterben", das wäre „für einen Edelweisspiraten unwürdig gewesen. Epis (Edelweisspiraten) starben so lässig, wie sie gelebt hatten. Das war für uns eine Art Glaubensbekenntnis. Ich lehnte mich also mit dem Rücken gegen die Tür und wartete ab, was auf mich zukommen würde. In meiner Unerfahrenheit wählte ich so die dümmste und gefährlichste, aller möglichen Positionen. Trotz meiner guten Vorsätze hatte ich auch weiterhin Angst. Ich schlotterte in höchst unwürdiger Weise am ganzen Körper.

 

Glück

 

Nach einiger Zeit wurde nur klar, dass ich weiterleben durfte. Der Angriff war vorbei. Ich hatte mich so dumm angestellt, wie es ging. Aber manchmal haben auch Dummköpfe Glück.

 

Der 17. Oktober 1944 war ein Dienstag. Vorbei war er auch schon. Mein Abendessen gehörte bereits der Vergangenheit an, als ich, immer noch hungrig auf den Maschores wartete. Der sollte endlich kommen und mein Bett herunterlassen. Ich war jetzt müde.

Und dann kam er auch. Es war der Hauptwachtmeister persönlich, obwohl der eigentlich schon Feierabend hatte. Er trat aber nicht in die Zelle ein, sondern gab mir schweigend ein Zeichen mit der Hand. Ich sollte auf den Flur kommen. Komisch. Was das wohl wieder sollte? Bisher war sowas noch nie passiert.

Der Maschores faßte mich an den Oberarm und führte mich ins Erdg' schoß zum Hausvater.

„Hier isch dä Annere", sagte er, als wir den Raum betraten.

Tönne war da und drei oder vier Maschores. „Das waren alle, die zur Zeit Dienst hatten. Auf dem Tisch stand unser Koffer, und dahinter saß der Hausvater. Heute sah er wie ein gutgelaunter „Alter Fritz" aus - richtig wohlwollend. Die beiden Polizisten, die uns vor sechs Wochen verhaftet hatten, standen auch in der Gegend herum. Das war alles sehr merkwürdig.

"Heim, geht's," klärte mich der Untersetzte auf und begrüßte mich mit Handschlag.

Die Maschores grinsten mich leutselig an - auch der Hausvater.

„Unterschreibe muscht no'," sagte er dann und schob mir eine Liste zu.

Ich unterschrieb, dass ich meine vorstehend aufgezählten Besitztümer vollständig empfangen hätte. Für eine weitere Unterschrift handelte ich mir eine Ration Marschverpflegung ein - zwei komplette Kniften. Das waren zwei mal zwei zusammengeklappte Brotschnitten mit der gefängnisüblichen Gummiwurst.

Tönne war schon fleißig am Kauen. Der graublonde Polizist erkundigte sich, ob ich noch mal zu fliehen gedächte. Dann müssten sie mich nämlich fesseln. Wenn ich aber mein Ehrenwort gäbe, dass ich keine Dummheiten beabsichtigte, würden sie uns soviel Freiheit wie möglich lassen.

Ich zögerte. Die Vorstellung, gefesselt durch die Stadt geführt zu werden, war ungemein reizvoll. Und auch im Zug wäre ich mir wie ein Stargefangener vorgekommen.

Wenn wir das später erzählen würden...

Tönne machte einen Strich durch die Rechnung meiner Phantasie.

„Klar, gibt Curry sein Ehrenwort. Und wenn nich', dann mach ich das für ihn. Wenn, er denkt, er kann wie Graf Koks vonne Gasfabrik durche Gebiete latschen und ich schlepp den' Koffer, dann is' er nämlich schief gewickelt. Von sowas hab ich keine Meinung."

Die Maschores und Polizisten lachten amüsiert. „Also gut", stimmten ich widerwillig zu; „Ich wer' nich' die Eisen zeigen. Ehrenwort."

Unserem Aufbruch stand jetzt nichts mehr im Wege. Wir verabschiedeten uns händeschüttelnd von den Maschores. So übel waren die nicht gewesen. Wir wussten, dass es schlimmere gab.

Der Hausvater hatte was am Auge und wischte mit dem Handrücken darüber.

Tönne sagte mit vollem Mund: „Se brauchen aber nich' am wein'n fang'n, Herr Oberwachtmeister. Wir komm' ja vielleicht noch ma' wieder."

Dann gingen wir mit den Polizisten auf die Straße hinaus - in den Vorhof der Freiheit.

„Du trägst den Koffer zuerst, Tönne", bestimmte ich. „Das is', weil Du mit spachteln (essen) fertig bis'. Jetz' wer' ich mir ma' was hintere Kiemen schiem (schieben)."

Und dann verschlang ich gierig meine Marschverpflegung.

 


 

Ein Mißgeschick in 3 Akten - Zerbombtes Dortmund 1943

Neue Arbeiterpresse, (Nr. 405/11. Januar 1985)

 

WIR veröffentlichen hier den letzten Teil einer neuen Geschichte von Kurt Piehl über seine Erlebnisse als jugendlicher Edelweisspirat.

Kurt Piehl ist im Dortmunder Norden aufgewachsen und schloss sich als 14jähriger den Edelwesspiraten an, in Dortmund auch „Latscher" genannt. Dies waren Gruppen von Arbeiterjugendlichen in verschiedenen Großstädten, die sich gegen die Hitlerjugend zur Wehr setzten und in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs gegen die Nazis Widerstand leisteten. Bis heute werden sie als „kriminelle Banden" in den Akten der Justiz geführt.

Kurt Piehl ist dem Tod durch die Gestapo bei Kriegsende nur knapp entronnen. Nach dem Krieg arbeitete er als Eisenflechter in einer Baufirma in der Nähe von Dortmund, wurde Betriebsratsvorsitzender und Ortsvorsitzender IG Bau-Steine-Erden in Bergkamen-Oberaden. Seit der Pleite der Baufirma 1982 ist er arbeitslos.

Zwei Jugendliche aus Dortmund, Kurt Piehl (Curry) und sein Freund Tönne, zwei Edelweisspiraten, die in Konflikte mit der Hitlerjugend und der Gestapo gekommen waren, hatten sich im Herbst 1944 aus Dortmund davongemacht.

Der eine wollte zu einer Tante in die Schweiz, der andere nach Freiburg. Sie kamen bis nach Karlsruhe, das so zerbombt war, dass kein Zug mehr von dort abfahren konnte. Ein Lastwagen brachte sie ins damals noch vollkommen unzerstörte Pforzheim, von wo sie weiterzukommen hofften.

Dort griff sie die Polizei auf, weil sie bei Fliegeralarm auf der Straße herumspazierten. Als Curry einen Fluchtversuch unternahm, wurden beide bis auf weiteres ins Pforzheimer Untersuchungsgefängnis gesperrt. In Begleitung zweier Polizisten wurden die beiden schließlich wieder nach Dortmund geschickt.

 

III. Akt: Heimkehr

 

Sie führten uns nicht auf direktem Weg zum Bahnhof. In einer Seitenstraße zeigten sie uns, wo bei dem Luftangriff eine Bombe eingeschlagen war. In der Straßenfront fehlten zwei vierstöckige Häuser. Wo die gestanden hatten, war jetzt nur noch ein riesiger Trümmerhaufen. Es sollte hier auch Tote gegeben haben, aber das wussten die Polizisten nicht so genau.

„Wegen zwei so'ne Häuskens regt sich bei uns kein Schwein mehr auf", behauptete Tönne und blickte mich beifallsheischend an.

Ich stimmte ihm zu.

„Das sind doch nur kleine Fische. Wenn se ma' 'ne Stadt nach 'n richtigen Angriff gesehn ham, gucken se nach sowas gar nich' mehr hin.''

Die Polizisten glaubten uns nicht.

„Alldieweil mische (müssen) se angäwe (angeben), die Bürsch' (Burschen)", sagte der Untersetzte ungehalten.

„Wenn wa in Dortmund sind, könn' se sich ja'n bißchen umgukken", erwiderte ich. Da könn'se dann selber sehn, wie das is'."

In diesem Augenblick wusste ich noch nicht, dass Dortmund am 6. Oktober den bis dahin schwersten Bombenangriff erlitten hatte.

Unser Zug fuhr ziemlich pünktlich ab, das war in Pflorzheim so üblich. Allerdings stimmte die Richtung nicht ganz. Wir hätten nämlich in Heidelberg umsteigen sollen, aber als wir den Zug verließen, waren wir auf dem linken Rheinufer in Ludwigshafen. Die zwei Stunden Aufenthalt verbrachten wir anfangs mit den Polizisten im Wartesaal. Die beiden aßen von ihren mitgebrachten Broten und spendierten auch uns je eine Knifte. Wir hatten unsere Marschverpflegung ja längst verspeist. Ein mitleidiger Landser, der am Nebentisch saß, ließ uns eine Zigarette drehen. Nach der langen Enthaltsamkeit war das ein besonderer Genuss. Uns wurde prompt davon schlecht.

Unsere Bewacher erlaubten uns daraufhin, an die frische Luft zu gehen - auf den Bahnsteig. Vorher erinnerten sie mich noch eindringlich an mein Ehrenwort. Ich habe nie wieder so viel Spaß daran gefunden, auf einem Bahnsteig hin und her zu schlendern. Nach den sechs Wochen in der engen Zelle, fühlte ich mich hier fast wie ein freier Mensch. Die Polizisten saßen derweil im Wartesaal und dösten vor sich hin.

Als der Zug nach Siegen angekündigt wurde, weckten wir die beiden Schläfer und trugen den Koffer auf den Bahnsteig. Es gab da noch irgendwelche Schwierigkeiten. Für uns war nämlich ein separates Abteil reserviert - allerdings ab Heidelberg. Die gewöhnlichen Reisenden mussten in überfüllten Zügen zum Teil auf Puffern und Wagendächern fahren. Uns Gefangenen stand eine feudalere Beförderungsmethode zu. Schließlich sollten wir nicht mit solchen Leuten in Kontakt kommen, die noch frei herumlaufen durften.

Der Zug lief ein. Noch bevor er richtig stand, stürmten die Wartenden wie irrsinnig in die Wagen. Eben waren sie noch vernünftige Menschen gewesen - jetzt nicht mehr. Jetzt trampelten sie jeden nieder, der sich ihnen in den Weg stellte.

Ein Eisenbahner führte uns zum Gepäckwagen. Am Wagenende gab es einen abgeteilten Raum in den Abmessungen von etwa einem Meter mal Wagenbreite. Eine Verbindung zum inneren Teil gab es nicht, nur zwei Türen - auf jeder Wagenseite eine. Das war nicht ganz so großartig, wie wir gehofft hatten, aber auch nicht schlecht. Die anderen Reisenden mussten wesentlich unbequemer fahren.

Einige Leute waren uns gefolgt und versuchten, sich mit hereinzudrängen.

„Das derfe se net", schrien unsere Bewacher aufgeregt. „Das is' e Gefangenedranschport (Gefangenentransport).''

Die Ausgesperrten versuchten die Türen mit Gewalt zu öffnen - von beiden Seiten her. Wir Privilegierten - Polizisten und Gefangene - hielten von innen zu. Das war fast eine Belagerung.

Vor unserem Abteil brüllte ein wütender Mann:

„Schwätzet se ka' Stuß, Herr Polizischt. Von weje Gefangenedranschport. Im Wardesaal g'schlaffe han se, un' dä Bürsch san derweil spazieregange. Un' nu' wolle se mer vorschwätze, des wär e Gefangenedraschport. Schame sollte se sich, sä Volkschgenosch (Volksgenosse), sä."

Mit vereinten Kräften gelang es uns, das zugewiesene Luxusabteil zu verteidigen. Dann fuhr der D-Zug an. Zurück blieb eine Menge unglücklicher Möchtegernreisender. Als Belohnung für unsere tatkräftige Hilfe bekamen Tönne und ich wiederum je eine „Knifte. Heute war wirklich ein netter Tag für uns.

 

Amerikaner

 

Bis kurz vor Frankfurt war die Reise ziemlich langweilig. Zwei Mann konnten jeweils auf dem Koffer sitzen, und wir wechselten uns mit den Polizisten ab. Ich wunderte mich, weil unsere Route nicht am Rhein entlang führte. Da erfuhren wir dann, dass die Amerikaner schon in Aachen waren.

„Schwere Straßekämpf han se vun do g'meld't," erzählte der Untersetzte, und der Blondgraumelierte fügte hinzu: „'s werd halt schwer, no' an de Endsieg ze glaabe."

„Da ham wir kein' Arger mit", sagte ich grinsend. „Das is', weil wir da schon lange nich' mehr d'ran glaub'n,"

Tonne stieß mich mahnend an, aber das war überflüssig. Diese biederen Polizisten würden uns bestimmt nicht auf hochverräterische Redensarten festnageln.

Kurz vor Frankfurt blieb der Zug auf freier Strecke stehen - ohne ersichtlichen Grund. Der Aufenthalt dauerte fast zwei Stunden. Nach etwa zehn Minuten klopfte jemand zaghaft an die Scheibe. Ich blickte die Polizisten fragend an. Beide nickten, und ich öffnete die Tür. Draußen stand ein Landser - ein vielleicht zwanzigjähriger Soldat.

„Verzeihung", sagte er höflich. „Ich hab das in Ludwigshafen mitgekriegt. Ich mein, wie die Leute Sie bedrängt haben. Mir ist da das noch zu dumm gewesen. Aber jetzt ... Ich häng schon die ganze Zeit zwischen den Wagen; stehend auf dem Puffer. Und jetzt bin ich so durchgefroren, dass ich mich nicht mehr halten kann. Und mein Gepäck erst recht nicht. Wenn Sie so freundlich sein würden... Ich kann mich auch erkenntlich zeigen."

Die Polizisten zögerten; wir nicht. „Von uns aus kann er mit rein", meinte Tönne. „Wir ham' nix dagegen,"

„Klar", stimmte ich zu. „Ob hier vier oder fünf Mann drin sind, das is' Jacke wie Hose."

Ich weiß nicht, was Tönne so dachte, aber meine Zustimmung war, nicht ganz selbstlos. Der Soldat hatte was von „erkenntlich zeigen" gesagt. Das konnte Essen oder Zigaretten bedeuten. Nach den Entbehrungen der letzten Wochen konnte ich von beidem nicht genug kriegen.

Wir halfen dem Landser eine Art Seesack in unser Abteil zu schaffen. Dann schnallte er seinen Tornister ab und bot Zigaretten an. Wir akzeptierten alle, auch die Polizisten. Unser neuer Gefährte wollte nach Hagen. Er kam von der Invasionsfront und hatte zwei Wochen Heimaturlaub. Was er vom Kampfgebiet erzählte, von Chaos, Panik und heilloser Flucht, das hatte nur wenig mit den OKW - Berichten (OKW-Oberkommando der Wehrmacht) gemein. Bei denen hörte man nur von heldenhaftem Widerstand und planmäßigen Absetzbewegungen. Das erzählten wenigstens die Polizisten. Mein Kumpel und ich hatten ja wochenlang keinen Wehrmachtsbericht gehört.

Nach einer Weile wurde der Landser neugierig.

„Darf ich fragen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen?" erkundigte er sich. „Sie sind so eine ungewöhnliche Gesellschaft".

Die Polizisten grinsten und schwiegen, aber Tönne klärte ihn auf. „Wir sind Gefangene", verkündete er stolz. „Wir wer'n nur von ein' Knast nach'n andern gebracht."

„Das hab ich schon in Ludwigshafen gehört, aber da hat das keiner geglaubt - ich auch nicht. Für sowas sind Sie zu ... Sie sind so vertraut miteinander."

„Jetz' scho", nickte der Untersetzte. „Abe' alldieweil is' des net so gewese". Er blinzelte mir freundschaftlich zu.

„Wenn se mich gefesselt hätten, war das 'ne. klare Sache", meinte ich. Dann hätte jeder sehn könn', dass hier'n richtiger Gefangenentransport is'. Aber mein Kumpel war ja zu faul für zum Koffertrag'n."

Der Soldat bot noch einmal Zigaretten an. Es waren „Sulima Rekord", eine Marke, die auch „Deutscher Wald" genannt wurde. Das war so, weil der Tabak zum Teil aus Buchenlaub bestand. Dann schnürte er den Seesack auf.

„Wenn Ihr Gefangene seid, dann habt Ihr doch bestimmt Hunger", vermutete er.

Das war eine Vermutung, die wir eifrig bestätigten.

„Eigentlich müsste ich auch Gefangener sein", erzählte der Landser. „Oder sogar standrechtlich erschossen. Was hier nämlich drin ist..." Er deutete auf den Sack. „Das ist alles geklaut. Da wurde beim Rückzug ein Verpflegungslager gesprengt. Wir haben da noch rausgeholt, soviel wir tragen konnten. Natürlich nur die besten Sachen. Aber wenn sie uns dabei geschnappt hätten ... Standrechtlich erschossen wegen Plünderei, hätte es dann geheißen. Warum weiß ich auch nicht. Nach der Sprengung war sowieso alles im Eimer". Er wandte sich an die Polizisten. „Darf ich Ihnen auch was von der Diebesbeute anbieten, meine Herren?"

 

Köstlichkeiten

 

Die zierten sich nicht lange und griffen genauso ungeniert zu, wie mein Kumpel und ich.

In dieser Nacht aß ich zum ersten mal Gänseleberpastete; dazu eine Reihe von Köstlichkeiten, die ich nicht mal dem Namen nach kannte. Die Wartezeit vor Frankfurt und dann die Fahrt bis Siegen wurde für uns zu einer regelrechten Schlemmerorgie. Mein Hunger wurde trotzdem nicht geringer.

In Siegen mussten wir umsteigen. Das war zwar kein Problem, aber ein reserviertes Abteil kriegten wir nicht mehr. Als der Soldat in Hagen ausstieg, schenkte er jedem noch eine Schachtel Zigaretten.

Eine Stunde später waren wir in Dontmund. Wir bemerkten die Veränderungen schon beim Aussteigen. Bahnsteige und Gleise waren zerbombt und zum größten Teil noch gesperrt. Einige Anlagen waren notdürftig geflickt. Der Weg durch die Bahnhofshalle war nur ein Pfad zwischen Trümmerbergen. Aber so richtig schlimm war es erst, als wir aus dem Bahnhof herauskamen.

Halblinks vor uns standen und lagen zerschmetterte Straßenbahnwagen - ein heilloses Durcheinander. Ein einzelner Wagen stand noch in den Schienen, und ein anderer hatte sich über ihn geschoben. Das sah aus, als hätten Dinosaurier eine Geschlechtsorgie gefeiert und wären dabei gestorben. Jetzt war da nur noch tödliche Starre. Die ineinander verkeilten Bahnen wirkten erschreckender, als die ehemaligen Häuser, die jetzt als Ruinen nutzlos in der Gegend herum standen.

,,I kann's net glaabe", murmelte der Blondgraumelierte und bekreuzigte sich. „I kann's net glaabe, dasch (daß) de Hergott des zulasche (zulassen) dut."

Ich wollte eine spöttische Bemerkung machen, aber Tönne stieß mich in die Seite.

„Wir möchten wissen, was bei uns zuhause is'," meinte er dann. „Ob unse' Leute noch am leb'n sind und so."

Die Polizisten nickten. „Das mache mer", sagte der Untersetzte. „Ähr (ihr) zeiget unsch de Wäg nahm (nach dem) G'fängnisch. 'Sch musch jo net de kürtscheste san."

Dem Bahnhof gegenüber, durch zwei Fahrbahnen und die Straßenbahngleise von uns getrennt, stand das Bollwerk der Vemlinde. Es stand wirklich noch. Allerdings war seine Bruchsteinfassade förmlich zerhackt von Bombensplittern. Am Fuß der Vemlinde war der Eingang zum Tiefbunker - einem Stollen, der später mal eine Untergrundbahn werden sollte. Direkt daneben war ein Verpflegungsstand aufgestellt worden.

,,Da aufe annere Seite is' was zu. hol'n," sagte ich. „Da gibt's Achiele (Essen). Woll'n wa uns nich' ers' ma' 'n Schlag Suppe reintun?"

Der Weg dahin führte über schlampig verfüllte Bombentrichter. Die lagen unheimlich dicht beieinander. Die eingefüllte Erde war nicht verdichtet und begann bereits einzusacken. Das Straßenpflaster sah aus wie eine Mondlandschaft.

 

Bombenteppich

 

Der Verpflegungsstand war mit einer DRK-Schwester besetzt. Wie schon nach früheren Bombenangriffen, gab es den obligaten Nudeleintopf. Tönne und ich fassten noch einen zweiten Schlag Suppe. Dann kriegte jeder noch eine Wurstknifte.

Von der Schwester erfuhren wir, dass der Angriff am Abend des 6. Oktober stattgefunden hatte. Als der Zauber begann, lief gerade ein Fronturlauberzug im Bahnhof ein. Die Soldaten versuchten noch den Bunker zu erreichen - vergebens. Sie wurden ausnahmslos vom ersten Bombenteppich erwischt. Die Leichen der etwa 400 Landser hatten tagelang hier herum gelegen. Der Rest war erst am Vortag abtransportiert worden.

Mein Kumpel und ich führten die Polizisten jetzt kreuz und quer durch den Dortmunder Norden. Wir gingen voran, und unsere Bewacher folgten in einigem Abstand. In der Missundestraße trafen wir den ersten Bekannten - einen Edelweißpiraten namens Harry. Von ihm erfuhr ich, dass unser Haus noch stand, und meine Mutter den Bombenzauber überlebt hatte. Am Borsigplatz war es genauso. Tönnes Tante und die Wohnung waren weitgehend unbeschädigt geblieben.

Nach einer Mahnung unserer freundlichen Bewacher machten wir uns am frühen Nachmittag auf den Weg zur UHAD in der Lübecker-Straße. UHAD hieß nichts anderes, als Untersuchungshaftanstalt Dortmund. Das war der offizielle Name. Die Leute in Dortmund nannten das Gefängnis einfach „Lübecker Hof", manchmal auch nur „Lübecker".

An der kleinen Pforte neben der großen Einfahrt war eine Klingel.

Der Untersetzte drückte auf den Knopf. Nach zwei oder drei Minuten öffnete ein Maschores, ein älterer Mann mit einem langen weißen Bart. Wegen dieses Bartes und seiner Funktion als Pförtner wurde er allgemein Petrus genannt. Aber das wussten wir da noch nicht.

Er begrüßte uns freundschaftlich mit Handschlag - auch Tönne und mich.

Die Polizisten sagten ihren Spruch auf und überreichten einige amtlich aussehende Papiere.

„Und diese netten Jungs soll'n hier eingesperrt wer'n?" fragte er bedauernd. „Das is' aber schade."

Tönne blinzelte mir zu. Hier im „Lübecker" schien das gar nicht so übel zu sein.

 

Faustschlag

 

Wir verabschiedeten uns von unseren Begleitern und wünschten ihnen alles Gute. Und das war aufrichtig gemeint. Sie hatten sich zu uns so anständig verhalten, wie es ihnen als Polizisten möglich war. Die Prügel, die ich nach unserer Verhaftung bezogen hatte, musste ich mir selbst zuschreiben. Die hatte ich zielbewußt provoziert.

„Denn konunt ma' rein Jungs!" Petrus, zog uns in den Innenhof. Kaum war die Pforte wieder geschlossen, bekam Tönne einen Tritt ins Gesäß. Ich fing mir einen Faustschlag ins Genick ein. Tretend und schlagend jagte er uns über den Hof zur Eingangstür. Dort übergab er uns freundlich lächelnd einem anderen Maschores.

Später erfuhren wir, dass dieses widersprüchliche Verhalten ein besonderer Tick von Petrus war - jedenfalls bei Jugendlichen. Zu erwachsenden Gefangenen war er angeblich gleichbleibend freundlich.

Der neue Maschores führte uns ein Stück den Flur entlang und schloss uns erstmal in eine Wartezelle ein.

„Ich glaub nich', daß es mir hier, gefallen tut", seufzte Tönne, als wir wieder allein waren. „In Pforzheim war alles viel besser."

„Schlechte Manieren ham se hier", bestätigte ich. „Die Pforzheimer Maschores war'n schwer in Ordnung und überhaupt... Ich glaub, ich krieg schon Heimweh nach meine' alte' Zelle."

Nach fast zwei Stunden wurden wir dem Hausvater vorgeführt. Hier bestätigte sich mein Vorurteil, das ich gegen diese besondere Maschoressorte gefaßt hatte. „Piehl", wiederholte der Mann hämisch, als ich meinen Namen: nannte. „Auf Dich hab ich jahrelang gewartet. Seit ich Dein'n Alten kenn'n tu, weiss ich, dass Du auch ma' kommst. Der Apfel fällt nich' weit

vom Pferd."

Er musste ein gutes Gedächtnis haben, wenn er sich noch an meinen Vater erinnerte. Der saß nämlich schon über 10-Jahre im KZ. Meine Eltern waren übrigens seit 1929 geschieden, und ich hatte nicht die geringste Erinnerung an meinen Erzeuger. Vermutlich hatte der den Hausvater mal gewaltig geärgert. Warum mir das allerdings angelastet wurde, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht hatte das was mit Sippenhaft oder faschistischer Vererbungstheorie zu tun.

Nach einer weiteren Stunde waren wir gebadet und neu eingekleidet. Wochenlang hatten wir in Pforzheim unsere eigenen Sachen getragen. Hier durften wir das nicht. Vom Krätzchen (schirmlose Mütze) bis zu den Holzpantinen trugen wir nur Gefängniseigentum am Leib. Tönne, der erheblich länger war als ich, hatte eine blaue Körperhose, die kurz unter den Knien endete. An den Hosenbeinen lief je ein gelber Streifen von oben nach unten. Die Jacke war von gleicher Qualität und Paßform. Die Ärmel reichten gerade halb über die Unterarme. Bei mir war es genau umgekehrt. Meine Sachen waren so groß ausgefallen, dass ich mir Ärmel und Hosenbeine hochkrempeln musste. Mit den neuen Monturen waren wir ein ausgesprochen komisches Gespann.

Auf unseren Jacken und Hosen waren die Buchstaben „J" und „V" in weißer Farbe aufgetragen - vorne und hinten. Die Lettern waren mindestens 20 Zentimeter hoch.

Während wir auf den „Einschluß"warteten rätselten wir an der, Bedeutung dieser Buchstaben herum. Tönne meinte, das müsse „Jüdische Verbrecher" heißen. Ich war mehr für „Jugendliche Verräter". Die tatsächliche Bedeutung war. „Justiz-Verwaltung", wie wir später erfuhren.

Meine neue Zelle war fast so wie die in Pforzheim, nur etwas kleiner und schäbiger. Das Fenster war ein vergittertes Loch mit Rahmer, aber ohne Scheiben. Zwölf Tage nachdem Angriff war hier nichts verglast oder sonstwie abgedichtet worden. In Pforzheim war das bereits am nächsten Tag geschehen. Und dann gab es noch einen wesentlichen Unterschied. Anstelle der gewohnten Toilettenanlage gab es hier den sogenannten Leibstuhl. Der bestand aus einem eisernen Gestell, in das ein irdenes Gefäß eingelassen war. Durch Anheben des Deckels stellte ich fest, dass die Zelle heute noch belegt gewesen war. Der Pott war nämlich halbvoll.

Das Abendessen war auch so wie gewohnt. Das Brot war hier allerdings dunkler und feuchter. Es schmeckte auch nicht so gut. Ich bildete mir aber ein, dass es besser sättigte.

Dieses widerliche Aufstoßen begann gleich nach dem Abendessen. Und dann kam es immer wieder. Es unterließ; einen Geschmack im Mund, der an faule Eier erinnerte. Zwar hatte ich noch nie faule Eier gegessen, es schmeckte aber so, wie ich mir faule Eier vorstellte. Gleichzeitig wurde mein Innenleben durch ein , gewaltes Rumoren beunruhigt. Nach den langen Hungerwochen rächte sich jetzt die maßlose Schlemmerei der vergangenen Nacht. Mir war kotzübel. Die folgende Nacht wurde die qualvollste, die ich bis dahin erlebt hatte. Ich litt an einem ständigen Wechsel von Durchfall und Erbrechen. An Schlaf war nicht zu denken. Meine Übelkeit steigerte sich so, dass ich am liebsten gestorben wäre. Und all das bei halbvollem Kübel,.

Wie in Pforzheim begann das morgendliche Gefängnisleben auch im „Lübecker" mit dem Kübel entleeren. Ich musste das randvolle Gefäß beim ersten Schließen herausstellen, Kaum hatte ich es zurückerhalten, saß ich schon wieder oben drauf - wie eine Glucke beim Brutgeschäft. Dann war Frühstücksausgabe. Ich stellte die empfangenen Köstlichkeiten, eine Brotschnitte und den Kaffee-Ersatz-Aufguß, auf den Tisch und kletterte unverzüglich wieder auf den Leibstuhl. Das war ein erst und einmaliger Vorgang in meiner Gefangenenlaufbahn. Bisher hatte ich jede Mahlzeit schnell und gierig verschlungen. Es dauerte eine Weile, bis es mir wieder besser ging. Aber dieses widerliche Aufstoßen spürte ich noch rund zwei Wochen.

Um 9 Uhr war Freistunde. Nach „Kübel raus", „Kübel rein" und "Frühstück"' war „Freistunde" das vierte Schließen. Ich trat aus der Zelle, stellte mich neben die Tür und wollte mit den anderen Gefangenen die Treppe runtertraben.

 

Termin

 

„Der nich' “, rief ein ankommender Maschores dem Wachhabenden zu und deutete auf mich. „Der hat um zehn Termin. Ich nehm' 'ne gleich mit."

Eine Etage tiefer stand Tönne auf dem Flur. Ich wurde neben ihm geparkt. Und dann mussten, wir wieder warten.

„Mensch, is' mir schlecht gewesen", flüsterte mein Kumpel. „Heut Nacht hab ich gedacht, dass ich auslaufen tu. So hab ich gekotzt und geschissen."

„Bei mir war das auch so. Und mein Scheisskübel war schon halbvoll, als ich da reinkam. Als nix mehr reinpasste, mußte ich freiweg immer hochziehn un' runterschlucken."

Tönne lachte leise.

„Was meinste wohl, was se uns gleich verpassen wer'n?" fragte er dann.

„Wird schon nich' so doll sein", meinte ich. „Mehr als zwei Monate wer'n da bestimmt nich' rumkomm'. Dann sind wir in vierzehn Tage' wieder draußen."

„Dieser Bau is', wie so'n Uhrwerk. Immer sind se hier 'ne Glocke am läuten oder am rumklappern. Un' alle, ham das eilig. Hier kann ich mich beim besten Willen nich' wohlfühl'n.“

Unser Maschores kam zurück und brachte uns zum Amtsgericht hinüber. Dazu mussten wir ein Stück die Lübecker Straße entlang gehen. Bei einem Fluchtversuch würde er sofort schießen, drohte er uns an. Im Gerichtsgebäude brachte er uns in einen langen menschenleeren Flur und befahl uns hier zu warten. Dann drehte er sich abrupt um und verschwand wieder.

Wir standen mutterseelenallein im kalten Gerichtsflur.

„Jetz', wo der Maschores weg is', könnten wa glatt die Kurve kratzen," sagte ich.

Tönne blickte mich forschend an. Dann sah er an sich herunter. ,,Hat kein' sittlichen Nährwert", meinte er. „So wie se uns verkleidet ham, könn' wa hier nich' raus. Wenn uns draußen einer sieht, langt der sich gleich am totlachen an. Das könn' wa nich' machen. Gibt sowieso nich' genug Überlebende hier."

Ein junger Mann kam den Flur entlang und blieb bei uns stehen. Am Mantelaufschlag trug er ein HJ-Abzeichen.

„Ei, ei," Spottete er gutgelaunt, „Habt Ihr neue Uniformen?"

Mein Kumpel grinste ihm vertraulich zu;

„Was is' mit Dir Macker?" fragte er. „Kriegste hier auch ein' reingewürgt?"

 

HJ-Abzeichen

 

Konnte Tönne das HJ-Abzeichen nicht sehen? Oder wie kam er dazu, so freundschaftlich mit dem Fremden zu reden? Mein Kumpel war sicherlich toleranter als ich; das muss ich neidlos zugeben. Nach seiner Meinung konnte man sogar Leinen mit Hakenkreuzabzeichen eine gewisse Menschenähnlichkeit nicht absprechen. Man müsste nur genau hinsehen. Aber selbst wenn er da richtig lag, jetzt übertrieb er.

"Ich hin der Jugendstaatsanwalt" stellte sich der Mann vor. "Und gleich werde ich die Anklage gegen Euch vertreten!"

Mein Kumpel war sichtlich erschrocken. Das' schadete ihm gar nichts, was musste er sich auch bei so einem anbiedern.

„Ihr braucht keine Angst haben," sagte unser Ankläger, beruhigend. "Nach der, Verhandlung werdet Ihr sowieso entlassen. Für das bischen Blaumachen habt Ihr ja lange genug gesessen."

Ich weiss nicht, wie es kam, aber der Bursche war mir plötzlich ungemein sympathisch - trotz des HJ-Abzeichens. Man darf sowas auch nicht allzu streng beurteilen.

Und dann kam endlich der Richter - ein weißhaariger Mann, der mit seinem Schlapphut und dem langen schwarzen Mantel eher wie ein Geistlicher aussah. Er überzeugte sich, dass wir vor dem richtigen Saal standen. „Na, dann woll'n wir mal", beschloss er, und wir traten ein.

Wir traten auch gleich wieder zurück. Der Gerichtssaal sah aus wie ein Schlachtfeld, Trümmer, Scherben und Mörtelstücke bildeten mit dem Kleinholz des ehemaligen Mobilars' ein wüstes Durcheinander. Nach gründlicher Inspektion der Örtlichkeit, schlug der Staatsanwalt vor, im Beratungszimmer zu verhandeln. Das war ein kleiner, angrenzender Raum, von etwa zwei mal zweieinhalb Metern. Hier sah es zwar auch wüst aus, aber nachdem wir gemeinschaftlich 20 Minuten lang entrümpelt hatten war das Zimmerchen wieder ganz passabel. Sogar der Tisch war noch zu gebrauchen. Alles andere hatten wir einfach in den großen Gerichtssaal geworfen. Richter und Staatsanwalt mussten allerdings genauso stehen, wie die Angeklagten. Es gab hier keinen Stuhl, der den Bombenzauber überstanden hatte.

Der Richter stellte sich in Positur und sagte:

"Heil Hitler. Die Verhandlung ist eröffnet''. Dann murmelte er noch einige Sätze, die ich nicht verstand -Tönne auch nicht. Daraufhin zog der Staatsanwalt ein Blatt Papier aus der Tasche und las uns was vor. Der Richter nickte einige Male zustimmend. Tönne und ich standen in strammer Haltung vor dem Tisch und hörten nicht zu. Später kamen einige Fragen an uns - vom Richter und auch vom Staatsanwalt. Wir antworteten immer mit einem zackigen „Jawoll". Zum Schluss kam die Urteilsverkündung: „Der Jugendliche Kurt Piehl wird wegen fortgesetzter Arbeitsbummelei zu drei Wochen Jugendarrest verurteilt. Der Jugendliche Anton W. wird wegen fortgesetzter Arbeitsbummelei zu zwei Wochen Jugendarrest verurteilt. Beide Strafen sind durch die Untersuchungshaft verbüßt. Die Angeklagten sind unverzüglich auf freien Fuß zu setzen. Die Verhandlung ist geschlossen. Heil Hitler".

Unverzüglich dauerte immerhin noch anderthalb Stunden. Am 19. Oktober 1944, punkt 12 Uhr traten wir durch die kleine Pforte wieder in die relative Freiheit des Großdeutschen Reiches.

Auf der anderen Straßenseite klebte ein Mann ein Plakat an die Ruinenwand. Darauf wurde für den „Deutschen Volkssturm" geworben. Das interessierte uns aber nicht. Von diesem Verein hatten wir noch nie was gehört.