Strafprozess wegen Containerns in Gießen: Konflikt Angeklagter-Staatsanwaltschaft und lügende Zeugen

Der "Tatort" in der Gießener Neustadt (Vordereingang)

29. Juni 2016, kurz vor 9 Uhr: Das Amtsgericht Gießen ist von vier bewaffneten Polizeibeamt_innen gesichert. Im ersten Stock läuft ein medial stark wahrgenommener Prozess wegen Tötung und schwerer Körperverletzung per Auto. Doch dafür stehen die Uniformierten nicht da. Um 9.30 Uhr sitzen sie ein Stockwerk höher. Dort wird vor etlichen Zuschauer_innen ein Fall verhandelt, der Kopfschütteln hervorruft, Stunden dauert und am 20.7. weitergehen wird.

 

Ursprünglich ging es um Diebstahl: Lebensmittel aus dem Müll des tegut-Marktes in der Gießener Einkaufsmall Neustädter Tor. Angestellte des Supermarktes hielten den „Essensdieb“ damals fest, der Metzger (vorschriftswidrig in Dienstkleidung herausgeeilt) trat sogar mindestens einmal kräftig zu, beschädigte den Transportkorb voller Lebensmittel und verletzte den, der das Essen aus dem Müll gefischt hatte. Die Polizei kam und der absurde Vorgang geriet in die Gerichtsmühlen. Dort kam es zu einigen Wandlungen, denn der tegut-Markt erkannte alsbald, dass ein Prozess wegen Diebstahl gegen „Containerer“ wohl nicht zum guten Image beitragen würde – zumal der Markt bis heute weiter viele hochwertige Lebensmittel wegschmeißt und mit den Foodsharing-Aktiven nicht zusammenarbeiten will. Als der Markt sogar eine Münchener Rechtsanwaltskanzlei bemühte, die darlegte, dass Containern gar kein Diebstahl sei (die Deutsche Lebensmittel Rundschau veröffentlichte schon 2014 einen Text, in dem diese Position vertreten wird), gab die verfolgungseifrige Staatsanwaltschaft Gießen auf und ließ den Diebstahlsvorwurf fallen. Darüber berichteten bereits einige Medien:

 

 

Da der Müllretter aber politischer Aktivist (noch dazu aus dem Umfeld der Projektwerkstatt in Saasen) und der Staatsanwaltschaft seit etlichen Jahren voller juristischer Kämpfe ein Dorn im Auge war, musste eine Ersatzanklage her. Ohne jegliche Ermittlungen dazu wurde auf „falsche Verdächtigung“ umgestellt. Der Vorwurf, ein tegut-Mitarbeiter hätte getreten, sei erfunden gewesen. Dumm nur: In den Vernehmungen zur Diebstahlssache hatte zumindest ein Beteiligter (Filialleiter des benachbarten Penny-Marktes) den Tritt selbst beschrieben (wenn auch erst auf kritisches Nachfragen der vernehmenden Polizei). Damit aber war eigentlich schon klar, dass eine falsche Verdächtigung nicht vorlag, sondern der Vorwurf schlicht stimmte. Der Staatsanwaltschaft war das egal – und das Gericht ließ die Klage zu, obwohl die Akte ja schon belegte, dass sie völlig unsinnig war.


Entsprechend verlief der Prozess – nämlich ziemlich aggressiv, vor allem zwischen Angeklagten und der Staatsanwältin. Mitunter war auch der Ton zwischen Angeklagtem und den Zeug_innen wenig freundlich. Denn diese logen zum Teil ordentlich. Das führte zu gleich mehrere Kehrtwendungen gegenüber den Vernehmungen bei der Polizei, die in den Akten enthalten waren. Der tretende tegut-Metzger gab nun den Tritt zu, beteuerte aber, dass der zerstörte Transportkorb und die frische Wunde am Bein des Müllretters nicht daher stammen könnten (ohne dafür einen Grund anzugeben, wieso das nicht sein könne). Der letzte Zeuge des Tages war der Penny-Chef, der nun plötzlich keinen Tritt mehr gesehen haben wollte. Die Staatsanwältin las aus seiner Vernehmungsakte vor, hörte aber genau an dem Punkt auf, wo der Satz mit dem Tritt kam. Das führte zu einem lautstarken Streit zwischen Angeklagtem und Staatsanwältin. Schließlich las der Angeklagte dem Zeugen die Passage aus seiner Vernehmung vor, aber der blieb bei der neuen Version: Kein Tritt. Also beantragte der Angeklagte den Zeugen zu vereidigen. Jede_r im Raum hatte klar, dass der Penny-Chef platt gelogen hatte. Doch zur Vereidigung kam es nicht, denn die Staatsanwältin zog die Notbremse. Sie belaberte den Zeugen, seine bisherige Aussage im Gericht zu widerrufen und doch die Variante aus dem Vernehmungsprotokoll zu übernehmen. So kam es – und nun war der Tritt sogar von zwei Zeugen beschrieben worden, wenn auch erst nach Androhung einer Vereidigung. Es saßen Medienvertreter daneben, aber das hat natürlich niemand in seinen Artikel geschrieben. Der Prozess kam nicht zum Ende und es geht am 20.7. um 13.30 Uhr im Amtsgericht (Gutfleischstr. 1 in Gießen, Saal 200) weiter.

 

Üblich schwach war das Drumherum. Von linken politischen Gruppen war wie meistens niemand da. Einige der Menschen, die bei den Aktionen gegen Lebensmittelwegwerfen der Tage zuvor in Gießen mitwirkten oder dort angesprochen wurden, saßen im Publikum, aber verhielten sich brav. Kein Kommentar, kein Zwischenruf, gar keine Regung. Das ist die Kultur im Land der Bahnsteigkarten. So blieb der Angeklagte mit seinem Widerstand gegen die Maschinerie allein. Deutlich sichtbar war aber, dass viele das Geschehen nur schwer nachvollziehen konnten. Der offensichtliche Unsinn dieses Verfahrens zeigte sich in jeder Minute des 29.6. Auch einige Justiz- und Polizeibeamte schüttelten sichtbar den Kopf. Der Antrag des Angeklagten, die bewaffneten Einheiten aus dem Saal zu weisen, scheiterte, weil die Richterin meinte, dass eine Bedrohung von ihnen nicht ausginge, solange sie ihre Pistole noch nicht in der Hand hätten ...


Verbissen kämpfte vor allem die Staatsanwaltschaft für eine Bestrafung, während das Gericht versuchte, das Ganze formgerecht über die Bühne zu bekommen. Nach einigen Ermahnungen und Rechtsbelehrungen durch den Angeklagten gelang Letzteres sogar einigermaßen. Der nächste Prozesstag wird mit den Beschlüssen zu den Beweisanträgen des Angeklagten beginnen. Dabei wird auch die Frage zu klären sein, ob die tegut- und Penny-Bande mit ihrem Überfall auf den Containerer nicht sogar noch schwerere Straftaten begangen hat. Denn da tegut selbst klarstellte (laut Gerichtsakte), dass sie den Besitz an den Lebensmitteln rechtswirksam aufgegeben hatten und dieser daher herrenlos gewesen sei, gehörten die Produkte zum Zeitpunkt der Auseinandersetzung bereits dem Müllretter – und die Attacke aus tegut und Penny wäre als Raub zu werten. Aber davon werden Staatsanwaltschaft und Gericht nichts wissen wollen. Sie stehen für Kapital- und Machtinteressen. Recht hat, wer das Recht durchzusetzen in der Lage ist – wusste schon der bedeutende Rechtsphilosoph Gustav Radbruch. Daran hat sich nichts geändert.

 

 

Zur Zeit laufen in mehreren Städten Umfragen, wer Interesse hat, sich die Selbstverteidigung vor Gericht in einem Wochenendtraining beibringen zu lassen. Wenn zwölf oder mehr Teilnehmer_innen zusammenkommen, wird ein Termin (für die Region Gießen wahrscheinlich dann in der Projektwerkstatt in Saasen) festgelegt (Kontakt über kobra@projektwerkstatt.de).


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