Seit Wochen und Monaten erleben wir die tägliche Eskalationen im anhaltenden Krieg des türkischen Staates gegenüber die in den letzten Jahren immer breiter und entschlossender werdenden sozialen Bewegungen in Nordkurdistan (Bakur) und der Türkei. Welle für Welle sind Menschen, egal welcher Klasse, Angriffen der AKP-Regierung unter Federführung von Erdoğan und Davutoğlu, Daesh-Kämpfern (IS) und Faschisten ausgesetzt. Zusätzlich zur propagierten nationalen Einheit gegen den “Terror” werden vor allem Kurd*innen und progressive linke Kräfte seit Jahrzehnten zur Zielscheibe einer Teile-und-Herrsche-Politik im Nahen und Mittleren Osten. (1)
Im Kampf um ein Recht auf Selbstverwaltung und Selbstverteidigung jenseits der patriarchalen und kapitalistischen Logik entschließen sich viele Jugendliche, organisiert in der YPS und YPS-JIN (2), ihre Viertel in Städten wie Cizîr, Sirnex, Amed-Sûr, Farqîn, Nisêbîn, Silopiya oder Gever und ihre damit verbundene Identität, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Seit dem Aufbau der Selbstverwaltungsstrukturen 2008 (3) auf Grundlage basisdemokratischer Prinzipien der Ideen von Abdullah Öcalan und der Ausrufung der demokratischen Autonomie 2015 durch die KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans) (4) in vielen Regionen und Kommunen Bakurs, bewegt sich die Gesellschaft immer stärker in den Widerspruch zwischen "kapitalistischer Moderne" und einem erbitterten Ruf nach Menschlichkeit.
Der Widerstand organisierter Jugendlicher sowie eine übergreifende Solidarität linker Strömungen (bis hin zu linksliberalen Sympathisant*innen/Erdogan-Gegner*innen) in der West-Türkei, sind als Antwort auf die vom türkischen Staat beendeten Bemühungen zu verstehen, an einem gemeinsamen Fahrplan für Frieden und Demokratie mitzuwirken. In dieser neuen Phase kommt der gemeinsamen Grenzpolitik der EU-Staatengemeinschaft, unter dem Einfluss einer an Kapital und Nation orientierten Elite, eine besondere Bedeutung zu. Vor allem der aktuelle Deal (5) zwischen der EU, v.a. durch die deutsche Regierung, und dem türkischen Staat legt einen systematischen Ausschluss von Menschenrechten zu Gunsten nationalstaatlicher und wirtschaftlicher Interessen offen. Für eine ökonomische und sicherheitspolitische Abschottung der Festung Europa werden wieder einmal Asylrechte suspendiert und Fluchtursachen verschwiegen.
In diesem Fall kommt zusammen, was zusammen gehört. Diese neoliberale Politik bestärkt rechtskonservative Kräfte in den Gesellschaften Europas und kaschiert bewusst die Ursache für Krieg und Flucht, nämlich die kapitalistische Logik. Wer spricht heute noch vom imperialistischen Einfluss der NATO-Staaten und Russlands in Syrien und Irak?
Deutsche Rüstungsexporte und Aufklärungsflüge mit Schützenhilfe der NATO sind ganz praktische Ausprägungen dieser Politik. Eine enge Kooperation des BND mit dem türkischen Geheimdienst (MIT) verantwortet seit Jahren eine grenzenlose Repression. Ob durch das 1993 erlassene PKK-Verbot in der BRD (6), die Verfolgung von ATIK-Mitgliedern (7), Vereinsverbote, Einschüchterungen (8), staatlich organisierte Überfälle (9), den Schutz von Mobilmachungen türkischer Faschisten oder, wie jüngst berichtet, die Übergriffe, Abschiebungen und Verhaftungen von Delegationsteilnehmer*innen (10) durch türkische Soldaten zum diesjährigen Neujahr- und Frühlingsfest Newroz in Nordkurdistan. (11)
Und hier finden wir uns wieder. Wir verurteilen die Angriffe und solidarisieren uns mit unseren Freund*innen. Wir als aktive und internationalistische Genoss*innen, organisiert in verschiedenen politischen Zusammenhängen, beobachten eine schwindende Solidarität in sozialrevolutionären Bewegungen, nachdem die Bilder vom Widerstand in Kobanê und Shengal leicht konsumierbar als Projektionsfläche über unsere Bildschirme liefen. Als "tapfere Revolutionär*innen" konnten wir uns selbst in unseren virtuellen Wohnzimmern diesem Kampf nicht entziehen.
Es besteht der Wille, dass diese Kämpfe für Menschlichkeit und Selbstbestimmung ihren vermeintlichen Zenit überdauern und uns in unserer täglichen politischen Haltung bestärken, uns mit unserer unmittelbaren Gesellschaft in Kontakt bringen, damit wir endlich gemeinsam zur Diskussion der Frage vorstoßen: Wie wollen wir leben?!
Im Wissen um die Möglichkeit einer solidarischen und internationalistischen Perspektive tragen wir als Jugend in Europa eine Verantwortung. Fernab einer moralischen Doktrin aber mit einer unmittelbaren Notwendigkeit im Angesicht der Zustände, drängen wir auf die Umsetzung konkreter Ansätze von Selbstorganisierung und Selbstverwaltung, beginnend bei lokalen sozialen Kämpfen. So sehr die Logik von Staatsgewalt und Grenzen auch versucht, uns auseinander zu treiben, wir verstummen nicht. Nicht nur im Widerstand gegen den anti-muslimischen Rassismus wird die internationale Solidarität ein Schlüssel sein. Auch auf die Frage hin zu einer kommunalen und gesellschaftlichen Perspektive für eine in Teilen desillusionierte Linke in der BRD sind Ideen, Praktiken und Strategien über unsere Haltung hinaus zu diskutieren.
Solidarisch möchten wir daher aktive und interessierte Menschen einladen zusammenzukommen:
Bericht der YXK Newroz Delegation 2016
Do. | 21.04. | 18:30 Uhr | Kurdisches Gesellschaftszentrum (Nav-Dem) - Residenzstraße 54, Berlin
(1) https://www.youtube.com/watch?v=FF2P-2DDK4s
(2) http://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2016/44-kr-184-maerz-apr...
(3) http://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2014/172/99-sie-werden-u...
(4) https://isku.blackblogs.org/356/kampf-um-die-selbstverwaltung-was-ist-ei...
(5) http://interventionistische-linke.org/beitrag/aufruf-zu-newroz-2016-nein...
(6) https://www.nadir.org/nadir/initiativ/azadi/
(7) http://www.rote-hilfe.de/77-news/622-pm-protest-gegen-die-festnahme-link...
(8) http://www.yxkonline.com/index.php/554-pressemitteilung-polizei-kriminal...
(9) http://www.rote-hilfe.de/presse/684-pm-polizeirazzia-im-ujz-kornstrasse-...
(10) http://newroz.blogsport.eu/ & http://newrozbeobachtung2016.blogsport.de/
(11) https://roarmag.org/2016/03/20/on-this-day-kawa-and-the-story-of-newroz/