Ein Polizist zieht den Flüchtlingsjungen gewaltsam aus dem Bus. Die Videoszene aus Clausnitz erschüttert Deutschland. Und sie hat noch ein Nachspiel. Er und andere Flüchtlinge wollen gegen das Vorgehen der Polizei Anzeige erstatten.
22.02.2016 Von Anna Hoben
Lena Abazid ist eine stolze Frau, und nachdem sie sich das Gebrüll zwei Stunden angehört hatte, platzte ihr der Kragen. Sie verstand nicht, was die Leute da brüllten, doch die Gesten, die verstand sie sehr wohl. Lena Abazid fährt sich mit der Handkante über den Hals: Kopf ab, das hätten die Männer draußen ihnen bedeutet. Ihnen, den Flüchtlingen im Bus. Lena Abazid reagierte ihrerseits mit einer Geste, wie ein Vogel, der Körner pickt, schnellte sie mit dem Kopf nach vorne und tat, als spucke sie gegen die Windschutzscheibe, in Richtung der Demonstranten. Die Szene spielte sich am Donnerstagabend ab, sie ist in dem Video zu sehen, das sich am Freitag im Internet verbreitete. Eine Frau mit Kopftuch zeigt Verachtung für die Menschen, die ihr und den anderen Flüchtlingen im Bus nichts anderes entgegenbringen als stumpfen Hass.
Tag vier nach Clausnitz, Tag vier der Sprachlosigkeit, die mit den üblichen reflexhaften Worten überdeckt wird: Das Geschehen wird verurteilt, natürlich aufs Schärfste. Auch an Tag vier spuckt das Radio auf dem Weg nach Clausnitz Reaktionen aus. Clausnitz, das Kaff im Erzgebirge, das sich integriert in eine traurige Serie sächsischer Ortsnamen, die zum Synonym geworden sind für fremdenfeindliche Umtriebe. Ergänzen Sie die Reihe, heißt es in Intelligenztests häufig, und so könnte die Reihe in Sachsen gehen: Heidenau – Freital – Meißen – Clausnitz – Bautzen. Beliebig fortsetzbar? Wahrscheinlich.
Hinein ins Erzgebirge, wo die Äcker und Felder endlos scheinen. In Clausnitz, dem 870-Einwohner-Ortsteil der Gemeinde Rechenberg-Bienenmühle, geht es vorbei an der Bäckerei Merkel, dann ist man fast schon da. Als man auf den Hof einbiegt, werden gerade ein Junge, ein Mann und eine Frau zu einem Auto gebracht, sie gehören augenscheinlich zu den Flüchtlingen, die hier seit Donnerstag wohnen.
Frage an die Begleiter der drei: Was ist hier los, wo geht es denn hin? „Ich weiß nichts, ich bin von der Polizei“, sagt eine Frau. „Kein Kommentar“, sagt eine andere, „fragen Sie die Pressestelle.“ Und weg ist das Auto. Also drückt man die Klingel mit der Aufschrift „Unterkunft“, zwei Frauen und ein Junge öffnen die Tür. Sie lächeln und bitten die Besucher herein.
Wo sind die Frauen und die Kinder? Eine Lieblingsfrage der vorgeblich besorgten Bürger, die von ihnen jedes Mal sogleich auch beantwortet wird: Gegen Familien, gegen Frauen und Kinder habe man ja nichts; es kämen aber ja nur junge alleinstehende Männer. Von denen indes ist nun in Clausnitz nicht viel zu sehen. Stattdessen sieht man: Frauen und Kinder.
Lena Abazid, 42, aus Daraa in Syrien, der Stadt, in der die Proteste gegen Assad begannen und die zum Ausgangspunkt des Bürgerkriegs wurde. Ihre Schwester Rana Abazid, 29, und Ramzi Khatun, 14. Für Lena Abazid und die anderen ist dieser Montag nicht Tag vier nach Clausnitz. Für sie ist es Tag vier in Clausnitz. Anders als die Reporter, die seit Freitag im Dorf einfallen, können sie nicht einfach wieder weg.
Ramzi ist der Bruder von Luai, dem Jungen, der bekannt wurde, weil die Polizisten am Donnerstagabend bei ihm „einfachen unmittelbaren Zwang“ angewendet haben, wie sie es nennen. Zu sehen ist im Video, wie sie ihn brutal aus dem Bus mit dem unglaublichen Namen „Reisegenuss“ zerren. Lena Abazid sagt, die Beamten hätten sogar einen Elektroschocker angewendet. Der Chemnitzer Polizeipräsident Uwe Reißmann sagte am Sonnabend, das Vorgehen sei „absolut notwendig und verhältnismäßig“ gewesen. Die Flüchtlinge hätten aus dem Bus heraus gefilmt und mit Gesten wie dem Stinkefinger die davorstehenden Demonstranten provoziert.
Lena Abazid, die Frau, die die Spuckbewegung gemacht hat, kommt von sich aus darauf zu sprechen. In Syrien hat sie als Lehrerin gearbeitet, ihre Schwester Rana hat einen Abschluss in arabischer Literatur. Jetzt, am Wohnzimmertisch in Clausnitz, schlägt Lena Abazid beschämt die Hände vors Gesicht und sagt: „Das war ein Fehler. Ich habe so etwas noch nie gemacht, aber ich hatte extreme Angst. Es war wie ein Reflex.“ Sie bitte um Verzeihung.
Luai, dessen Vater Majdi Khatun und ihre Schwester Forat seien gerade auf dem Weg zur Polizei, um Anzeige gegen die Beamten zu erstatten, die sich am Donnerstagsabend so brutal aufgeführt haben. Ihre Schwester Forat, 43, sei von Polizisten geschlagen worden. Auf ihrem Handy zeigt Lena Abazid ein Video von ihrer Schwester, die unter Heulkrämpfen zusammenbricht, als sie nach dem Spießrutenlauf schließlich in der Wohnung ist. „Ich weiß, dass die Polizei eigentlich Menschen schützt und nicht schlägt“, sagt Lena Abazid. Von Deutschland habe sie immer ein leuchtendes Bild gehabt. „Aber jetzt ist etwas zerbrochen. Wir haben kein Vertrauen mehr in die deutsche Polizei.“
Seit drei Monaten sind Lena, Rana und Forat in Deutschland, über Chemnitz und Schneeberg sind sie nach Clausnitz gekommen. Mit ihren beiden weiteren Schwestern sind sie zu fünft aus Syrien geflohen, irgendwo unterwegs haben sie sich verloren. Die beiden Schwestern sind jetzt in den alten Bundesländern. Dass Lena, Rana und Forat nicht in Clausnitz bleiben wollen, versteht sich von selbst. „Wir wollen nur hier weg“, sagt Lena Abazid. Geschlafen hätten sie seit den Vorfällen gar nicht. Aus dem Haus trauten sie sich nicht. „Nachts hören wir Geräusche. Wir wissen nicht, ob es real ist oder psychisch.“
Auch der 14-jährige Ramzi ist in Videos von den Protesten zu sehen. Er ist der Junge in der blauen Jacke, der sich anfangs an einer Frau festklammert und der später weinend den Bus verlässt. Heute, an Tag vier, hat er sich gefangen. Etwas schüchtern zwar tapst der barfüßige Junge im Wohnzimmer herum, taut dann aber schnell auf, schnappt sich die Kamera des Fotografen, grinst über beide Ohren und knipst ein paar Fotos. Er tischt Kekse und Getränke auf, schiebt dann eine Pizza in den Ofen und bietet auch die, als sie fertig gebacken ist, als erstes den Gästen an.
Ramzi weiß nicht, wer die Frau ist, die plötzlich im Treppenhaus vor der Tür steht und ihn mit einem großen Lächeln bedenkt. Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) ist ins Erzgebirge gefahren: Pressegespräch in der Gemeindeverwaltung Rechenberg-Bienenmühle, dann ein kurzer Besuch in Clausnitz. „So ein Sonnenschein“, sagt sie über Ramzi. Überhaupt ist sie dafür, eher Sonnenschein als schlechtes Wetter zu verbreiten. Was sich hier abgespielt hat, sei „verabscheuungswürdig“. Man dürfe aber nicht vergessen, dass es etwa 20 bis 30 Menschen gewesen seien, die skandiert hätten. Gleichzeitig gebe es rund 100 Helfer in der Gemeinde. Am Sonntag sei schon ein Fußballturnier veranstaltet worden mit einheimischen und Flüchtlingskindern. „Da sieht man, die Integration hat schon Fuß gefasst.“
Zusammen mit dem Bürgermeister von Rechenberg-Bienenmühle, Michael Funke (parteilos), hat sich die Ministerin wieder auf den Weg gemacht, da kommt ein Anwohner auf den Hof spaziert, Jogginghose, Turnschuhe, Kugelbauch, Rehpinscher Meiki an der Leine. Er hat eine Wohnung im Obergeschoss eines der drei Häuser, in denen jetzt Flüchtlinge untergebracht sind, und er sieht das mit der Integration ein bisschen anders. Der erzgebirgische Kammwind weht einen bekannten Geruch herüber, dabei ist es erst 14 Uhr.
„Wie soll denn hier Integration stattfinden“, herrscht der Mann die Reporter an. Eine Dreiviertelstunde laufe man zum Supermarkt. Und überhaupt: „Sowas gehört hier nicht her.“ Wenn nun Touristen wegblieben, dann nicht etwa wegen der fremdenfeindlichen Umtriebe, sondern wegen der Flüchtlinge. Früher, sagt der Mann und deutet auf ein Papiertaschentuch, das auf der Wiese vor dem Haus liegt, früher war hier alles sauber. „Da hat ein Grashalm neben dem anderen gestanden.“
Bei der Entstehung dieses Textes half Hassan Messlem aus Meißen als Dolmetscher aus dem Arabischen.