Die kritiklose NSU-Aufklärung im Schnelldurchgang

Erstveröffentlicht: 
18.02.2016

Im Abschlussbericht des Stuttgarter NSU-Untersuchungsausschusses ist die mangelhafte Arbeit des Verfassungsschutzes kein Thema. Womöglich wurden Akten vernichtet und wichtige Zeugen nicht vernommen.

 

39 Sitzungen, 136 Zeugen, 18 Sachverständige, ein Abschlussbericht so dick wie ein Backstein: Vordergründig scheint es, als habe sich der NSU-Untersuchungsausschuss im Stuttgarter Landtag redlich bemüht und ganze Arbeit geleistet.

 

Ein gutes Jahr lang ging es in Baden-Württemberg um die heiklen Fragen, welche Verbindungen die Rechtsterrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) in den deutschen Südwesten hatte und wer die Polizistin Michèle Kiesewetter ermordete. Dabei kam auch tatsächlich viel Neues und durchaus Unerfreuliches ans Licht – vor allem über die Arbeit des baden-württembergischen Landesamts für Verfassungsschutz.

 

Offenkundig wurde: Das Amt hat bei der NSU-Aufklärung wichtige Spuren nicht intensiv verfolgt, Zeugen vernachlässigt, Zusammenarbeit blockiert und womöglich sogar Akten vernichtet. Doch nach Kritik der Abgeordneten an diesem Versagen sucht man im Abschlussbericht vergeblich.

 

Mit dem 1000-Seiten-Wälzer muss sich am Donnerstag kurz vor der Landtagswahl das Parlament befassen. Ausdrücklich hatten CDU, SPD, Grüne und Liberale eine einheitliche Einschätzung abliefern wollen, also waren Kompromisse nötig.

 

Der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler (SPD) nannte die "vertrauensvolle Zusammenarbeit" der Parlamentarier sogar "rekordverdächtig". Herausgekommen ist allerdings eine Abschlussbewertung, die überaus gnädig und diplomatisch ausfiel, statt die Geheimdienste und die Polizei zu rügen. Und unterm Strich empfiehlt der Ausschuss sogar, den Verfassungsschutz im Land zu stärken – genau jenen Dienst also, dessen Versäumnisse und intransparente Arbeit der Ausschuss eben erst aufgedeckt hatte.

 

Eine Enthaltung gab es lediglich beim kurzen Bewertungsteil, dessen Beweiswürdigung ein Grünen-Abgeordneter offenbar nicht rundweg zustimmen wollte. Doch insgesamt beschwichtigt der Ausschuss die von ihm selbst aufgedeckten Fehler fast schon nachsichtig. So heißt es, dass die Ermittler dem NSU als Kiesewetter-Mörder sicher selbst dann nicht auf die Spur gekommen wären, wenn sie gar nichts falsch gemacht hätten.

 

Solche Einschätzungen werden mit großer Selbstgewissheit präsentiert – obwohl zahlreiche Fakten nach wie vor völlig offen sind, weil der spät eingesetzte Ausschuss nicht mal ein ganzes Jahr Zeit hatte für die Beweisaufnahme.

 

Phantombilder blieben unter Verschluss

 

So ist immer noch unklar, aus welchem Motiv die Polizistin Kiesewetter getötet wurde. Den Abgeordneten reichte die wenige Zeit aber offenbar sehr wohl, um sich voll und ganz der Sichtweise des Generalbundesanwalts anzuschließen: Kiesewetter und ihr Polizeikollege Martin A., heißt es, seien eindeutig Zufallsopfer des NSU gewesen.Daran, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos tatsächlich die Mörder von Heilbronn waren, hat der Ausschuss "keinen Zweifel". Begründet wird das ausschließlich mit Indizien, etwa einer mit Kiesewetters Blut beschmierten Jogginghose, die im Unterschlupf der rechtsextremen Terroristen gefunden wurde. Ein eindeutiger Nachweis, dass die Uwes am Tatort waren, fehlt.

Dabei wollten Zeugen wollen in der Nähe des Tatortes blutverschmierte Männer gesehen haben. Doch der Untersuchungsausschuss kam zu dem Schluss, dass diese nichts mit dem Mord zu tun hatten: Zeitabläufe und das Verhalten schienen nicht plausibel.Dabei waren sogar Phantombilder dieser Männer erzeugt worden, außerdem ein Täterbild, das die Polizei mithilfe des Kiesewetter-Kollegen Martin A. erstellt hatte. Der im Fall Kiesewetter ermittelnde Staatsanwalt Christoph Meyer-Manoras war in der Vergangenheit schwer dafür kritisiert worden, diese Phantombilder nicht veröffentlicht zu haben.

 

Gerüchte und Mutmaßungen waren laut geworden, dass manche der Gesichter dem einen oder anderen Verbindungsmann des Verfassungsschutzes oder anderer Geheimdienste geähnelt habe. Vor dem Untersuchungsausschuss verteidigte Meyer-Manoras aber seine Entscheidung vehement. Martin A. habe einen Kopfschuss erlitten, daher sei sein Erinnerungsvermögen nicht als verlässlich zu werten.

 

Das Pikante: Für das Kapitel im Abschlussbericht über "Mögliche Fehler der Ermittlungsbehörden" im Fall Kiesewetter soll die FDP zuständig gewesen sein, die ihren Abgeordneten Ulrich Goll in den Untersuchungsausschuss entsandt hatte. Goll war jedoch zum Zeitpunkt des Mordes Justizminister – und damit politisch für die Staatsanwaltschaften zuständig.

Wenig überraschend unterstützt der Bericht daher die Haltung von Meyer-Manoros und konstatiert, dass eine Erinnerungsfähigkeit von Martin A. "aufgrund der Schwere der Hirnverletzungen nahezu ausgeschlossen" sei. Als Begründung wird auf drei Sachverständige verwiesen, darunter der Neurologe Rudolf van Schayck. Er leitet die Klinik, in der A. behandelt wurde.

 

Van Schayck hatte indes mitnichten eine Erinnerungsfähigkeit rundweg ausgeschlossen, sondern ausgesagt: "Das ist denkbar und möglich, dass eine solche Erinnerung existiert und dass er auf deren Grundlage auch ein Phantombild erstellen kann." Auch der Gerichtsmediziner Heinz-Dieter Wehner war nicht so kategorisch gewesen, wie der Bericht vermuten lässt. Seine Position: "Was man da rauskriegen kann, das ist die Kunst der Psychologen."

 

Zeugen sind nicht gehört worden

 

Um die Bewertung des Falles Florian Heilig hat sich die SPD gekümmert, die zum Todeszeitpunkt des jungen Mannes den Innenminister stellte: Reinhold Gall. Heilig war Mitte September 2013 auf dem Cannstatter Wasen in seinem Auto verbrannt. Am selben Nachmittag hätte er eigentlich erneut vom Landeskriminalamt vernommen werden sollen.

 

Heilig soll im Sommer 2011 und damit noch vor Bekanntwerden des NSU gegenüber zwei Ausbildungskolleginnen gesagt haben, er wisse, wer Michèle Kiesewetter ermordet habe. Im Januar 2012 berichtete Heilig gegenüber zwei LKA-Beamtinnen von einer gemeinsamen Veranstaltung des NSU mit einer Neoschutzstaffel (NSS) im schwäbischen Öhringen, die 2010 oder 2011 stattgefunden habe.

 

Doch die Ausbildungskolleginnen hat der Ausschuss nicht vernommen. Der Vater des Toten und eine frühere Freundin haben als Zeugen zwar ausgesagt, dass Heilig ihnen Wissen zum Heilbronner Polizistinnen-Mord offenbart habe. Doch diese zwei Zeugen erschienen dem Ausschuss offenbar nicht glaubhaft.

 

Er folgerte: "Der Ausschuss konnte mit Ausnahme der Aussagen der Zeugen ,Bandini' und Gerhard Heilig keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür finden und schließt im Ergebnis aus, dass Heilig wusste, wer den Anschlag auf Michèle Kiesewetter und Martin A. verübt hat." Dass er sich auch zur Ceska-Mordserie geäußert haben soll, die ebenfalls dem NSU zugeschrieben wird, hat der Ausschuss in seiner Beweiswürdigung nicht einmal erwähnt.

 

Auch die Tatsache, dass die baden-württembergische Verfassungsschutz-Präsidentin Beate Bube nach dem Auffliegen des NSU im November 2011 vier volle Jahre gebraucht hat, bis sie veranlasste, sämtliche NSU-Akten digitalisieren zu lassen, stieß nicht auf Kritik. Dabei hatte Bube vor dem Ausschuss eingestehen müssen, dass Informationen bis heute nicht sicher aufgefunden werden können, weil bis Ende Oktober 2015 gerade mal ein Fünftel der Akten elektronisch vorlagen.

 

Als beispielsweise der erste Untersuchungsausschuss des Bundestags Informationen zum baden-württembergischen Ku-Klux-Klan-Anführer Achim Schmid angefordert hatte, ließ Bube 30 Mitarbeiter eine Woche Abertausende Ordner durchblättern und nach Schmids Namen suchen. Niemand kann sagen, ob dabei nicht etwas durchgegangen ist. Doch auch im Anschluss an diese Erfahrung änderte sich beim Landesamt offenbar nichts.

 

Auch bei der Frage, ob nach dem Auffliegen des NSU und vor dem förmlichen Aktenvernichtungsstopp im Juli 2012 Unterlagen aus dem Rechtsextremismus-Bereich geschreddert worden seien, wand sich Beate Bube kräftig. "Das fällt mir schwer, das sozusagen mit der notwendigen Detailtiefe beantworten zu können", sagte die Präsidentin. "Aber soweit ich informiert bin, gibt es keine Aktenvernichtungen, die hier tatsächlich nur annähernd eine Relevanz haben können. Insoweit würde ich das mit dem gewissen Unsicherheitsfaktor hier definitiv ausschließen können."

 

Mit einem "gewissen Unsicherheitsfaktor" etwas "definitiv ausschließen"? Das kann vermutlich nur eine Geheimdienstchefin. Dennoch erhielt ihr Amt im Abschlussbericht nicht etwa Kritik, sondern Lob. "Der Ausschuss sieht die dringende Notwendigkeit der Digitalisierung und begrüßt die Bemühungen des Landesamtes für Verfassungsschutz, zeitnah den Gesamtbestand zu digitalisieren", heißt es aufmunternd.

 

Bei so manchem Ausschussmitglied hat die Fülle an unzureichenden Informationen aber zumindest ein ungutes Gefühl hinterlassen. Der Karlsruher Alexander Salomon, der für die Grünen teilnahm, ist enttäuscht von der Auskunftsbereitschaft der Geheimdienste und anderer staatlicher Behörden: "Ich hätte erwartet, dass der Aufklärungswille an erster Stelle steht, doch davon ist wenig zu spüren gewesen", sagte er bei einer Veranstaltung mit dem Titel "Verstrickungen, Vertuschungen – NSU-Aufklärung im Land".

 

Mindestens zwei baden-württembergische Polizisten, darunter Kiesewetters Gruppenführer, seien Mitglieder in einem deutschen Ableger des rassistischen Geheimbundes Ku-Klux-Klan gewesen, und zahlreiche V-Leute seien dicht am NSU-Trio dran gewesen. "Das alles lässt einen schaudern, es stellt sich die Frage: Was wussten die Ämter?"

 

Das könnte nun die zentrale Frage für eine Fortsetzung der Veranstaltung sein. Der Untersuchungsausschuss empfiehlt dem neuen Landtag, einen neuen NSU-Untersuchungsausschuss einzurichten. Zu viert werden die Fraktionen dann allerdings nicht mehr sein, und einmütig dürfte das Ergebnis auch nicht ausfallen. Am 13. März ist Landtagswahl – und danach wahrscheinlich auch die AfD mit von der Partie.