Ein Blick in Hitlers düstere Gedankenwelt

Erstveröffentlicht: 
09.01.2016
„Mein Kampf“ ist am Freitag in einer kommentierten Edition erschienen – doch Wissenschaftler streiten, ob das richtig ist
Von Patrick Guyton

 

München. Das ist neu: Wenn die Besucher der Buchvorstellung anschließend den Saal verlassen, tragen sie 5,4 Kilogramm Hitler-Originaltext in der Hand. Die Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) geben eine neutrale dunkelblaue Stofftasche dazu, damit man die beiden Bände „Mein Kampf“ verstauen und verstecken kann. Denn bis vor Kurzem war das ja noch verbotene Ware.

 

Es ist eine ungewöhnliche Veranstaltung zu einem ungewöhnlichen Buch: Die in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts geschriebene Hetzschrift des späteren Diktators Adolf Hitler wird in Deutschland wieder verlegt, in einer „kritischen Edition“ und herausgeben vom IfZ München-Berlin. Siebzig Jahre lang waren Neudrucke in der Bundesrepublik untersagt – mit Hinweis auf das Urheberrecht. Dieses ist nun am Neujahrstag erloschen, und damit darf das Buch wieder gedruckt und verkauft werden. Das IfZ will nicht abseits stehen und liefert eine kommentierte Darstellung – der Originaltext soll historisch eingeordnet und beschrieben werden. Irrwitzige Behauptungen Hitlers sollen so entlarvt werden.

 

Knapp 2000 Seiten umfassen die beiden Bände, rund zwei Drittel davon sind Einleitungen, Kommentare und Register. Die Forscher waren auch Getriebene der Zeit, denn ohne Urheberrecht sind nun ganz viele Druckvarianten möglich. Und es wäre, so sagt Institutsleiter Andreas Wirsching, „politisch-moralisch nicht zu vertreten, in Sachen ,Mein Kampf’ untätig zu bleiben“. Diese Aufarbeitung von Rassismus und Gewalt sowie deren Wurzeln sei auch ein „sehr spezifischer Dienst an der Würde der Opfer“.

 

Vor dem unscheinbaren Institutsgebäude steht an diesem Vormittag Polizei, viele TV-Anstalten haben ihre Übertragungswagen postiert. Drinnen im großen Lesesaal drängeln sich Gäste und Journalisten. Aus Frankreich, Israel und von der „New York Times“ sind Berichterstatter angereist. Auf dem Podium sitzt auch Ian Kershaw, der renommierte britische Historiker und NS-Forscher, der mit seiner zweibändigen Hitler-Biographie Maßstäbe gesetzt hat. Er erteilt dieser Ausgabe seine größte Unterstützung. Es sei „höchste Zeit“ für die „große wissenschaftliche Leistung“, sagt er in gutem Deutsch. Die Bundesrepublik als eine reife Demokratie könne dieses Buch ertragen. Verbote und Zensur riefen nur eine „Faszination am Unzugänglichen“ hervor.

 

Mit trockenem Humor erzählt der 72-jährige Professor, dass er selbst zwei Nazi-Ausgaben des Buches besitze. In einer, in einem britischen Antiquariat gekauft, stehe die Widmung: „To Charly with love from Adolf“. Ein englischer Besatzungssoldat habe das Buch wohl aus Deutschland mitgebracht und die Bemerkung spaßeshalber hineingeschrieben. Kershaw meint: „Hitlers Buch hat der heutigen Welt nichts zu sagen, es ist völlig nutzlos.“ Aber es sei „ein historischer Text“. Das Interesse an der Edition ist weitaus größer als angenommen. Die Erstausgabe von 5000 Stück ist schon vergriffen. Als Institutsleiter Wirsching sagt, dass es schon weitere 15 000 Bestellungen gebe, die gerade gedruckt würden, zucken die Herausgeber leicht zusammen – dass es so viele sind, hatten sie selbst noch nicht gewusst.

 

„Dieser spezielle Fall braucht ein spezielles Konzept“, sagt Christian Hartmann, Leiter des Herausgeberteams. Die 3700 Anmerkungen seien auch „Gegenrede“. Auf jeder Seite ist der Originaltext „umzingelt“ von ihnen. Drei Beispiele nennt Hartmann: So müsse etwa Hitlers Begriff der „Rassenschande“ erklärt werden, ebenso wie der „Krieg um Lebensraum“. Auch bei der „Stilisierung“ der NSDAP-Parteigeschichte seien Widerworte nötig, da Hitlers Darstellung – wie so oft – wenig mit der Wirklichkeit zu tun habe.

 

Viel Zeit nimmt bei der Buchvorstellung die Diskussion über eine Abrechnung statt, die am Vortag prominent in der „Süddeutschen Zeitung“ erschienen war: Der britische Literaturwissenschaftler Jeremy Adler stellt darin die These auf, dass „Mein Kampf“ nicht erscheinen dürfe, weil der Text das „absolut Böse“ sei. Kritische wissenschaftliche Ausgaben seien großen Dichtern und Denkern vorbehalten. Institutsleiter Wirsching fragt nach der Alternative: Hätte man nichts tun sollen und den Text aufgrund des abgelaufenen Urheberrechts „vagabundieren lassen“? Wer das Buch als das „absolut Böse“ bezeichne, arbeite am „negativen Mythos“. Er, Wirsching, stehe aber „auf der Seite der Erschließungsrationalität“. Und Ian Kershaw bezeichnet Adlers Hauptargument als falsch: Es gebe auch Editionen von Schriften anderer Diktatoren, etwa Stalin oder Mussolini. Und vieles von Hitler selbst, etwa seine Reden. „Mein Kampf“ sieht er als das Füllen einer Lücke: „Natürlich sind alle diese Editionen nützlich – für Forschung und für Pädagogik.“