Bürgerwehren in Ost und West - Wie Neonazis gegen Flüchtlinge hetzen

Erstveröffentlicht: 
01.01.2016

Landauf, landab gründen "besorgte Bürger" sogenannte Bürgerwehren. Oft Hand in Hand mit Rechtsextremisten, machen sie Stimmung gegen Flüchtlinge.

 

Es ist gerade ein Trend: Wer Angst hat vor Flüchtlingen hat oder solche Ängste schüren möchte, gründet oder organisiert sich in einer Bürgerwehr. Offenbar sei es "in, auf eigene Faust für Ordnung und Sicherheit sorgen zu wollen", sagt Jana Kindt, Polizeisprecherin in Mittelsachsen. In einem Interview mit der "Freien Presse" spricht sie davon, dass mit Blick auf ankommende Flüchtlinge eine "gefährliche Hysterie entfacht" worden sei. Und versichert: "Hoheitliche Aufgaben obliegen der Polizei, und das werden wir auch nicht aus der Hand geben."

 

Es ist - neben der vielfältigen Hilfe für Flüchtlinge durch ehrenamtlich und freiwillig arbeitende Bürger - ein bundesweites Phänomen, wie die Bundesregierung in der Antwort auf eine Parlamentarische Anfrage der Linken-Bundestagsfraktion zugibt. Die Abgeordnete Martina Renner hat nach Aktivitäten von Bürgerwehren gefragt, dabei besonders nach deren Aktivitäten gegen Asylsuchende und den Verbindungen zur rechtsextremistischen Szene. Sie sieht eine Herausforderung für Politik wie Behörden - auch weil mit Bürgerwehren die Grenze zur Selbstjustiz oftmals überschritten wird. 

 

Bei sieben Bürgerwehren gibt es rechtsextremistische "Anhaltspunkte"


Bundesweit listet das Innenministerium in der dem Tagesspiegel vorliegenden Antwort sieben Bürgerwehren auf, bei denen es "Anhaltspunkte für eine rechtsextremistische Ausrichtung" gibt. Erwähnt wird Waibstadt in Baden-Württemberg, wo der neonazistische Zusammenschluss "Freie Nationalisten Kraichgau" im Herbst 2014 vor einer Flüchtlingsunterkunft "Nachtwachen" organisierte. In Dortmund und Wuppertal ging 2014, initiiert von der Partei "Die Rechte", ein sogenannter "Stadtschutz" auf Streife. In Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern wurde im März unter Mitwirkung eines damaligen NPD-Kreisrats eine Bürgerwehr gegründet. Im Mai schreibt der Kreisvorsitzende der NPD im bayerischen Ingolstadt einen offenen Brief an den Oberbürgermeister und kündigt nach angeblichen Belästigungen durch Asylbewerber die Gründung einer Bürgerwehr an. Im Ortsteil Buch von Berlin-Pankow organisiert die NPD im September und Oktober sogenannte "Kiez-Streifen". Zuletzt wurde im Dezember in Halle die neonazistische Gruppierung "Brigade Halle" aktiv - sie mobilisierte auf Facebook zu "Patrouillen " und "Spaziergängen im Stadtteil Silberhöhe, in dem sich eine Flüchtlingsunterkunft befindet.

 

Die Forderung nach Bürgerwehren gehöre zum Agitations- und Kampagnenschwerpunkt der NPD, berichtet die Bundesregierung weiter. Als Beleg erwähnt sie unter anderem, dass der stellvertretende NPD-Chef von Rheinland-Pfalz im März - pauschal Asylbewerber verunglimpfend - die Organisation von Bürgerwehren gegen "Brandmörder und Vergewaltiger" verlangt habe. 

 

Die Justiz greift erst selten ein


Nur einen einzigen Fall nennt die Regierung, in dem die Beobachtung von und die Ermittlungen gegen eine Bürgerwehr zu "exekutiven Maßnahmen" führte: Er betrifft die im Frühjahr gegründete "Bürgerwehr FTL/360" in der Kleinstadt Freital bei Dresden, die Initiative hat gut 2400 Likes auf Facebook. Sie kontrollierte Asylbewerber in Bussen, rief zur Blockade einer Willkommensdemo auf, mobilisierte zu Anti-Asyl-Aktionen in Heidenau oder vor der Flüchtlings-Zeltstadt in Dresden. Laut Staatsanwaltschaft waren es Mitglieder der "Bürgerwehr FTL/360", die im Juni Pro-Asyl-Aktivisten an einer auf der Straße von Freital nach Dresden verfolgten und mit einem Baseballschläger die Windschutzscheibe deren Autos an einer Tankstelle einschlugen.

 

Im Fall Freital ging die Justiz gegen die Bürgerwehr vor. Anfang November durchsuchten Einsatzkräfte des für extremistische Straftaten zuständigen Operativen Abwehrzentrums der sächsischen Polizei neun Wohnungen, der "Bürgerwehr FTL/360"-Anführer wurde verhaftet, auch zwei weitere Männer und eine Frau sollten damals dem Haftrichter vorgeführt werden.

 

Der Überblick ist nicht vollständig


Die Bundesregierung bestreitet nicht, dass ihre Aufstellung zu Bürgerwehren nicht vollständig ist: Der Begriff "Bürgerwehr" sei "kein Katalogwert" im Rahmen des kriminalpolizeilichen Meldedienstes zu Fällen politisch motivierter Kriminalität. Auch die Frage, wie oft Asylsuchende Opfer von Straftaten wurden, die Bürgerwehr-Mitglieder verübt haben, bleibt unbeantwortet, denn in der Kriminalstatistik wird der aufenthaltsrechtliche Status von Geschädigten nicht erfasst. Zu Ermittlungsverfahren hat die Bundesregierung "keine Erkenntnisse", weil sie nach der im Grundgesetz vorgegebenen Kompetenzordnung in die Zuständigkeit der Länder fallen.

 

Linke: Bundesregierung unterschätzt das Problem


Aus Sicht der Linken-Politikerin Renner unterschätzt die Bundesregierung das Problem. Allein im Bundesland Thüringen - dort hat die Politikerin ihren Wahlkreis - würden ihr auf Anhieb ein halbes Dutzend entsprechender Bürgerwehren einfallen, die nicht genannt würden, sagt sie dem Tagesspiegel. Gegen Mitglieder der "Bürgerwehr Gerstungen, Untersuhl und Umgebung" wird dort wegen Volksverhetzung ermittelt.

 

In der Vorbemerkung zu ihrer Anfrage geht sie auch auf Fälle aus Schwanewede in Niedersachsen, Troisdorf im Rheinland, Aachen, und Neulingen in Baden-Württemberg ein - alle werden in der Antwort der Regierung nicht aufgegriffen. Anderes Beispiel: Klingenthal im Vogtland. Dort drohte die "Bürgerinitiative für ein schönes und sauberes Klingenthal" im November mit der Gründung einer Bürgerwehr, sollte das örtliche Polizeirevier nicht wieder rund um die Uhr besetzt werden.

 

Die tatsächliche Gefährdung durch rassistische Bürgerwehren werde von der Regierung nicht abgebildet, sagt Renner. Die Politikerin verlangt: Angesichts der engen Vernetzung mit der organisierten rechten Szene solle das Bundeskriminalamt im Rahmen seiner Clearingstelle "Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte" als Zentralstelle tätig werden. Die Analysen seien "lückenhaft", weil sie sich lediglich auf die Informationen des Verfassungsschutzes bezögen.