Das strategische Dilemma der Linken des 21. Jahrhunderts

Puzzle

Eine Antwort auf Thomas Seibert: Erste Notizen zum Plan A einer neuen Linken (nicht nur) in Deutschland

 

Thomas Seibert von der Interventionistischen Linken (IL) hatte am vorigen Sonntag (13.12.) eine vierzehn-seitige Skizze für einen „Plan A einer neuen Linken (nicht nur) in Deutschland“ veröffentlicht. Das Papier erschien bei kommunisten.de, dessen V.i.S.P., Leo Meyer, auch in der ersten Fußnote des Seibert-Papiers zustimmend zitiert ist.

 

Seiberts Text stellt viele (richtige) Fragen, die eine Linke (egal welcher politischer Rich­tung) beantworten muss, wenn sie überhaupt ‚politikfähig’ sein will. Wobei die Frage, was eigentlich ‚(linke) Politikfähigkeit’ bedeutet, selbst noch diskussionswürdig ist. Den Aufhänger für Seiberts Überlegungen bilden die Entwicklungen in Griechenland, die zum Wahlsieg von Syriza geführt haben. 

 

A) VORAUSSETZUNGEN FÜR ‚LINKEN WIDERSTAND’ (Neue soziale Bewegungen)

 

Wir stimmen Seibert zu, dass die griechische Syriza mehr Unterstützung von „aussen“ hät­te bekommen müssen (insbesondere soziale Kämpfe in den imperialistischen Kernstaaten wie der BRD) und dass die Krise in Griechenland eigentlich zu einer „Krise der EU“ hätte gemacht werden müssen, wenn ein Bruch mit der Austeritätspolitik hätte gelingen sollen.

 

Richtig ist auch, dass die OXI-UnterstützerInnen zwar gegen die Austeritätspolitik waren, aber auch für den Verbleib in der EU. Dies war der zentrale programmatische Widerspruch der gesamten Syriza-Politik.

 

Seiberts strategische Schlussfolgerungen, die wir teilen, sind:

 

a) sich auf eine langfristige Perspektive einstellen („mehrjähriger Prozess“)

 

b) der Übergang zu transnationaler Politik (als Folge der Globalisierung) kann nur auf na­tionaler oder lokaler Ebene beginnen.

 

Seibert nennt drei Hauptprobleme für heutige linke Politik:

 

1) „Der erste liegt in der systematischen Entpolitisierung nicht nur der europäischen, son­dern der Weltverhältnisse nach dem Zusammenbruch sämtlicher Sozialismen des 20. Jahrhunderts.“

 

2) „Der zweite liegt im seither ungebrochenen Ausgriff des Kapitals eben nicht mehr nur auf die Arbeit, sondern auf das Ganze des Lebens und der Welt.“ (Ökonomisierung sämtli­cher Lebensverhältnisse)

 

3) „Verstärkt werden beide Faktoren drittens durch die Rückschläge der düsteren Zu­kunftsperspektiven dieses Kapitalismus in die Subjektivität der Unterworfenen. In unseren Gesellschaften führt das zu der sich selbst als ‚realistisch’ verstehenden, wenn auch latent verzweifelten Zustimmung der Meisten zu einem Krisen- und Kriegsregime, dessen letztes Versprechen die Sicherung ‚unserer’ Grenzen zu den ringsum näher rückenden Zusam­menbruchs- und Verwüstungsregionen ist. Die systematische Entpolitisierung durch einen alternativlos gewordenen Kapitalismus und der Überlebensrealismus der Mehrheitsgesell­schaft begründen die Metastabilität der neoliberalen Un-Ordnung: den Umstand, dass sie sich nicht trotz, sondern gerade durch ihre zunehmende Instabilität erhält.“

 

Den letzten Punkt mit der zunehmenden Instabilität sehen wir kritisch, da er uns zu sehr nach einer latenten Zusammenbruchstheorie aussieht. [1] Davon kann aber beim gegenwär­tigen Kapitalismus, zumindest in den Metropolen, nicht gesprochen werden. Ansonsten halten wir diese Diagnose grosso modo für richtig.

 

Aus dieser Diagnose leitet Seibert die Notwendigkeit ab: „Er wird der Plan sein, auf den sich zunächst einmal die Minderheiten einigen, die sich dem neoliberalen Konsens verwei­gern.“ Er nennt diese Minderheit das „dissidente Drittel“.

 

Wir sind unsererseits diesbezüglich skeptisch – sowohl, was die begriffliche Ebene, als auch, was die Quantifizierung anbelangt.

 

Zur Quantifizierung:

 

  • Die Wikipedia fasst die Meinungsumfragen der letzten Zeit, wie folgt zusammen: „Ein Bündnis aus SPD, Die Linke und Grünen könnte eine Mehrheit“ nur dann „haben, wenn weder AfD noch FDP in den Bundestag einziehen.“ [2]

  • Was die Nicht-WählerInnen anbelangt, so schreibt Thomas Seibert selbst: „doch tendieren viele ‚Politikverdrossene’ eher nach rechts als nach links.“

  • und was die Wählenden anbelangt, so wählt ein erheblicher Teil der WählerInnen von SPD und Grünen diese Parteien nicht trotz, sondern wegen deren neoliberalen, (hu­manitär-)militärinterventionistischen Ausrichtung.

  • Und die WählerInnen der Linkspartei sind überwiegend jedenfalls – zumindest ziemlich – langmütig, was deren neoliberale Regierungsbeteiligungspraxis (wenn möglich) betrifft, und nicht unbedingt dem „dissidenten“ Spektrum zuzurechnen, was Fragen des Nationalismus/Rassismus und des Geschlechterverhältnisses / der sexuellen Orientie­rung(en) anbelangt.

 

Und was die begriffliche Ebene anbelangt:

 

Wir stimmen Seibert zu,

 

a) dass dieses Milieu sich stark aus den sog. „Mittelklassen“ rekrutiert (wobei wir allerdings gerade in dem Denken in der „Mittelklassen“-Kategorie einen wichtigen Teil des ‚Problems’ sehen) und

 

b) dass diese Leute nicht aus eigenem materiellem Interesse handeln, sondern aus mora­lischen und politischen Motiven, die auf gewissen Ideen beruhen, denen sich diese Leute bewusst sind. Dies macht sie grundsätzlich ansprechbar für gesellschaftliche Ideen und Entwürfe, die über den bestehenden Rahmen hinausgehen. Ob das insgesamt zu einer „Linksverschiebung“ führen kann, bleibt abzuwarten. Wir neigen da eher zu einer gewis­sen Skepsis; und zwar nicht, weil uns das – in diesem Sinne („über den bestehenden Rah­men hinaus“) „utopische“ Denken fernliegt, sondern weil bislang alle sozialen Kämpfe und Bewegungen nach 1945 mit Niederlagen endeten.

 

Uns scheint, dass sich an dieser mäßigen Erfolgsbilanz wenig ändern wird, solange sich

 

  • ein enger Begriff von „Arbeiterklasse“ / „Proletariat“ auf Seiten der Reste des stali­nistischen, maoistischen und trotzkistischen Partei-Marxismus einerseits

     

    und

     

  • ein affirmativer bis weinerlich-selbstkritischer Un-Begriff von „Mittelschicht“/„-klas­sen“ auf Seiten der Bewegungs-Linken andererseits

     

  • wechselseitig stabilisieren und den Durchbruch zu einem marxistischen Begriff von „Lohnabhängigen“ (= diejenigen, deren [Über]leben vom Verkauf ihrer Arbeitskraft als Ware abhängt – und zwar unabhängig von konkretem Tätigkeitsinhalt und Ausbildungsni­veau) blockiert. [3]

 

Seibert glaubt, dass der Schlüssel für diese neuen sozialen Bewegungen in der „sozialen Frage“ liege, deren Antworten schon deshalb „links“ seien, weil sie erkennen würden, dass mit der „sozialen Frage“ der „Kapitalismus“ immer schon mitgemeint sei. Wir halten dieses ‚Argument’ für sehr fragwürdig.

Erstens ist gar nicht klar, was genau mit „Kapitalismus“ gemeint ist, wenn von ihm gespro­chen wird. Auch Rechte und FaschistInnen sprechen vom „Kapitalismus“, wenn auch in demagogischer Weise.

Richtig ist aber, dass die soziale Frage nicht auf ökonomische Kämpfe reduziert werden kann, wie das tatsächlich einige „Traditionalisten“ (tendenziell) machen.

 

Wenn Seibert aber schreibt:

 

„Nur eine Minderheit dieser Minderheit aber würde die Lösung der sozialen Fragen heute noch in der Klassenfrage suchen. Nicht, dass der Klassencharakter der beste­henden Verhältnisse verkannt oder übergangen würde – dass wir in Klassenverhältnis­sen leben, ist ja mitgemeint, wenn der Grund aller Krisen im Kapitalismus ausgemacht wird. Würde man aber sagen, dass deren Lösung an der Arbeiter*innenklasse hängt, könnte man kaum auf Zustimmung rechnen. Das bestätigte sich, würde man dem die These unterlegen, dass die Arbeiter*innenklasse ein objektives Interesse an der eige­nen und darin der Emanzipation aller habe, das sich subjektiv-praktisch in der Macht bewähre, alle Räder zum Stillstand zu bringen: fände man überhaupt Zuhörer*innen, schlüge einem bestenfalls milde Ironie entgegen. Im Vorausblick auf einen Plan A darf dieser ‚Abschied vom Proletariat’ (Gorz) nicht mehr als Schwäche, sondern muss als erfahrungsgesättigte Stärke gewertet werden. Sie ist das, was das dissidente Drittel nicht wenigen bekennenden Linken voraus hat.“,

 

dann schüttet er aus unserer Sicht das Kind mit dem Bade aus. Sicher ist die heutige „Ar­beiterklasse“ nicht mehr das, was sie in der Weimarer Republik oder vielleicht sogar noch in den 50er Jahren (trotz „Wirtschaftswunder“) war. Trotzdem beibt der Klassenkampf der „ArbeiterInnenbewegung“ (die sich möglicherweise neu definieren und als Teil multipler ‚Fortschrittstendenzen [neben anderen] sehen muss) aber eine zentrale strategische Ach­se des „Antikapitalismus“. Ohne diese eine zentrale strategische Achse ist aber alles Ge­rede von „Linksverschiebung“ illusionär.

 

Seibert spricht auch ziemlich klar aus, wo er mit seinen Überlegungen hin will:

 

„Strategisch auf den Punkt gebracht, stellte die Vierte Kraft [der politische Block des dissidenten Drittels] damit noch nicht die Macht-, wohl aber die Frage nach einer Re­gierung, die einer Veränderung (nicht nur) der deutschen Verhältnisse wenigstens zu­arbeiten könnte.“

 

Nach all den geschichtlichen Erfahrungen mit „Links-“ und „Volksfront“-Regierungen (und Griechenland ist ja nun wirklich noch taufrisch in Erinnerung) können wir eine solche Aus­sage nur als blauäugig bezeichnen. Am Ende musste sich noch jede dieser Regierungen entscheiden, ob sie

 

  • den Schritt zum Bruch mit dem Bestehenden gehen wollten, worauf sie nicht vorbe­reitet waren, weshalb sie ihn wohlweislich (fast) nie gingen,

     

  • oder ob sie als Agentur zur Stabilisierung des Bestehenden handeln (wollen / müs­sen).

 

Einer „Veränderung (nicht nur) der deutschen Verhältnisse wenigstens zuarbeiten“, aber die Machtfrage hintenan zu stellen – das funktionierte schon früher schlecht [4], und es funk­tioniert unter den heutigen Bedingungen von kapitalistischer Krise und bürgerlicher Klas­senoffensive umso schlechter.

 

Wir würden Thomas Seibert aber insofern zustimmen, dass es keine soziale Gruppe gibt, die sich priviligiert als „revolutionäres Subjekt“ eignet; im übrigen befinden wir uns da in bester Übereinstimmung mit Lenin, auch wenn Seibert den Namen Lenin wahrscheinlich lieber ins Revolutionsmuseum verfrachten würde. Aber gerade in Fragen wie Krieg und Frieden und äusseren und inneren Widersprüchen ist der Kompass der Klassenorientie­rung unverzichtbar („der Hauptfeind steht im eigenen Land“), sonst endet es in letzter In­stanz beim (sozialdemokratischen) pro-Imperialismus, wenn man dem Fundamentalismus (nur) die (vermeintlich klassenlose und/oder klassenübergreifende) „wirkliche Demokratie“ entgegensetzt [5], anstatt die internationale Solidarität und Klassenaktion der „Unterklassen“. Womit sich dann die „Klassenfrage“ als notwendiger Bestandteil transformatorischer Stra­tegien (negativ) bestätigen würde.

 

B) JENSEITS VON MACHWERK UND TRUGBILD

 

Wir lehnen Seiberts Begriff der „wahren Demokratie“ analytisch ab, weil er von dem Zu­sammenhang zwischen der Form der jeweiligen Demokratie und gesellschaftlichen Herr­schaftsverhältnissen und damit von der Machtfrage abstrahiert. [6] Das heisst aber nicht, dass seine Beschreibungen per se keinen Wert hätten. Tatsächlich glauben auch wir, dass sowohl die neoliberale „Ideenlosigkeit“ (Ende der Geschichte) als auch der Fundamentalismus einer „absoluten Ordnung“ falsch sind, da sie das Enwicklungspotential – sowohl gesellschaftlich als auch ‚persönlich-subjektiv’ – blockieren oder doch zumindest schwer behindern. Allerdings bleiben wir mit dem Entwicklungsbegriff (um nicht das häufig missbrauchte Wort „Freiheit“ zu verwenden) nicht bei der (bürgerlichen) Französischen Revolution stehen, sondern möchten sie über das „formal-Politische“ ins „sozial-Ökonomische“ hinüberführen. Diese gesellschaftliche Transformation bedeutet aber nicht die Ausfüllung der Form der „Demokratie“ mit einem neuen „sozialen Inhalt“ (da irrte unseres Erachtens Rosa Luxemburg, auch wenn wir sonst viel von ihr halten), sondern auch die Form der „Demokratie“ muss sich wandeln, wenn sich ihre gesellschaftliche Funktion ändern soll. Das heisst, ein (Halb)Staat aufständischer Rätebewegungen (die aktuell nicht erkennbar sind) ist eine andere Demokratie als eine bürgerlich-repräsentativ-parlamentarische Demokratie, deren Form eben adäquat ist zur kapitalistischen Klassenherrschaft (und auch zum Rassismus und Patriarchat). Wenn diese bürgerlichen (rassistisch-patriarchalen) Verhältnisse überwunden werden sollen, muss auch die Bereitschaft zum „Bruch“ mit eben dieser Form von Demokratie bestehen. Und genau an dieser (Staats)Frage (das wussste Lenin sehr gut) scheidet sich die revolutionäre Linke von der reformistisch-gradualistischen.

 

Unseres Erachtens ist es daher die vorrangige Aufgabe der „Linken“, eine Einigung in we­sentlichen (Programm)Fragen zu erzielen [7], um handlungsfähiger zu werden. Der Bruch mit der bestehenden Form von Demokratie und die Einsicht in die Notwendigkeit (für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen), den bestehenden Staatsapparat nicht fertig zu übernehmen, sondern zerbrechen zu müssen, ist dabei ein Essential, hinter dem nicht zurückgegangen werden kann, wenn es um „revolutionäre Organisierung“ und nicht nur diese oder jene Linderungen im Hier und Jetzt gehen soll. An dieser Frage wird sich die Spreu vom Weizen trennen und auch trennen müssen.

 

Wir jedenfalls würden uns freuen, wenn sich auch Thomas Seibert im Weizentrog einfin­den würde.

 

Zum Weiterlesen:

 

 

[1] Vgl. dazu http://arschhoch.blogsport.de/2012/03/04/wie-aktuell-ist-die-revolution/ und http://arschhoch.blogsport.de/images/5_AntiThesen_FINALTRENN.pdf und demnächst die Abschnitte 1. und 8. des Teils II (Warum ich (auch) keinE FT-CI-TrotzkistIn bin... Zur Kritik des Manifestes der Trotzkistischen Fraktion / Vierte Internationale, der in Deutschland RIO angehört) der Serie zur Trotz­kismus-Kritik von DGS; Teil I erschien in trend 12/2015.

 

 

[3] Vgl. dazu den Abschnitt 7.d) Zum Problem der ökonomischen und politischen Spaltung der Lohnabhän­gigen in diesem Text von DGS: http://www.trend.infopartisan.net/trd0611/t030611.html

 

[4] Zwar ist es durchaus möglich, dass eine sog. fortschrittliche Regierung, ohne die gesellschaftliche Machtfrage zu stellen und ohne sich selbst zum Instrument des Bruchs mit dem bestehenden Staatsapparat zu machen, einzelne (oder auch eine ganze Reihe von) Reformen im Interesse der Ausgebeuteten und Beherrschten durchsetzt, aber dies kann innerhalb der bestehenden Verhältnisse keine umfassende „Reformalternative“ (zur Kritik dieses DKP-Konzeptes von um 1990 siehe: Peter Brendel, Zu schön um wahr zu sein. Zur Einschätzung des DKP-Entwurfs ‚Bundesrepublik Deutschland 2000’, in: Hintergrund. Marxistische Zeitschrift für Gesellschaftstheorie und Politik IV/1988, 46 - 61 [49 ff.]) sein, sondern wird immer wieder bestimmte Grenzen aufweisen und von gegenteiligen Maßnahmen konterkariert werden (s. z.B. die Regierungspolitik der SPD in der Weimarer Zeit [Noske: Einer muss den Bluthund machen! Ich scheue die Verantwortung nicht!] oder die sog. „Berufsverbote“ bereits als Willy Brandt Bundeskanzler war) oder aber an bestehenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen brechen (s. aktuell die SYRIZA-Regierung im Sommer 2015 in Griechenland oder Anfang der 1980er Jahre die PS/KPF-Regierung in Frankreich).

 

[5] Für eine Kritik des Neo-Kautskyianismus in der Demokratie-Frage siehe:

 

[6] Siehe noch einmal die beiden in FN 5 genannten Texte.

 

[7] Vgl. zur „Essential-Methode“, die bedeutet, „dass sich die programmatische Annäherung zunächst auf ei­nige programmatische und strategische Mindeststandards revolutionärer Theorie und Politik [...] konzen­trieren sollte“: https://systemcrash.wordpress.com/2014/03/20/was-bleibt-vom-nao-prozess-als-fliesstext/

 


Quelle: http://kommunisten.de/index.php?option=com_content&view=article&id=6010:...

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"Wir würden Thomas Seibert aber insofern zustimmen, dass es keine soziale Gruppe gibt, die sich priviligiert als „revolutionäres Subjekt“ eignet; im übrigen befinden wir uns da in bester Übereinstimmung mit Lenin, auch wenn Seibert den Namen Lenin wahrscheinlich lieber ins Revolutionsmuseum verfrachten würde."

 

Mich würde ein entsprechender Verweis auf die Aussagen Lenins diesbezüglich interessieren. Wäre super wenn ihr das nachliefern könntet!

Guck dir zum Beispiel mal Lenins Kritik in "Was tun?" an der Arbeitertümelei an:

 

http://kpd-ml.org/doc/lenin/LW05.pdf (insb. ab S. 383)

 

Lenin zeigt dort, dass die Lohnabhängigen keineswegs 'natürlicherweise', "spontan" oder qua Fleischwerdung des Hegelschen Weltgeistes revolutionär sind, sondern dass das spontane Bewusstsein der Lohnabhängigen bestenfalls gewerkschaftlich-reformistisches Bewusstsein ist.

 

 

Dass Leute (unangenehme) Erfahrungen machen (z.B.: Lohnabhängige mit kapitalistischer Ausbeutung), führt allein noch lange nicht dazu, dass sie revolutionäre Konsequenzen daraus ziehen.

 

@ anonym:

 

Der Lektüre-Tip von E-Book-Fan ist nicht schlecht :-) - und im übrigen:

 

Unser Satz, den Du zitierst, bezieht sich ja auf diesen Satz von Thomas Seibert: "Mit den historisch überkommenen Theorien privilegierter 'revolutionärer Subjekte' war zumindest anfangs nichts anderes gemeint: die objektivistische Verdinglichung schlich sich immer erst später ein."

 

Das, was Thomas "objektivistische Verdinglichung" nennt, würde ich meinerseits "essentialistisch" (von lat. essentia = Wesen) oder "metaphysisch" nennen - also die Vorstellungen,

 

  • die Lohnabhängigen sind schon 'das revolutionäre Subjekt', das den Kapitalismus - früher oder später - abschaffen wird;

 

  • die Frauen sind schon 'das revolutionäre Subjekt', das das Patriarchat - früher oder später - stürzen wird;

 

  • die Schwarzen sind schon 'das revolutionäre Subjekt', das den Rassismus - früher oder später - überwinden wird

 

  • oder auch: die Lohnabhängigen sind schon 'das revolutionäre Subjekt', das nicht nur den Kapitalismus überwinden, sondern auch den Frauen und Schwarzen die Befreiung 'schenken' wird.

 

Dieser - wie ich sagen würde - essentialistische oder metaphysische Diskurs verwandelt irdische Möglichkeiten (das eventuelle revolutionär Werden von - mehr oder weniger vielen - Individuen mit bestimmter sozialer Lage) in außer-irdische metaphysische Gewißheiten (über das künftige Handeln von gesellschaftlichen Gruppen). Das "Sein" im metaphysischen Sinne bezeichnet das angeblich "unveränderliche, zeitlose, umfassende Wesen (griechisch ousia, lateinisch essentia) sowohl einzelner Gegenstände als auch der Welt als Ganzes." Demgegenüber werden "die einzelne Gegenstände oder Tatsachen" und auch "die Gesamtheit des Existierenden, also 'die ganze Welt', [...] solange dies räumlich und zeitlich bestimmbar ist" von der Metaphysik zum bloß "Seienden" abgewertet (https://de.wikipedia.org/wiki/Sein).

 

Der Leninismus ist aber keine Revolutionsmetaphysik - sondern ein Plädoyer für die „konkrete Analyse ganz bestimmter historischer Situationen“ (LW 31, 153).

 

Revoluionäres Bewußtsein war für Lenin nichts, das bestimmte gesellschaftliche Gruppen ihrem "Wesen" nach haben (es ist nicht ihr metaphysisches Wesen oder Sein), sondern etwas das "aktiv in Angriff [zu] nehmen" ist (LW 5, 413).

Ausführlicher und mit zahlreichen Quellenangaben ist Lenins Kritik am "amtlichen Optimismus" (LW 39, 5) in dem Text der SIB von 2012:

 

  • Mit Lenin Ums Ganze kämpfen!

http://www.nao-prozess.de/blog/sib-antwortet-basisgruppe-antifa-mit-leni...

 

mit dem die SIB (als sie noch existierte, und ich nun eines ihrer Mitglieder war ) auf den Text der Bremer UG-Gruppe Basisgruppe Antifa:

 

  • Der Klassenkampf und die Kommunist*innen. Ein Strategievorschlag.

http://basisgruppe-antifa.org/wp/der-klassenkampf-und-die-kommunistinnen...

 

antwortete, dargestellt. - Zumindest das - berechtigte - Bedürfnis nach Quellen dürfte nach Lektüre der beiden Texte gestillt sein... ;-)

Seit Qunatenzustände wie 01+10 bekannt sind halte ich diese 0/1-Logik f. Gefährlich deine Kernaussagen implizieren nähmlich:

 

...die Lohnabhängigen sind schon 'das revolutionäre Subjekt', das den Kapitalismus - früher oder später - abschaffen wird...

Lohnabhängige als Gruppe auch bei  guten Gehältern leiden würden und Sehnsucht nach Veränderung haben...

 

...die Frauen sind schon 'das revolutionäre Subjekt', das das Patriarchat - früher oder später - stürzen wird...

dass Männer nicht vom "Patriarchat" benachteiligt werden und Frauen nur Benachteiligte darstellen bei steigenden Zahlen weiblicher superreicher Mitbürger...

 

...die Schwarzen sind schon 'das revolutionäre Subjekt', das den Rassismus - früher oder später - überwinden wird...

...alle Weißen rassistisch wären und dunkelhäutige nicht oder Rassismus nur als Fokus auf Hautfarben exsistiert...

   (in manchen Afrikanischen Staaten werden Albinos gejagt)...

 

oder auch: die Lohnabhängigen sind schon 'das revolutionäre Subjekt', das nicht nur den Kapitalismus überwinden, sondern auch den Frauen und Schwarzen die Befreiung 'schenken' wird... dabei wird doch die/der Revolution/sozialer Fortschritt oft von eher hellhäutigen Männern aus der Unterschicht in Europa gefördert und erkämpft. Während die sozialen Fortschritte in z.b. der sogenannten dritten Welt eher von dunkelhäutigen Männer gefördert und erkämpft werden. Dabei möchte ich keinesfalls das Engagement unzähliger weiblicher Revolutionär*Innen klein reden.

Den letzten Punkt mit der zunehmenden Instabilität sehen wir kritisch, da er uns zu sehr nach einer latenten Zusammenbruchstheorie aussieht.

Eine scheinbar unpolitische Anmerkung: Ich arbeite im Mittelbau zur Paläoklimatologie. Was meine Chefs im schmierigen Geschäft der Politikberatung nicht laut aussprechen ist ansonsten weitgehend in der Forschung anerkannt: Es wird keine 2 Grad Begrenzung geben und damit besteht bereits in den nächsten 20 Jahren sehr wohl eine hohe Wahrscheinlichkeit  für ein Zusammenbruchsszenario. Was daraus folgen kann ist eine andere Frage und ob der Kapitalismus in autoritärer Variante dann eine Art Notstandsregiment übernimmt ist -genauso wie ein Neo-Faschismus- durchaus denkbar.

Diese Erkenntnis, also auch die Tatsache , dass der Klimawandel Krisenmultiplikator ist, sollte bereits in Plan A bedacht werden.

Karl Marx wusste, dass der Kapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen wird. Den Klassenantagonismus hat er als solchen gedeutet.

Der Klimawandel dagegen ist ein kapitaler Widerspruch innerhalb der Produktionssphäre. Da der der Wandel schon zu weit fortgeschritten ist, wird es auch nicht reichen, diesem Widerspruch durch eine abermalige Transformation des kapitalistischen Regimes hin zu EEs und angeblicher Nachhaltigkeit zu begegnen.

 

Noch Mal:Wir sollte die Folgen des Klimawandels auf gesellschaftspolitische Prozesse stärker bedenken. Ohne ihn als Akteur personalisieren zu wollen, wird der Klimawandel die Verhältnisse zum Tanzen bringen, bzw. das tut er bereits.

...ist doch der, dass ihr jeder Begriff von Klasse vollkommen verloren gegangen ist. Ist ja auch kein Wunder: seit '68ff. sind nicht mehr Arbeiter*innen die soziale Basis der Linken, sondern das (junge) Bürgertum. Das latente Unbehagen, das das studierende Bürgersöhnchen verspürt, weil er ganz begeistert im Marx-Lesekreis sitzt und dadurch natürlich weiß, dass es Papis Mercedes und Mamas Zweitwagen eigentlich an den Kragen gehen müsste, sucht sich dann einen Ausweg in immer abstruseren und verkopfteren Theoriegebäuden, die den Post-Fordismus erklären sollen. All diesen Theorien gemein ist der bemerkenswerte Umstand, dass sie sich wie scheue Rehe um die Erkenntnis herummogeln, dass der globale Kapitalismus seit Ende der Systemkonkurrenz in finsterste Manchester-Zeiten zurückkehrt. Und so wird die Linke, zumal in Deutschland, schon längst nicht mehr mit dem Kampf gegen Ausbeutung, Lohndrückerei und Elend verknüpft (1), sondern mit - für die tagtägliche Lebensrelevanz arbeitender Menschen doch eher abwegigen - Themen wie Transgender-Toiletten oder Debatten über Critical Whiteness (2). Wer aus der Tatsache, dass in den bürgerlich-akademischen Innenstädten die Menschen schön "angelinkst" sind, während in den Sozialsiedlungen AfD, FPÖ & Co. ihre Erfolge einfahren, jahrelang keine anderen Schlüsse als "Proleten"-Verachtung zieht, der ist offenbar weder fähig noch willens, das eigene politische Programm darauf abzuklopfen, ob es überhaupt für Nicht-Bürgerliche noch was zu bieten hat. Jenseits abstrakter (und unsinniger, aber das würde zu weit führen) "Luxus für Alle"-Versprechen.

 

(1) Was nicht heißt, dass es nicht - zum Glück - zahlreiche Genoss*innen gibt, die genau das tun.

(2) Ohne hier eine Haupt-/Nebenwiderspruchsdiskussion aufmachen zu wollen - will man Menschen "abholen", sind beide genannten Beispiele denkbar schlechte Ansätze.

Klasse an und für sich...

Der Klassenbegriff ist überhaupt nicht verloren gegangen aber die konkrete Klasse. Multitude, prekär Arbeitende, Migrantinnen alles Menschen am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie. Eine Klasse für sich und damit ein Bewusstsein über die eigene soziale Zugehörigkeit existiert nicht. Das Problem kannte schon Lenin. Nicht nur Kleinbürger auch Arbeiter tendieren in der Krise nach rechts.

Der Kapitalismus ist natürlich die Krise, hier ergibt sich der Zusammenhang zum Rechtsruck. Es ist kein Manchester-Kapitalismus, sondern die neoliberale Schule der Chigago Boys um Friedman, die sich seit den 80igern als Heilslehre etablieren konnte und in der modernisierten Variante sämtliche Lebensrisiken privatisierte, auf das wir alle unser eigener Manager geworden sind. Dies führte zu einer Atomisierung gesellschaftlicher Zusammenhänge, die an das Marxsche Diktum vom Verdampfen alles Stehenden und Ständischen erinnert.

Preisfrage: Wer ist denn jetzt das revolutionäre Subjekt?

Meine Antwort zu Weihnachten: Maria hat die zweite unbefleckte Empfängnis noch nicht gehabt. Das kratzt natürlich am Histomat. Die revolutionäre Parole lautet daher Tee trinken und abwarten.

speziell das hier

"Und so wird die Linke, zumal in Deutschland, schon längst nicht mehr mit dem Kampf gegen Ausbeutung, Lohndrückerei und Elend verknüpft (1), sondern mit - für die tagtägliche Lebensrelevanz arbeitender Menschen doch eher abwegigen - Themen wie Transgender-Toiletten oder Debatten über Critical Whiteness "

Das sind in der Bevölkerung nicht nur absolute Null- sondern regelrecht Hassthemen und treibt sogar diejenigen fort, die ansatzweise eher links/fortschrittlich denken. Wer glaubt, dass man damit mehr als 2 Prozent der Menschen erreicht, lebt auf dem Mond. Der hat jeden Gestaltungsanspruch aufgegeben und viel schlimmer, will es auch nicht anders.

... wunderst du dich, dass Queers, Schwarze und Menschen mit Behinderung lieber an der liberalen Demokratie festhalten, als deine durchtheoretisierten Klassenkämpfe zu führen? Außerdem sind die benannten Gruppen eben auch arbeitende Menschen und nur, weil du sie in eine Minderheitsposition redest, sind sie noch lange keine Minderheit, gerade auch in Deutschland.

queers, schwarze und menschen mit behinderungen sind in deutschland minderheiten.

nur weil dir das nicht gefällt, heißt das nicht dass es nicht stimmt. ist doch erstmal nichts schlimmes dabei teil einer minderheit zu sein. schlimm ists wenn eine minderheit unterdrückt wird.

ich möchte mich, auch im namen von TaP, für die kommentare bedanken. wir beide werden im Januar in einem eigenen taxt auf die kommentare eingehen und obendrein den Klassenbegriff schwerpunktmässig (im zusammenhang mit fragen politischer organisierung) diskutieren. 

zusätzlich möchte ich darauf hinweisen, dass bei EmaLi als auch bei scharf links obiger text in einer um eine fussnote ergänzten fassung erschienen ist. 

 

so bleibt mir noch übrig, uns allen ein gutes (und kämpferisches) neues Jahr 2016 zu wünschen. 

 

guten rutsch ! 

 

https://emanzipatorischelinke.files.wordpress.com/2015/12/seibert_antwor...

 

http://www.scharf-links.de/48.0.html?&tx_ttnews[tt_news]=54343&tx_ttnews[backPid]=48&cHash=e66336692e

Unser Antwort auf einige der Kommentare ist jetzt online:

https://linksunten.indymedia.org/de/node/163936

 

(vllt. gibt es demnächst auch noch einen Nachschlag zu Krise, Zusammenbruch, Widersprüche, Flexibität, ... usw.)