"Die große Mehrheit der Sachsen ist immun gegen Rechtsextremismus"

Erstveröffentlicht: 
21.09.2015

Kurt Biedenkopf über Asyl-Proteste, Flüchtlings-Soli und die Anfänge des Freistaates

 

Dresden. Kurt Biedenkopf gilt unangefochten als Gründungsvater des Freistaates Sachsen. Heute stellt der 85-jährige CDU-Politiker, der zwischen 1990 und 2002 Ministerpräsident war, seine Tagebuch-Aufzeichnungen über die ersten Jahre im neuen Sachsen vor. Im Vorab-Interview mit der LVZ zollt Biedenkopf den Ostdeutschen seine Hochachtung - und provoziert unter anderem mit der Aussage, dass Ostdeutsche gegen Rechtsextremismus immun seien.

 

1990 haben Sie in Ihrer ersten Neujahrsansprache als Ministerpräsident von Sachsen festgestellt, "alles bricht schneller zusammen, als Neues entsteht". Kann ein "Wir schaffen das" ein politisches Wunder bewirken?

 
Ein politisches Wunder nicht, aber es kann eine Ermutigung sein.


Es ist viel vom "Glücksfall" der Wiedervereinigung die Rede. Hatten Sie das Gefühl, dass aus Ihnen ein echter Ost-Glückspilz werden könnte?

 
Nein. Dazu war ich erstens viel zu sehr mit der Realität verbunden, und zweitens wäre das eine ausgesprochene Überschätzung gewesen. Ich habe zwölf Jahre eine schöne, eine sehr schwierige, aber in den Ergebnissen auch eine sehr befriedigende Tätigkeit ausgeübt. Die Menschen haben meine Frau und mich freundlich empfangen. Sie boten uns die Chance, ihr Vertrauen zu gewinnen.


Litten Sie, angesichts der großen Erwartungen, damals unter Versagensängsten?

 
Nein. Versagensängste hatte ich bisher allenfalls bei einem schwierigen Examen. Man ahnt, was kommen könnte, und hat Angst davor. Als Ministerpräsident war ich eher ungeduldig mit dem Westen. Man brauchte dort zwei, drei Jahre, um zu begreifen, dass die Wiedervereinigung eine gesamtdeutsche Aufgabe war. Die ersten zehn Jahre waren zudem so spannend, kreativ und fordernd, da blieb keine Zeit für Versagensängste.


Für manche war vor 25 Jahren Schluss mit der Karriere. Bei Ihnen ging es noch mal so richtig los. Wären die Ossis ohne manche Wessis nach 1990 glücklicher geworden?

 
Wir haben das in Sachsen gemeinsam erlebt. Das war das Schöne. Die Bevölkerung wusste, dass sie die Probleme lösen musste, und ich wurde gewählt, um ihnen mit meinem Wissen und meinen Führungsfähigkeiten dabei zu helfen. Ich war immer darum bemüht, nichts Unrealistisches zu versprechen.


Was ist Ihnen als Ministerpräsident besonders gut gelungen?

 
Ich habe mit meinem Kabinett gut gearbeitet. Wir hatten nur zwei westdeutsche Minister. Alle anderen kamen aus Ostdeutschland. Sie haben akzeptiert, dass ihre Staatssekretäre aus dem Westen kamen. Die hatten den Auftrag, ihre Chefs mit ihrem Wissen zu unterstützen, ihnen das neue Recht zu erklären und die Gesetzmäßigkeiten der westdeutschen Verwaltung nahe zu bringen.


Wieso machen heute nur noch so wenige mit, wenn es politisch wird?

 
Wenn Sie Parteien meinen, gibt es dafür eine ganze Menge Gründe. Die beiden großen Parteien haben sich immer mehr angenähert. In Berlin haben beide zusammen eine verfassungsändernde Mehrheit. Sie fühlen sich dabei offenkundig ziemlich wohl. Wer Mitglied werden will, fragt sich doch, was die beiden Parteien unterscheidet. Dampft man sie auf das ein, was konkret und zukunftsorientiert ist, und verschwinden damit die Allgemeinplätze und Worthülsen, dann bleibt in der Regel nicht viel Kreatives und Neues übrig. Von den kommenden Bedrohungen durch Flüchtlinge aus Afrika und dem Mittleren Osten war vor wenigen Jahren noch keine Rede, obwohl sie bereits absehbar waren. Schon vor 30 Jahren habe ich dafür geworben, dass Europa das Mittelmeer als ein europäisches Meer begreift und sich um die Menschen in Afrika und im Mittleren Osten kümmert. Das fanden die Verantwortlichen zwar interessant, aber umworben haben sie einen Diktator wie Gaddafi in Libyen, weil der Europa die Flüchtlinge vom Hals hielt. Die heutigen Flüchtlingsströme sind auch die Folge unseres Versagens und unserer Missachtung ihrer Schicksale. Heute wissen die Afrikaner über Handy und Internet, wie schön das Leben nördlich der Alpen ist. Dass es dort sauberes Wasser und grüne Wälder gibt. Dort wollen sie hin und Krieg und Zerstörung entkommen.


Wieso haben Sie sich mit Ihrer Aussage so getäuscht, dass die Sachsen immun gegen den Rechtsextremismus seien.


Wieso habe ich mich getäuscht? Die große Mehrheit ist immun und bleibt es - wie in Westdeutschland, wo der Rechtsextremismus in Gestalt der Republikaner in Baden-Württemberg seinen Anfang nahm. Überwiegend sind es zudem Westdeutsche, die ihn nach Osten bringen. Dort, wo es ihnen gelingt, erzeugen sie zwar eine Protesthaltung, aber keine strategische Kraft. Dass der Protest im Osten intensiver ist, hat vor allem zwei Gründe. Erstens: Die Menschen haben keine Erfahrung mit Flüchtlingen aus anderen Kulturkreisen. Zweitens: Sie haben in den letzten 25 Jahren eine Umwälzung ihrer gesamten Lebensverhältnisse verkraften müssen. Angesichts der Flüchtlingsströme fürchten sie um den Bestand des gerade Erreichten.


Jetzt steht Stanislaw Tillich in Heidenau fassungslos vor dem radikalisierten Mob und sagt: "Das ist nicht unser Sachsen."


Da hat er auch Recht. Ein nicht unwesentlicher Teil der Leute, die für die Übergriffe in Heidenau verantwortlich waren, waren keine Sachsen. Sie kamen aus Westdeutschland. Keine gesamtdeutsche Integration, wie wir sie uns wünschen!


Bei Ihrem ersten Wahlkampf erklang das Lied: "Hier kommt Kurt!" Das vermittelte Ihre Botschaft, lasst den Biedenkopf mal die Politik machen, das wird schon.


Es ist schön, wenn die Leute sich freuen, so ein Lied zu spielen. Aber es war nie meine Botschaft. Die lautet: Der Vater Staat ist kein Vater. Sonst wärt ihr ja seine Kinder. Ihr seid aber freie und für uns verantwortliche Staatsbürger. Deshalb erwarte ich von Euch, dass ihr Verantwortung übernehmt, so weit ihr dazu in der Lage seid. Das ist meine Überzeugung seit 60 Jahren.


War denn der Soli für den Aufbau Ost eine ehrliche Maßnahme der Politik und wäre es nicht heute auch ein Soli für die Flüchtlinge?


Ich hätte nichts gegen einen Soli für Flüchtlinge - als Ergänzung eines breiten bürgerschaftlichen Engagements, nicht als Ersatz. Wenn man von Europa als einer Gemeinschaft redet, dann von einer Gemeinschaft, die die verdammte Pflicht und Schuldigkeit hat, auch Verantwortung zu übernehmen für das, was außerhalb unserer Grenzen passiert. Ein introvertiertes, vor allem mit sich selbst beschäftigtes Europa, bietet unseren Enkeln keine Zukunft. Sie wird auch nicht von Parlamenten gestaltet, deren Mitglieder ihren Lebenszweck darin sehen, unser Leben immer umfassender zu regeln und darüber die Fähigkeit ver­lieren, sich mit langfristigen Ver­änderungen zu beschäftigen, wie mit den Ursachen und Folgen der neuen Völkerwanderung in Gestalt der Flüchtlingsbewegungen.


Privat geht es für Sie vom Chiemsee zurück nach Dresden, zur Familie in die neue und alte Heimat. Möchten Sie gern ins alte Wasserwerk Saloppe einziehen?


Darüber haben wir lange nachgedacht; wohl eher nicht. Meine Frau und ich haben in Dresden Wurzeln geschlagen. Aber mein Aktionsradius ist Deutschland und Europa und darüber hinaus. In meinem Mittelpunkt steht die Sorge, ob die Prozesse, die wir in den letzten 50, 60 Jahren in Gang gesetzt haben, wirklich beherrschbar sind. Dazu gehören vor allen Dingen die Wachstumsideologie und die Hybris der technischen und neuen IT Mächte.


Interview: Dieter Wonka