Days of Hope: Marsch der syrischen Revolution nach Europa

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Mit einem Marsch vom Bahnhof Budapest Keleti in Richtung österreichischer Grenze haben Flüchtlinge die europäische Migrationspolitik über den Haufen geworfen. Tausende, die Mehrheit von ihnen SyrerInnen, sind auf dem Weg über Griechenland, den Balkan, Ungarn und Österreich nach Deutschland. Wir waren in den letzten Tagen zwischen Budapest und Wien unterwegs, um die Flüchtlinge auf ihrem Marsch zu unterstützen. Unsere Gefühle schwankten zwischen blankem Entsetzen und überstömender Freude. Lesen Sie unsere Eindrücke!

 

Die ersten Ersuche um Hilfe erreichen uns schon vor der Abfahrt: Unser syrischer Kollege hatte auf Facebook geschrieben, dass wir nach Budapest aufbrechen – Minuten später bitten die ersten Flüchtlinge um Hilfe. Wir wissen, dass die Lage für die Betroffenen dramatisch ist, wie dramatisch, erkennen wir erst in Bicske. An diesem Bahnhof, 30 Kilometer westlich von Budapest, steht seit eineinhalb Tagen ein Zug mit Flüchtlingen. Die ungarische Regierung hatte zugesagt, er würde nach Österreich fahren, stattdessen sollten die Passagiere in ein Flüchtlingslager gebracht werden. Auf dem Bahnsteig stehen 40 Fernsehkameras auf den Zug gerichtet, hinter einem rostigen Drahtzaun stehen Flüchtlinge und fordern verzweifelt die Weiterreise. Verzweifelt sind auch die wartenden JournalistInnen: Über ihren Laptop gebeugt bricht eine Reporterin in Tränen aus.

 

Noch bedrückender ist die Lage am Bahnhof Budapest Keleti, den wir am gleichen Nachmittag erreichen. Hier gibt es Menschen, die versuchen zumindest das Notwendigste zu organisieren. Wir werden John vorgestellt, dem Koordinator der Initiative ‚Migration Aid‘. In der Unterführung zum Bahnhof mussten wir uns auf schmalen Gängen zwischen hunderten Menschen durchschlängeln, die sich auf Isomatten und Kartons provisorische Schlafstätten errichtet haben. Seit die Polizei sie daran hindert, in den Bahnhof zu gelangen, campieren tausende Menschen in den Unterführungen. Auch am Nachmittag liegen sie erschöpft auf dem Boden, an den Wänden steht mit Kreide die Hauptforderung der rund 3.500 Menschen, die hier ausharren: „Freiheit“ auf Arabisch, Englisch, Kurdisch.

 

Vom ungarischen Staat gibt es keinerlei Unterstützung, selbst für den Wasseranschluss musste ‚Migration Aid‘ drei Tage mit der Stadtverwaltung streiten. Krankenversorgung gibt es natürlich auch keine, weshalb die Freiwilligen mit syrischen Ärzten kooperieren, die selbst geflohen sind. Zu Beginn der Revolution haben Ärzte in Syrien für verletzte DemonstrantInnen Untergrundkliniken eingerichtet. Genauso wirkt die provisorische Hilfsstelle im Zwielicht einer Unterführung.

 

Syrische Flüchtlinge: Einig in Europa trotz Bürgerkrieg in Syrien


Die breite Mehrheit der Flüchtlinge stammt aus Syrien. Während sich der Konflikt dort entlang konfessioneller und ethnischer Grenzen zuspitzt, erleben wir in Ungarn geanu das Gegenteil: Die Flüchtlinge halten zusammen, als Hooligans passieren, skandieren sie „Syria, Syria!“. Das erinnert an einen fast vergessen geglaubten Slogan der ersten Demonstrationen in Syrien: „Eins, eins, eins, das syrische Volk ist eins!“

 

Beeindruckend sichtbar wird die Einigkeit für uns wieder kurz später auf der Autobahn: Weil die Züge in Richtung Österreich ausgesetzt sind, weil Busse sie nicht mitnehmen, beschließt eine Gruppe von FlüchtlingsaktivistInnen, einfach in Richtung Wien loszulaufen. Viele schließen sich diesem „March of Hope“ an, dem „Marsch der Hoffnung“ wie er in den sozialen Medien genannt wird.

 

Mehr als 2.000 Menschen laufen auf dem Standstreifen entlang als es dunkel wird. Aus dem Auto heraus reichen wir Wasserflaschen und Müsliriegel an die völlig erschöpften Menschen. Dankbar nehmen sie die Unterstützung entgegen und feuern sich gegenseitig immer wieder an: „Geht weiter, wir rasten alle gemeinsam!“, „Wir schaffen das, wir sind so weit gekommen!“, „Yallah, Hurrieh! – Auf in die Freiheit!“. Junge Männer tragen schlafende Kinder fremder Familien im Arm, wer fit ist, stützt Humpelnde. Vorneweg läuft ein junger Mann mit einer EU-Fahne, neben ihm sitzt ein Einbeiniger im Rollstuhl und hat sich ein Bild von Angela Merkel umgehängt. Deutschland, das ist die Hoffnung aller.

 

FlüchtlingsaktivistInnen schreiben Geschichte: Die europäische Migrationspolitik fällt


An einer Ausfahrt knapp 30 Kilometer außerhalb der Stadt setzen sich die Menschen zur Rast. Ein Aktivist fährt mit einem Motorroller hin und her und gibt über Megaphon durch, wo gute Plätze zum Übernachten sind. Einige gehen hinter die Leitplanke, andere legen sich direkt auf den Standstreifen. Freiwillige Helfer aus den umliegenden Orten bringen Wasser und Lebensmittel, der Fahrer eines LKW mit türkischem Kennzeichen wirft im Vorbeifahren seine Jacke aus dem Fenster. Die Solidarität ist hier greifbar.

 

Was die erschöpften Menschen in diesem Moment nicht wissen: Mit ihrem Marsch der Hoffnung schreiben sie Geschichte. Denn in diesen Minuten geben die deutsche und österreichische Regierung bekannt, dass sie die Paradigmen der europäischen Migrationspolitik aussetzen und bereit sind, die Flüchtlinge aufzunehmen.

 

Erst spät in der Nacht von Freitag auf Samstag erreichen die ersten Busse die Vertriebenen, um sie zur Grenze zu bringen. Doch die bleiben skeptisch. Nach dem Trick mit dem Zug, der ins Lager fahren sollte, ist das Vertrauen in die ungarische Regierung gleich null. Während die Polizei möglichst schnell die Autobahn räumen möchte, stellen die SyrerInnen die Bedingung, dass ein erster Bus die Grenze passieren müsse, bevor die Leute in die anderen einsteigen. Weil sonst die Autobahn nie frei würde, gibt die Polizei nach – nachdem ein erster Bus in Österreich ankommt, ist kein Halten mehr: Alle wollen mitfahren.

 

Es entsteht ein Konvoi aus 120 Bussen, der sich in Richtung Grenze bewegt – ein wahrer Mauerfall. Im Regen strömen gehen tausende Menschen zu Fuß über die Grenze, als es gerade anfängt zu dämmern. Wieder ist es zwischen Ungarn und Österreich, wo eine Grenze fällt – der Vergleich mit 1989 liegt in der Luft.

 

Den Tag über gönnen wir uns etwas Schlaf. Als wir am Abend zur Grenze zurückkehren, hat sich das Bild kaum verändert. Noch immer strömen hunderte Flüchtlinge über die Grenze und warten im Freien darauf, mit Bussen weiter nach Wien gebracht zu werden. Mittlerweile kommen die Flüchtlinge mit dem Zug an und müssen die letzten sieben Kilometer zum Übergang zu Fuß zurücklegen.

 

Syrische AktivistInnen bringen ihre Revolution nach Europa


Am Bahnhof in Hegyeshalom sind es wieder die jungen syrischen AktivistInnen zwischen 20 und 30 Jahren, die für eine Gruppen von 300 Flüchtlingen den Fußmarsch organisieren. Während die Polizei hektisch wirkt, ordnen die AktivistInnen die Gruppe, achten darauf, dass niemand zurück bleibt und gehen dann kollektiv und geordnet über die Grenze. Sie kommen aus Midan in Damaskus, erklärt uns ein Aktivist. In dem Stadteil gab es 2011 und 2012 die größten Proteste der syrischen Hauptstadt.

 

Natürlich wollen sie zurück nach Syrien, berichtet der Aktivist weiter, wie es alle getan haben, mit denen wir in diesen Tagen gesprochen haben. Doch sie sagen auch, dass es für sie zwischen der Gewalt des Assad-Regimes und dem Terror des so genannten „Islamischen Staats“ keine Zukunft geben kann.

 

Über Budapest hinaus denken: Fluchtursachen beenden


So groß unsere Freude über die Grenzöffnung ist: Spätestens jetzt wird uns klar, dass sich Flüchtlingspolitik nicht auf die Verteilung von Vertriebenen in Europa reduziert werden kann. Die europäische Politik muss endlich damit beginnen, auch die Ursachen der Vertreibung zu beenden. Für Syrien bedeutet das, insbesondere den weiteren Abwurf von Fassbomben durch die Assad-Armee zu unterbinden und die humanitäre Versorgung der Gebiete in Nordsyrien sicher zu stellen, indem die Grenze zur Türkei für Hilfsgüter geöffnet wird.

 

Für uns bedeuten die Erlebnisse natürlich, dass wir umso mehr diejenigen unterstützen müssen, die noch nicht geflohen sind und stattdessen versuchen, sich weiterhin in Syrien eine Zukunft aufzubauen. Zudem wollen wir hierzulande daran arbeiten, die geflohenen AktivistInnen zu vernetzen. Denn was die historischen Ereignisse der letzten Tage gezeigt haben: Dort wo sich Menschen selbst organisieren, können sie etwas verändern!