PKK: (K)eine Erfolgsgeschichte

Erstveröffentlicht: 
24.08.2015

Trotz - oder gerade wegen - des gescheiterten Friedensprozesses bleibt die kurdische Guerilla Hoffnungsträgerin für Millionen Menschen in der Region

 

An der PKK scheiden sich die Geister. Für die einen gilt sie als Verbrecherorganisation, der Verstrickung in Drogenhandel nachgesagt wird, auch wenn dem Verfassungsschutz nach dem Bericht 2011 dazu keine Erkenntnisse vorliegen. Die PKK gilt als kriminelle Vereinigung, die sowohl auf der Terrorliste der USA und der EU geführt wird, und in der BRD verboten ist. Im Verfassungsschutzbericht 2014 heißt es:

 

"Die PKK ist nach wie vor die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland. Sie ist in der Lage, Personen weit über den engen Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Ihre Kaderstrukturen ermöglichen zudem eine zügige Umsetzung neuer strategischer und taktischer Vorgaben, auch hin zu einer möglichen Neubelebung militanter Aktionsformen. Wenngleich in Europa weiterhin friedliche Veranstaltungen im Vordergrund stehen, bleibt die Gewalt eine Option der PKK-Ideologie. Dies wird nicht zuletzt durch die Guerilla-Rekrutierungen deutlich."

 

Für die anderen sind es die Heldinnen und Helden von Sindschar, auf deren Konto die Rettung der von der IS-Terrormiliz bedrohten yesidischen Bevölkerung im Nordirak geht. Gemeinsam mit dem syrischen Ableger PYG/PYJ. Sie gilt zig-Millionen Menschen auf der Welt als die legitime Vertretung aller Kurdinnen und Kurden - unter Führung des Vorsitzenden Abdullah Öcalan. Selbst Kurdinnen und Kurden, die z.B. dem Führerkult um Öcalan nichts abgewinnen können, solidarisieren sich mit dem Freiheitskampf. Je grausamer die türkische Armee gegen die kurdische Guerilla vorgeht, und je härter die Repressionen auch gegen Vertreterinnen und Vertreter ziviler kurdischer oder ihnen nahe stehender Organisationen wird, desto mehr zumeist junge Menschen sind bereit, "in die Berge zu gehen", sprich, sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen.

 

Erdoğans Rachefeldzug

 

Schätzungen zufolge gibt es weltweit etwa 40 Millionen Kurdinnen und Kurden. Die Region, die historisch als Siedlungsgebiet der Kurden betrachtet wird, dort, wo Euphrat und Tigris entspringen, wurde 1923 mit dem "Vertrag von Lausanne" in vier Teile aufgeteilt, die man willkürlich der Türkei, dem Irak, dem Iran und Syrien zusprach. Das größte Areal wurde an die Türkei angegliedert und macht ca. 25% des gesamten türkischen Staatsgebiets aus.

1984 begann die PKK bewaffneten Widerstand. Der türkische Staat reagierte darauf mit militärischen Vergeltungsschlägen und versucht seit mehr als 30 Jahren, die Kurden unter Kontrolle zu bekommen. In diesem Krieg sind mittlerweile zehntausende Menschen ums Leben gekommen, Hunderttausende wurden vertrieben und tausende kurdische Dörfer zerstört.

Als der im Juni 2015 abgewählte Recep Tayyip Erdoğan am 12. März 2003 das Amt des Ministerpräsidenten der Republik Türkei übernahm, versprach er u.a. die Lösung des Kurdistan-Konflikts. Tatsächlich gab es schon bald einige Lockerungen, etwa was das Verbot der kurdischen Sprache betraf, aber nichts, was eine grundlegende Lösung hätte sein können. Vor drei Jahren sah es dann so aus, als ob die langjährigen Bemühungen der PKK tatsächlich gefruchtet hätten und ein Friedensprozess in Gang gebracht werden könnte. Die Lage in den kurdischen Gebieten stabilisierte sich und eine Zivilgesellschaft konnte zumindest ansatzweise aufgebaut werden.

Auf seine Abwahl, bzw. den Wahlerfolg des linken Wahlbündnisses HDP (Demokratische Volkspartei) im Frühsommer 2015 reagierte Erdoğan, indem er den Krieg in Kurdistan erneut vom Zaun brach. Binnen weniger Tage bombte er die Region zurück in die 1990er Jahre, wo Krieg und Repression in Kurdistan ihren Höhepunkt erreichten (Türkei: Friedensprozess beendet/1.html). Derzeit weitet die türkische Regierung die Kämpfe auch auf Gebiete aus, die 30 Jahre lang davor verschont wurden, während die PKK Kontrolle über verschiedene Orte im türkischen Teil Kurdistans übernimmt und die Selbstverwaltung ausruft. 11 Orte und ein Bezirk waren oder sind Autonomiegebiete. Darunter auch Lice, wo 1978 die PKK gegründet wurde.

Als Forderungen werden u.a. die Rückkehr der türkischen Regierung an den Verhandlungstisch sowie die Freilassung der politischen Gefangenen genannt. 6.000 PKK-Gefangene sind in den Hungerstreik getreten, mit der Forderung den auf Imrali verhafteten Öcalan umgehend freizulassen. Allein in den Wochen nach dem Anschlag von Suruc am 20. Juli 2015 wurden mehr als 1.500 linke oder kurdische Aktive oder MandatsträgerInnen verhaftet (Schlag gegen die linke Opposition in der Türkei.

Die Angriffe der PKK führen scheinbar unweigerlich zu militärischen Vergeltungsschlägen der türkischen Armee. Internationalen Beobachtern zufolge, die sich vor Ort aufhalten, wurden am vergangenen Mittwoch in den kurdischen Gebieten mehr als 100 so genannte Sicherheitsgebiete eingerichtet, in denen Militärrecht gilt und die zivilen Gesetze außer Kraft gesetzt wurden. Kriegsrecht in diesem Ausmaß gab es noch nie.

Überlandbusse und Bahnen verkehren nicht mehr, oder zumindest stark eingeschränkt, die Einheimischen können ihre Felder nicht mehr bestellen und haben Angst, ihr Vieh auf die Weiden zu führen. Nach Anbruch der Dunkelheit mutieren die Orte zu Geisterstädten, weil sich niemand mehr auf die Straße traut, denn, so werden die Einheimischen in verschiedenen Medien übereinstimmend zitiert, Militär und Polizei schießen auf alles, was sich bewegt.

Die Grausamkeit, mit der seitens der Armee vorgegangen wird, erinnert stark an die frühen 1990er Jahre. In Varto, in der Provinz Muş, wurde eine junge Guerilla-Kämpferin gefangen genommen, vergewaltigt, ermordet und nackt auf die Straße geworfen. Ihre Peiniger posierten neben der Leiche und ließen sich fotografieren.

Selahattin Demirtaş, einer der beiden Vorsitzenden der Parlamentsfraktion der HDP, sowie Politiker im In- und Ausland rufen beide Seiten auf, unverzüglich die Kampfhandlungen zu beenden und den Friedensprozess fortzuführen.

 

Die Sonne Kurdistans

 

Am 27. November 1978 wurde die PKK (Partîya Karkerén Kurdîstan/Arbeiterpartei Kurdistans) in einem Dorf in der Provinz Diyarbakir gegründet. Zwar wurde der Name im Laufe der Zeit mehrfach geändert, aber bis heute ist PKK der gebräuchlichste und wird von der Organisation selbst benutzt.

Die Gründung fand unter strengster Geheimhaltung statt. Etwa 2 Dutzend ausgesucht Kader kamen zu diesem Zweck zusammen, darunter Mazlum Doğan, der sehr verehrt wird, weil er am 21. März 1982, dem kurdischen Neujahrsfest Newroz, aus Protest gegen seine Haftbedingungen seine Zelle in Brandt steckte und sich selbst erhängte. Außerdem Duran Kalkan, der als Chefideologe der PKK gilt. Und natürlich "der Vorsitzende", Abdullah Öcalan. Mit dabei war auch die am 9. Januar 2013 in Paris ermordete Sakine Cansiz, als eine von zwei beteiligten Frauen. In ihrer Biographie "Mein ganzes Leben war ein Kampf" beschreibt sie die Gründung folgendermaßen:

 

"Wir erreichten schließlich das Dorf Fis im Kreis Lice … Wir hielten vor einem Haus, das von außen recht groß aussah. Es machte den Eindruck eines wohlhabenden Wohnsitzes. Die Umgebung wurde ein letztes Mal kontrolliert. Es war nichts zu sehen. Das Haus stand an einer abgelegenen Stelle. Die Dorfbevölkerung würde kaum bemerken, wer hier ein und aus ging … Es war aufregend. Alle bekannten Kader waren hier, sozusagen das Gehirn der Bewegung ..."

Sakine Cansiz

Ihren Aufzeichnungen zufolge verlief der Gründungskongress ziemlich unspektakulär. Die Anwesenden vertraten jeweils bestimmte Regionen, aus denen sie berichteten, ein Programm mit dem Titel "Den richtigen Weg begreifen" wurde diskutiert und beschlossen, und anderntags gingen alle wieder ihrer Wege - unter denselben Sicherheitsvorkehrungen, unter denen sie gekommen waren.

Vermutlich hat niemand der Anwesenden geahnt, welche Bedeutung die Organisation, die PKK zu nennen sich die Delegierten geeinigt hatten, später erlangen sollte. Für die Region, und im Jahre 2015, 37 Jahre nach ihrer Gründung lässt sich ohne Übertreibung sagen: für den Weltfrieden. Trotz vieler Anschläge, Entführungen, Exekutionen und anderen Menschenrechtsverletzungen, die begangen wurden, ist es der PKK gelungen, das Vertrauen der Mehrheit der Menschen in der Region zu gewinnen, von ihnen unterstützt und getragen zu werden. Die PKK, bzw. ihr Vorsitzender Abdullah Öcalan, werden als "die Sonne Kurdistans" verehrt.

 

Militärputsch und Verhaftungswelle

 

Knapp zwei Jahre nach Gründung der PKK putschte sich am 12. September 1980 das Militär an die Macht. Es war der dritte erfolgreiche Militärputsch innerhalb von 20 Jahren in der Türkei. Der erste erfolgreiche Militärputsch fand am 27. Mai 1960 statt. Hintergrund war die Niederschlagung von Protesten gegen Zensur und Repression. Mit der Verfassung von 1961 wurde die Gewaltenteilung eingeführt.

Am 13. März 1971 wurde über die Staatlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten TRT die so genannte "Erklärung der Generäle" verlesen. In 11 Provinzen, darunter Istanbul, Ankara und Izmir, wurde das Kriegsrecht verhängt. Militärgerichte führten Massenprozesse durch. Allein in einem Prozess in Ankara waren 226 Menschen angeklagt, an Aktionen der Studentenorganisation Dev-Genç (revolutionäre Jugend) teilgenommen zu haben. 1972 saßen laut Angaben türkischer Anwälte etwa 2000 politische Häftlinge in den Gefängnissen.

1973 wurde das Kriegsrecht aufgehoben, und im Oktober Neuwahlen abgehalten. Nach dem Putsch sollen Tausende von politischen Gefangenen gefoltert und zum Tode verurteilt. Die Tageszeitung Cumhuriyet nannte am 12. September 1990 die Zahlen 650.000 politische Festnahmen, 7.000 beantragte, 571 verhängte und 50 vollstreckte Todesstrafen und dem nachgewiesenen Tod durch Folter in 171 Fällen. Amnesty International (ai) nennt die Zahl von 47 nachgewiesenen Todesfällen unter Folter (40 davon von der damaligen türkischen Regierung zugegeben) und weiteren 159 Fällen, in denen der Verdacht auf Folter als Todesursache nicht ausgeräumt werden konnte. Die Situation in den Gefängnissen nach dem Putsch 1980 wurde von Mehdi Zana, dem ehemaligen Bürgermeister von Diyarbakir, in dem Buch "Hölle Nr 5" ausführlich beschrieben.

 

Die Operation vom 15. August 1984

 

Nach dem Putsch von 1980 befand sich die Linke in der Türkei in einer Art Schockzustand. Tausende wurden verhaftet und gefoltert. Um aus dieser Lethargie herauszukommen, beschloss die PKK, bzw. deren militanter Arm, Hezen Rizgariya Kurdistan/HRK (Einheit zur Befreiung Kurdistans), den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Am 15. August 1984 wurde ein Angriff auf die Kaserne der Militärpolizei in Eruh (Provinz Siirt) durchgeführt, bei dem ein Wachsoldat und ein Offizier zu Tode kamen. Zeitgleich wurde ein Militärstützpunkt in Şemdinli (Provinz Hakkâri) angegriffen, bei dem mehrere Soldaten und Offiziere getötet wurden.

Das war der Beginn eines bis heute andauernden Krieges, in dem die anfangs 300 PKK-Kämpfer der größten NATO-Armee außerhalb der USA gegenüberstanden. Bis 1990 waren etwa 200.000 Soldaten, 70.000 Polizeibeamte, 25.000 kurdische Dorfschützer und 1.500 Anti-Terror-Spezialisten im Einsatz. Die Zahl der Kämpferinnen und Kämpfer der PKK wurde zu Hochzeiten auf 20.000 geschätzt, später war von 6.000-10.000 die Rede. Diese Zahlen sind allerdings nicht aktuell und berücksichtigen nicht den Zulauf bedingt durch den Krieg gegen den IS, den Kampf um Rojava und den aktuell neu aufgeflammten Krieg im türkischen Teil Kurdistans.

Die Zahl der Opfer ist nicht auszumachen, die Zahlen differieren je nach Seite in hohem Maße. Offiziellen Angaben zufolge wurden bis Ende 1990 574 Angehörige der türkischen Streitkräfte getötet, 1.068 Militante der PKK "tot festgenommen" und 1.045 Opfer unter der Zivilbevölkerung waren zu verzeichnen. Die Zahl der zwischen dem 15. August 1984 und 30. Mai 1999 getöteten PKK-Kämpfer wird mit 18.348 angegeben. Die PKK machte zu den Todesopfern des Krieges von 1984 bis 1999 folgende Angaben: 42.459 Tote auf Seiten des türkischen Staates (Soldaten, Polizisten, Dorfschützer, Kollaborateure etc.); 6.671 Tote auf Seiten der PKK. Hinzu kommen 9.000 bis 10.000 Opfer in der Zivilbevölkerung sowie etwa 2.000 Opfer bei Kämpfen unter kurdischen Organisationen im Irak.

 

Menschenrechtsverletzungen durch die PKK

 

Der Organisation werden zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen - auch in den eigenen Reihen. Die Liste reicht von willkürlicher Ermordung von Zivilisten, die für Kollaborateure mit der türkischen Regierung gehalten wurden oder es tatsächlich auch waren, über Vergewaltigungen von Frauen in der Guerilla und auch in der ehemaligen Leitungsakademie in Syrien, Erschießungen von schwangeren Guerilla-Kämpferinnen und Überläufern, Zwangsrekrutierungen von sehr jungen Kämpferin bis hin zu Auftragsmorden von Abweichlern. Nach einem Mord an dem abtrünnigen Zülü Gök im Jahr 1984 in Rüsselsheim wurde 1990 ein internationaler Haftbefehl gegen Öcalan erlassen.

Die beiden ehemaligen hochrangigen Funktionäre Selim Çürükkaya und Selahattin Çelik erhoben schwere Vorwürfe, nachdem sie sich in die BRD abgesetzt hatten. Beide schildern in ihren Büchern "PKK: Die Diktatur des Abdullah Öcalan" (1997) und "Den Berg Ararat versetzen" (2002) anschaulich eine Vielzahl von Verbrechen, allerdings ohne darauf hinzuweisen, dass sie als ehemalige Mitglieder des Zentralkomitees (ZK) eine Mitverantwortung dafür tragen - geschweige denn, dass sie diese Verantwortung auch übernehmen.

Selahattin Çelik wurde Ende der 1990er Jahre in seiner Wohnung überfallen und zusammengeschlagen, während er mit Hans Branscheidt, dem damaligen Vorsitzenden der Hilfsorganisation Medico International, telefonierte. Dieser Anschlag gilt als Rache für Çeliks Veröffentlichungen. Allerdings wird seitens der PKK bestritten, dass es sich um einen offiziellen Auftrag handelte.

In einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt bestätigte Öcalans Stellvertreter Cemil Bayik interne Säuberungsaktionen. Allerdings seien diese von Leuten ausgeführt worden, die unterdessen nicht mehr in den Reihen der Organisation kämpften. Diese Verbrechen aufzuklären, sei auch im Intersse der PKK, so Bayik, der eine Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild anregte ("Ja, es gab interne Hinrichtungen").

 

Waffenstillstand und Friedensprozess

 

Am 20. März 1993 verkündete Abdullah Öcalan den ersten einseitigen Waffenstillstand der PKK. Dieser wurde allerdings am 8. Juni wieder beendet, da die Gegenseite das Angebot schlicht ignorierte. 91 PKK-Kämpferinnen und Kämpfer kamen in der Zeit bei Angriffen seitens des türkischen Militärs ums Leben.

Am 1. September 1998 rief Öcalan erneut einen einseitigen Waffenstillstand aus. Dieser wurde beantwortet, indem die Türkei Panzer an der syrischen Grenze auffahren ließ und die Auslieferung Öcalans forderte. Um einen Krieg zwischen Syrien und der Türkei zu vermeiden, begab dieser sich auf seine berühmte Odyssee, die am 15. Februar 1999 in Kenia endete. Er wurde zum Tode verurteilt und wird seither auf der Gefängnisinsel İmralı in Isolationshaft gehalten. Aufgrund internationalen Drucks wurde die Todesstrafe inzwischen in lebenslange Haft umgewandelt.

Der einseitige Waffenstillstand von 1998 wurde 2004 endgültig beendet, seitdem wechselten sich Zeiten des Friedens und des Kampfes ab. Seit 2012 gibt es Friedensverhandlungen seitens der türkischen Regierung unter Erdogan. Diese sind allerdings aufgrund der aktuellen Entwicklung als gescheitert zu betrachten.

 

Aufbau der Zivilgesellschaft

 

Im Gefängnis entwickelte Öcalan das Konzept des Demokratischen Konföderalismus, die Vision einer kommunal organisierten, egalitären, demokratisch-ökologischen Gesellschaft.

Dieses Konzept wurde als Rätesystem in der Provinz Diyarbakir umgesetzt. Allerdings reichte es den kurdischen Frauen nicht aus, als Minderheiten in den verschiedenen Räten zu versanden. Sie wollten eigenständige Frauenräte, analog zu dem von Öcalan vorgeschlagenen Rätesystem, die selbst bestimmt Vertreterinnen in die regionalen Gremien entsenden können. "Wir wollten nicht, dass Männer über unsere Bedürfnisse bestimmen", erläuterte Fatma Kasan, Sprecherin des Frauenrates der kurdischen Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) auf einer Veranstaltung 2010 in Hamburg.

In allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sollen Frauen mit mindestens 40% vertreten sein, fordert die DÖKH. Das gilt auch für kommunale Arbeitgeber, z. B. für die Stadtverwaltung in Diyarbakir. Eine Forderung, die aktiv umgesetzt wurde. Das Problem dabei war indes, dass viele Frauen in Kurdistan schlicht keine oder zumindest keine ausreichende Schul- oder Berufsausbildung haben. Also wurden Alphabetisierungs- und Berufsbildungskurse eingerichtet, um die Frauen in die Lage zu versetzen, berufstätig werden zu können. Das ist für die DÖKH ein wichtiges Instrument, um Frauen finanzielle Unabhängigkeit zu garantieren, die ihnen ermöglicht, sich aus Gewaltverhältnissen zu lösen.

In der Stadtverwaltung Diyarbakir gibt es darüber hinaus ganz konkrete praktische Schritte zur Unterstützung von Frauen in Gewaltverhältnissen, sofern diese dort bekannt werden: Die Gehälter der prügelnden Ehemänner werden an die Frauen ausbezahlt, damit die Familie weiter leben kann, in Einzelfällen übernimmt die Frau den Job ihres Mannes, und den betroffenen Männer wird ein Anti-Aggressionstraining angeboten. So wird nicht nur den Frauen geholfen, sondern auch die gesellschaftliche Debatte über häusliche Gewalt gefördert. Diese nicht nur für Frauen wichtigen Ansätze egalitärer Gesellschaftsgestaltung werden derzeit durch den neu aufgeflammten Krieg zunichte gemacht.

 

Türkisch-deutsche Waffenbrüderschaft

 

Die türkische Armee ist die zweitstärkste NATO-Armee nach den US-Streitkräften. Als NATO-Mitglied erhält die Türkei ökonomische, militärische und politische Unterstützung aus allen anderen NATO-Staaten. Auch die BRD hat NATO-Partnerin Türkei kräftig unterstützt.

Vermutlich ist die Bundesrepublik in keinen militärischen Konflikt auf der Welt so stark eingebunden wie in den Krieg der Türkei in Kurdistan. Nach 1990 erhielten die Türkei und Griechenland zu gleichen Teilen ausrangierte Rüstungsgüter der Nationalen Volksarmee (NVA), der Armee der ehemaligen DDR. Als Thyssen in den 1990er Jahren Absatzschwierigkeiten hatte, wurde die Bundeswehr mit neuen Panzern bestückt. Die ausrangierten Leopard-I-Panzer wurden an die Türkei verschenkt. Natürlich nicht, ohne vorher z.B. auf der Hamburger Werft Blohm & Voss generalüberholt worden zu sein.

Immer wieder gingen Bilder von deutschen Panzern im Einsatz gegen die kurdische Bevölkerung um die Welt. Deutsche Schäferhunde wurden in der Nähe von Hannover auf türkische Kommandos trainiert. In der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg-Blankenese wurden türkische Militärs ausgebildet.

Seit dem Verbot kurdischer Organisationen und Vereine im November 1993 wurden und werden tausende Menschen kurdischer Herkunft kriminalisiert. Razzien, Vereinsverbote und Durchsuchungen, Verhaftungen und polizeiliche Aufforderungen zur Denunziation gehören zum Alltag. Manchmal reicht es, einen Grillwagen von A nach B bewegt zu haben, um ins Visier der Staatsanwaltschaft zu gelangen. Weitere "Vergehen" sind: Parolen rufen, Fahnen schwenken, Zeitungen verkaufen oder Spenden sammeln.

Als Öcalan auf der Flucht Asyl in Italien erhielt, beantragte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder aufgrund des internationalen Haftbefehls von 1990 die Auslieferung - statt die Chance zu nutzen und aktiv in den Friedensprozess einzugreifen.

Einheiten der Bundeswehr mitsamt einem Raketen-Abwehrsystem, angeblich zum Schutz der Türkei vor Angriffen aus Syrien, wurden im türkischen Teil Kurdistans stationiert. Diese sollen allerdings laut Beschluss der Bundesregierung wieder abgezogen werden (Patriot-Raketenabwehr: Einsatz in der Südtürkei wird beendet).

Der nächste Schritt könnte die Aufhebung des PKK-Verbots sein. Unabhängig davon wäre die Bundesregierung gut beraten, ihren Einfluss geltend zu machen und auf Erdogan einzuwirken, die militärischen Operationen gegen die Kurden zu beenden und an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

 

 

Birgit Gärtner 24.08.2015