Leipzig kommt vorwärts – die Wirtschaft läuft, das Image ist gut. Doch die Stadt steht vor vielen Herausforderungen. Oberbürgermeister Burkhard Jung im LVZ-Interview über die Lehren aus Legida, Gewaltausbrüche von Extremisten, den Verkehr der Zukunft, RB Leipzig und Notfallpläne zur Unterbringung von Asylbewerbern.
Leipzig. Mit der neuen katholischen Kirche haben Sie den lieben Gott jetzt direkt vor dem Balkon – fühlt man sich da nicht ständig unter Kontrolle?
Oh nein (lacht). Es ist ein sehr gelungenes Bauwerk. Ich weiß, dass es polarisierend diskutiert wird. Aber es ist der Beginn der Entwicklung des gesamten Leuschnerplatzes.
Wir haben auf der einen Seite eine insgesamt gute Entwicklung der Stadt. Wir haben auf der anderen Seite teils heftige Proteste durch Legida Anfang des Jahres und hässliche Bilder durch linksautonome Krawallmacher. Wohin steuern wir?
Die Grundentwicklung macht wirklich Freude. Wirtschaftliche Kennzahlen, demografische Entwicklung, sinkende Arbeitslosenzahlen, höhere Steuereinnahmen, wachsende Kaufkraft - soweit alles gut. Wir können sehr zuversichtlich in die nächsten Jahre schauen. Aber: Je größer die Stadt ist, desto heterogener wird sie. Die gesamtgesellschaftliche Situation ist spannungsgeladener. Ich spreche auf der einen Seite von kriminellen Anarchisten - das sind nämlich im Kern keine Linken. Auf der anderen Seite von Rassisten von Rechtsaußen, die Menschen mit ihren Ängsten verführen wollen. Die Integrationskraft einer Stadtgesellschaft ist hier gefordert. Mir ist nicht bange, es gibt ermutigende Situationen wie letzte Woche bei einem Elternabend in einer interimsmäßig für Flüchtlinge genutzten Grundschule, wo Menschen fragen, wie sie helfen können. Unsere Aufgabe ist es, aus einem Wir-Gefühl, aus einem Stolz auf diese Stadt eine Verantwortungsgemeinschaft abzuleiten. Alles spricht dafür, dass wir das schaffen. Die meisten Menschen sind zufrieden, die große Mehrheit findet die Buntheit, die Lebensvielfalt gut.
Es gibt ein Problem mit linksextremer Gewalt. Mal 100, mal 500 dieser Leute tauchen plötzlich auf und verbreiten Chaos. Warum gibt es das hier in Leipzig - und anderswo nicht?
Es gab und gibt solche Gruppierungen auch anderswo, denken Sie an die Chaostage in Hannover. Meine Erklärungsversuche sind aber sehr vorsichtig: Unsere Stadt hat noch viel Freiraum und ungeordneten Raum. Zweitens: Es gibt viele - übrigens völlig friedliche - Subkulturen, die ein Umfeld bieten, um anonym zu bleiben. Alle rätseln gerade, wer sich da gewalttätig sammelt. Zur Wahrheit gehört: Wir kennen sie nicht mehr. Die Hausbesetzerszene der 90er war bekannt. Da gab es Gespräche mit Streetworkern, die Wohnungsbaugenossenschaft Kontakt hatte Verbindungen in die Szene. Selbst die hinlänglich bekannten autonomen subkulturellen Szenen haben die Verbindung zu dieser hartgesottenen, kriminellen Szene verloren. Die Szene sammelt sich nicht in soziokulturellen Einrichtungen. Um es klar zu sagen, weil immer wieder unterstellt: Auch das Conne Island ist kein Ort, wo sich diese Szene trifft. Sie trifft sich hoch konspirativ in Wohnungen und sie ist sehr gut vernetzt. Es ist Aufgabe von Verfassungsschutz und Polizei, sich darum zu kümmern.
Macht Ihnen die Situation Angst?
Ich nehme das sehr ernst. Wer in Kauf nimmt, dass Polizisten gefährdet werden, wer sich so systematisch, gezielt, geplant, innerhalb von zehn Minuten treffen, wieder auflösen und im Nichts verschwinden kann, der ist nur einen Hauch vom terroristischen Untergrund entfernt. Ich hoffe sehr, dass das in Dresden genauso ernst genommen wird. Unser Polizeipräsident Bernd Merbitz sieht das genau wie ich, er kann sehr gut differenzieren, hat ein großes Herz für alternative Lebensformen und Subkulturen. Aber wenn das Gewaltmonopol des Staates unterhöhlt wird, kennt er keine Kompromisse.
Gibt es Lehren, die Sie aus Legida ziehen?
Grundsätzlich: Es war wichtig, klare Haltung zu zeigen. Bei Rassismus darf es kein Wackeln geben. Aber es braucht neue Formen der Kommunikation, um zu erklären, was passiert, wie dieser Staat funktioniert. Den Menschen ist egal, wer für etwas zuständig ist; sie wollen, dass etwas geklärt wird. Zu erklären, dass etwas nicht in unserer Verantwortung liegt, reicht nicht. Natürlich erwarten die Menschen, dass sich der OBM für mehr Lehrer einsetzt - auch, wenn das Sache des Freistaats ist. Wir müssen noch mehr vor Ort erklären und kommunizieren.
Erreichen Sie die Leute denn noch?
Diese Leute kommen nicht ins Stadtbüro. Aber meine Erfahrung ist: Wenn ich vor Ort bin, in Volkmarsdorf, in Schönefeld, in Gohlis, dann erreicht man Menschen, die ansonsten den Weg gescheut hätten. Die Informationspolitik von Bürgermeister Fabian, vor Ort zu erklären und zu erläutern, über die Flüchtlingsheime zu informieren - das ist genau richtig.
Viele sagen, es wird zu spät informiert.
Wir können erst dann informieren, wenn wir die aktuellen Zahlen haben und wissen, wie die Verteilung aussehen kann. Es ist gut, es dann zu tun, wenn Klarheit besteht. Alles andere wäre nicht seriös.
Es gibt Kritik, weil Sie sich dem Legida-Dialog verweigert haben ...
Ich bleibe dabei: Mit den Organisatoren setze ich mich nicht an einen Tisch, weil ihre Menschen beleidigende und fremdenfeindliche Haltung eindeutig ist. Bürgerinnen und Bürger dagegen, die ihre Ängste und Sorgen formulieren, mit denen will ich gerne sprechen, die will ich erreichen. Im direkten Gespräch geht das auch. Aber ich möchte auch über die Ängste der Flüchtlinge und Asylsuchenden vor dem feindlichen Mob reden.
Haben Sie diese Unterscheidung so deutlich gemacht?
Ich hoffe das. Die Trennschärfe war in der sehr aufgeheizten Situation Anfang des Jahres sehr schwierig. Heute würde es sicher leichter fallen, wo der große Druck etwas weg ist. Als ich 1999 ein junger Beigeordneter für Jugend war, hatte ich ein Riesen-Problem mit einem Grünauer Jugendclub, der von Neonazis unterwandert war. Noch unerfahren habe ich mich in ein Podium mit Neonazis gesetzt - es war der vollkommen falsche Weg. Die haben auf keine Fragen geantwortet, jede Gelegenheit genutzt, um ihre Hetze unter das Volk zu bringen, es war keine Auseinandersetzung mit Argumenten möglich. Letztlich wertet man Rassisten auf, wenn man sich auf Augenhöhe an den Tisch setzt. Das kann es nicht sein. Jeder Bürger, der zu mir kommt und seine Sorgen und Anliegen zur Sprache bringt, ist herzlich willkommen. Aber ich setze mich nicht mit organisierten Rassisten an einen Tisch. Wir sehen doch, was bei Legida passiert ist: Übrig geblieben ist nicht der besorgte Bürger. Der hat schnell gemerkt, mit wem er da mitläuft. Übrig geblieben ist ein harter Kern von Rechtsorientierten und Hooligans. Das wiederhole ich und sage das offen.
1000 Jahre Leipzig - trotz aller Probleme läuft es nicht schlecht. Wie erhalten wir den Schwung, was ist Ihre Vision?
Wir haben die Stadtentwicklung richtig angesetzt - im Hinblick auf Internationalisierung und Werbung. Wir sind eine kulturvolle, pralle, lebendige, junge, wunderschöne Stadt mit Platz, Raum - und Arbeit. Die Ansiedlungen, zum Beispiel von Porsche, BMW, DHL und wissenschaftlichen Einrichtungen waren wesentlich für die Entwicklung. Die mittelständische Wirtschaft, ein kraftvolles, kreatives hiesiges Unternehmertum, das Handwerk entwickeln sich prächtig. Die Vision: Leipzig gehört zu den wirtschaftlich gesunden, kulturvollen, attraktiven Plätzen in Europa, wo es sich unglaublich gut leben lässt. Wir müssen daran arbeiten, dass dieser Ort sich weiter gedeihlich, wirtschaftlich nachhaltig entwickelt. Steigen die Mieten nicht zu schnell, zu stark im Verhältnis zur Kaufkraft? Können wir den Zuzug verkraften? Wie schaffen wir es, dass die Entwicklung nicht kippt? Wie gelingt es, den positiven Grundtenor und die Ausstrahlung zu bewahren, Räume freizuhalten, Entwicklungen zu ermöglichen? Da setze ich auch stark auf die Kreativen und die Kultur.
In Interview mit der Sächsischen Zeitung haben Sie Leipzig in einer Liga mit Barcelona gesehen. Die Stadt ist mit1,6 Millionen Einwohnern ja wohl ein bisschen größer ...
Größer ja, aber doch nicht bedeutender (lacht). Es ist keine Frage der Einwohnerzahl, sondern des gesamten Angebotes in einer Stadt, kulturell wie wirtschaftlich. Sie müssen lange suchen, um eine europäische Stadt zu finden, die Leben, Freizeit, Arbeit und Wohnen in dieser Qualität verbindet. Da ist Leipzig sensationell gut. Ich stelle mich ganz bewusst wirtschaftlich noch nicht in die Liga von Hamburg, München, Frankfurt und Stuttgart. Da sind wir weit entfernt. Aber wir haben eine sehr hohe Lebensqualität sowie eine hohe geistige und kulturelle Bedeutung, die zunehmend wirtschaftliche Kraft entwickelt. Ich kenne keine Halbmillion-Stadt in Deutschland, die attraktiver ist.
Das müssen Sie als OBM ja sagen.
Ja, aber es stimmt, es ist so. In Frankreich fällt mir als Vergleich nur Lyon, in Polen Krakau ein. Das sind hinter den Haupt- und Millionenstädten die zweiten Städte im Land. Da sehe ich uns.
Sie sind zufrieden in dieser Liga. Nur im Fußball nicht.
Kommt noch. Wir schlagen noch Dortmund im heimischen Stadion.
Ist Leipzigs Infrastruktur auf die 600.000 Einwohner vorbereitet, auf die Sie für 2020 wetten? Schon jetzt reichen Kitas und Schulen nicht.
Die Kita-Frage haben wir demnächst weitgehend geklärt. Jetzt steht der Schulhausbau über allem anderen. Das ist die größte Herausforderung.
Von der Sie schon viel früher wussten. Sie hätten gegensteuern können.
Wir wussten nicht um das rasante Wachstum. Das war so nicht vorhersehbar.
Aber es war doch klar, dass sich der Kita-Engpass bei den Schulen fortsetzt.
Ja, aber das Ganze wird sehr verschärft durch den Zuzug junger Familien. Wir haben 2014 um die 400 Kinder zwischen Sechs und Zehn dazu bekommen. Das ist eine komplette Schule. Deshalb brauchen wir Zwischenlösungen über Module an einigen Schulen. Bei den Oberschulen haben wir ein größeres Problem als gedacht, weil der Übergang zum Gymnasium sich verändert hat. Wenn zwei, drei Prozent weniger zum Gymnasium gehen, ändert das schlagartig die Situation.
Es kommen immer mehr Leute in die Stadt - und Sie lassen Autospuren zurückbauen. Wie geht das zusammen?
Wir haben jedes Jahr 5000 neue Kfz-Anmeldungen. Damit zusammen hängen Parkplatzfragen in der Gründerzeit-Architektur, Luftverschmutzung, Lärmbelastungen. Es geht nicht anders, als den motorisierten Individualverkehr neu zu lenken, zumindest das Wachstum einzudämmen. Die immer engeren Räume müssen so gestaltet werden, dass es einen ungehinderten Wirtschaftsverkehr gibt - bei hoher Mobilität der Bevölkerung. Das heißt aber: Der private Kfz-Nutzgrad soll möglichst nicht steigen. Je autogerechter Sie eine Stadt bauen, umso stärker holen Sie sich den Verkehr rein, umso eher kollabiert der Verkehr. Das ist die Erfahrung aller Großstädte. Köln und Stuttgart haben versucht, eine autogerechte Stadt zu bauen - gucken Sie sich das Ergebnis an! Wir müssen auf alternative Bewegungsformen setzen. Das ist der Radverkehr, das ist der öffentliche Nahverkehr.
Aber wie kann man denn die Straßenbahn auf einer der wichtigsten Verbindungen - in der Georg-Schumann-Straße - ausbremsen zugunsten einer Radspur? Muss da nicht auch mal der Radfahrer zurückstecken?
Sie erleben aber dort, wie diese Straße sich bewegt. Wie die Anwohner zufriedener werden, wie Parktaschen genutzt werden, man sieht mehr Radfahrer. Aber die Lösung in der Georg-Schumann-Straße ist noch nicht optimal, wir suchen da weiter nach Verbesserungen. Die Gohliser Straße ist hingegen ein gutes Beispiel.
Wir haben deutlich steigende Zahlen bei den Asylbewerbern. Bis wann reichen die Unterkünfte? Haben Sie einen Plan B?
Wir wären schlecht beraten, wenn wir keinen hätten. Dieses Jahr kommen 3000 Asylbewerber zusätzlich nach Leipzig; wir sprechen dann von insgesamt 5500 Menschen, die hier Zuflucht suchen. Das ist eine Riesenaufgabe, die nicht einfacher wird, wenn wir unser Konzept umsetzen wollen, zu dem ich hundertprozentig stehe: Gemeinschaftsunterkunft, um anzukommen - kleinere Unterkunft, um sich einzugewöhnen - möglichst schnell dezentrale Unterbringung in Wohnungen. Wir haben im Moment nicht die Zeit und die Kapazitäten, um das Konzept konsequent durchzuhalten. Parallel zu aktuellen Interimslösungen bauen wir feste Unterkünfte auf. Aber wir brauchen in den nächsten Monaten Übergangslösungen. Zwei haben wir schon angekündigt - die interimsweise genutzten Schulen, die aber spätestens in einem Jahr wieder frei sein müssen. Wir werden zeitweise auf Modullösungen zurückgreifen müssen, also auf Container. Unter anderem auf der Alten Messe. Wenn alle Stricke reißen, müssen auch vorübergehende Notunterkünfte vorbereitet sein.
Turnhallen, alte Messehallen.
Ja, wobei ich zurzeit einschätze, dass wir diese nicht brauchen.
Wo könnten solche Unterkünfte entstehen?
Ich habe gelernt: Man soll erst über Standorte sprechen, wenn sie spruchreif sind. Ich werde alles tun, um zu verhindern, dass wir Turnhallen belegen müssen. Wenn es nicht anders geht, wird man auf Hallen zurückgreifen, die vom Schul- und Vereinssport nicht in so großem Umfang genutzt werden und vielleicht einige Wochen verzichtbar sind. Wie gesagt: So etwas kann nur eine Übergangslösung sein.
Ist Ihr dezentrales Konzept angesichts des Flüchtlingsstroms überhaupt realisierbar?
Ja. Laufend werden Menschen aus Gemeinschaftsunterkünften dezentral untergebracht. Die LWB vermietet jeden Monat rund 60 Wohnungen an Flüchtlinge und Asylsuchende. Wir greifen auch auf ganz oder fast leerstehende Häuser zurück. Es ist gottlob noch Platz. Falsch ist, Menschen sofort nach Ankunft dezentral in Wohngemeinschaften zusammenzufassen, wo sie schnell aneinandergeraten können.
Ist unsere Jugendhilfe auf die Betreuung von Kindern ohne Angehörige eingestellt?
Wir werden Unterkünfte für "unbegleitete minderjährige Flüchtlinge" errichten müssen. Der Kinder- und Jugendnothilfedienst ist nicht die richtige Adresse.
Gibt es schon einen Standort?
Das werde ich noch nicht sagen. Wir rechnen 2016 mit 150 jungen Menschen, die wir betreuen müssen. Zunächst in einer Wohnheim-Situation, um von dort aus wieder in Wohngruppen zu gehen. Pflegefamilien sind natürlich der Königsweg. Ich habe mich sehr gefreut, als auf Veranstaltungen spontan Bereitschaft von Teilnehmern signalisiert wurde, die gesagt haben, sie würden einen Acht-, Neun-, Zehnjährigen in ihrer Familie aufnehmen. Übrigens gibt es inzwischen auch über 400 Flüchtlings-Patenschaften.
Die Betreuung dieser jungen Flüchtlinge ist eine zusätzliche, riesige Aufgabe.
Es ist eine Belastung, das zu organisieren und zu managen, das Personal ist knapp, alle suchen Sozialpädagogen und Erzieher. Ich möchte aber betonen: Wir haben es mit jungen Menschen zu tun, die eine Chance sein können für unsere Gesellschaft. Sie sind oft hochmotiviert, schnell integrierbar, weil sie die Sprache schnell erlernen. Nehmen Sie den jungen Mann aus Eritrea, der eine Kfz-Lehre macht und hier verankert wird. Nehmen Sie den Riesenbedarf in der Pflege. Schauen Sie sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt und die demografische Entwicklung ringsherum an. Wir brauchen Fachkräfte. Es wundert mich, dass dieser Aspekt kaum eine Rolle spielt. Das geht völlig unter.
Interview: Björn Meine, Mathias Orbeck