Am Anfang stand das Reh

Erstveröffentlicht: 
09.05.2015

Das Radio „Freies Sender Kombinat“ wurde Anfang der 2000er Jahre von der Polizei ausspioniert. Zum Einsatz von Ines P. nimmt die Redaktion jetzt Stellung.

 

HAMBURG taz | Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss zum Einsatz der verdeckten Ermittlerin Iris P. in der linken Szene Hamburgs wird immer unausweichlicher. Anders sind wohl kaum die Widersprüche in dem sechs Jahre andauernden Komplex aufzuklären.

 

Die damals 27-jährige Staatsschützerin des Hamburger Landeskriminalamt (LKA) war mindestens in den Jahren 2001 bis 2006 im besetzten autonomen Zentrum Rote Flora und beim selbstverwalteten Radio „Freies Sender Kombinat“ (FSK) eingesetzt. Sie war dort als „Beamtin für Lagebeurteilung“ (BfL) für das LKA-Hamburg als auch parallel als „verdeckte Ermittlerin“ (VE) im Auftrag des damaligen Generalbundesanwalts Kay Nehm für das Bundeskriminalamt und das LKA-Schleswig-Holstein tätig. 

 

In der schriftlichen Aufarbeitung „Ausgeforscht“ hat die Redaktion des queer-feministischen Magazins "„Re(h)v(v)o(l)lte radio“ beim FSK nun der letzten Darstellung der Innenbehörde im Innenausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft deutlich widersprochen, dass die unter der Tarnidentität „Iris Schneider“ tätige Beamtin beim FSK wegen der Presse- und Rundfunkfreiheit mit „ausdrücklicher Zurückhaltung“ agiert habe.

 

Nach heutigem Kenntnisstand hatte Iris P. nie den richterlich abgesegneten Auftrag gehabt, den FSK zu infiltrieren. Sie habe wohl nur mitgemacht, um ihre Legende als „Iris Schneider“ zu untermauern, so zuletzt die Innenbehörde. Iris P. war „nicht nur als Moderatorin, sondern auch als Produzentin, Interviewerin und Interviewte im FSK tätig“, kontern die Macherinnen von „re(h)v(v)o(l)lte radio“. Sie habe sogar den Namen der 2004 ins Leben gerufenen Sendung entscheidend mitgeprägt. So lautete der Arbeitstitel zunächst „Steht ein Reh im Wald“. Iris P. sei das zu „naturnah und albern“ gewesen, so das Team. „Ihrer Meinung nach sollte der Name unserer Sendung 'politischer' sein und 'nach vorne gehen'.“

 

Themen mitbestimmt

 

Sie habe „Rehvolte Radio“ als Namen vorgeschlagen und während einer Sendung offen am Mikrofon vertreten, so dass das Wortungetüm „re(h)v(v)o(l)lte radio“ entstanden sei. „Iris hat die Themen von Sendungen mitbestimmt und sich an der Vorbereitung von Interviews und Beiträgen beteiligt“, so die Redaktion. So zuvor auch bei den FSK-Sendungen „Nachmittagsmagazin für subversive Unternehmungen“ oder „female Machos“ und „u-turn queer“.

 

Im Februar 2005 habe Iris P. über eine Antifa-Demo gegen einen Naziaufmarsch in Kiel berichtet. „Also ich fand Kiel insgesamt sehr prima, weil sich permanent Leute an Ecken sammeln konnten, um auf der Demoroute der Nazis zu stehen, (...) um kraftvoll Protest entgegenzusetzen“,  berichtete Iris P.. „Mein Eindruck war, dass die Polizei gar keine Übersicht mehr hatte.“

 

Mit viel Zeit und technischen Sachverstand habe sich Iris P. „unentbehrlich“ zu machen versucht. „Durch ihr Vorpreschen und ihre Insistenz machte sich die verdeckt arbeitende Polizeibeamtin aktiv zu einem Bestandteil unserer Gruppe“, so die Macherinnen. Iris P. habe das Vertrauen, das den Radiomacherinnen entgegengebracht worden sei, ausgenutzt, um sich so den Zugang zu weiteren Gruppen und Einzelpersonen, insbesondere aus dem queer-feministischen Spektrum zu erschließen.

 

Gezielter Auftrag?

 

Inzwischen geht die „re(h)v(v)o(l)lte radio“-Redaktion davon aus, dass Iris P. einen gezielten Auftrag gehabt habe und nicht aus eigener Motivation beim Sender aktiv geworden sei. „Eine Frau, die ihre Identitäten nicht bewusst unter Kontrolle gehabt hätte, wäre untauglich gewesen“, sagt die „re(h)v(v)o(l)lte radio“-Redaktion zum Wirken der verdeckten Ermittlerin. „Ein Freizeitausgleich für ihre Ermittlerintätigkeit“ komme daher nicht in Frage, es bleibe die Frage: „Warum wurde in den Jahren 2001 bis 2006 eine homosexuell lebenden Beamtin ausgesucht?“

 

Das private Miteinander spiele in linken Zusammenhängen eine große Rolle, daher könne bei ihr auch von „Zurückhaltung“ keine Rede gewesen sein. „Iris führte Freundschaften, Liebesbeziehungen und Affären in der queeren Szene. Sie hat bei vielen Gelegenheiten unsere Wohnungen betreten, zum Teil mehrmals die Woche“, erinnern sich ihre Kolleginnen. „Sie hat mit uns Tee getrunken, Musik gehört, gepuzzelt und geplaudert.“ All das, was eine verdeckte Ermittlerin nur auf genaue richterlicher Anordnung vielleicht dürfte, aber was eine als „Beamtin für Lagebeurteilung“ eingesetzte Polizistin des LKA-Hamburg auf jeden Fall nicht durfte.

 

Die Hamburger Innenbehörde, die Aufklärung versprochen hat, gibt zurzeit nur scheibchenweise Fakten preis, weil angeblich sämtliche Akten vernichtet und alle Datensätze wegen Datenschutz gelöscht worden seien. Hamburgs SPD-Innensenator Michael Neumann hat daher an die Betroffenen intimer Ausspähung aus der linken Szene appelliert, sich als Zeugen zur Verfügung zu stellen, da Iris P. zu dem Komplex schweige. Davon wird zurzeit kein Gebrauch gemacht, weil das Misstrauen gegenüber auch der heutigen Polizeiführung überwiegt. Vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss oder einer unabhängigen Untersuchungskommission wäre die Bereitschaft  zur Aussage nach taz.de-Informationen wohl durchaus vorhanden.