Die Geisterstadt

Erstveröffentlicht: 
22.01.2015

Verunsicherung und Angst: Etwa die Hälfte der kleinen Geschäfte macht dicht

Von Sabine Kreuz


"So viel Polizei, so viele Krankenwagen. Sagenhaft." Roswitha Wirth kommt aus Thüringen, aus der Nähe von Gera - und versteht die Welt nicht mehr. "Das ist hier wie im Krieg." Ihr gestriger geplanter Einkaufsbummel in der Leipziger City fällt aus. "Ich bin genervt, weil hier alles zu ist", schimpft die 66-Jährige. Es ist zwei Minuten nach 16 Uhr, als sie keine Chance mehr hat, in der Parfümerie Douglas ihren Gutschein einzulösen. Andere Läden in der Einkaufsmeile Petersstraße vis-à-vis wie der Buchladen Hugendubel sind zu dieser Zeit schon längst zu, andere ziehen sukzessive nach. "Sollen die doch alle in Berlin ihren Frust ablassen, hier ist der falsche Ort", findet die enttäuschte Thüringerin. Nun könne sie noch nicht mal mehr mit der Straßenbahn zurück ins Hotel.


Die großen Kaufhäuser Karstadt, Galeria Kaufhof, die Höfe am Brühl und Breuninger beispielsweise bleiben zwar offen, sind teils aber schon am Nachmittag gähnend leer. Passagen wie etwa Specks Hof, der Messehof und die Marktgalerie sind wie ausgestorben. Überall hängen Schilder an den Eingangstüren "Wegen der Demonstrationen heute geschlossen. Wir bitten um Verständnis."


"Wir können doch nicht das ganze gesellschaftliche Leben beenden", meint Karstadt-Chefin Marlies Göllnitz-Gellert, die auch der Gemeinschaft der City-Händler vorsteht. Karstadt habe auf, "weil die Kunden ein Recht darauf haben, während der Öffnungszeiten einzukaufen", meint sie. "Es gab im Vorhinein jede Menge Gerüchte und eine Unmenge an Anrufen von Händlern, die fragten, wie sie sich verhalten sollen", schildert sie. Viele seien verunsichert gewesen. Trotz anderslautender Gerüchte habe der City-Verein in Abstimmung mit der Stadt Leipzig aber keine Empfehlung zur früheren Schließung von Geschäften gegeben. Bei ihrem Rundgang am Nachmittag durch die Innenstadt resümiert sie: "Etwa die Hälfte der kleinen Geschäfte hat zu. Das waren individuelle Entscheidungen der Händler. Wer geschlossen hat, machte das auf eigene Faust."


Wie gewohnt empfängt das Spezialgeschäft "Edle Tropfen" unter den Arkaden des Alten Rathauses seine Kunden bis 19 Uhr. Mit-Inhaber Ingo Förster fühlt sich sicher: "Gucken Sie doch auf den Markt. Es ist genug Polizei da." Der Traditionsladen besteht schon seit 108 Jahren. "Und hat viel überstanden. Da überstehen wir auch das hier", meint der 73-Jährige. Andere sehen es ganz anders: "Es ist kein Mensch mehr in der Stadt, was soll ich da noch hier? Da kommen doch auch keine Kunden", sagt eine Verkäuferin, die gerade ihren Laden abschließt.


Straßenmusiker Pjotr aus Polen hat nur wenige Münzen in seinem Gitarrenkasten. Der 25-Jährige nimmt es gelassen, eine halbe Stunde harre er noch aus, sagt er kurz nach 16.30 Uhr. In Leipzig sei er eh nur auf der Durchreise.


Viele Restaurants in der Innenstadt sind hell erleuchtet, teils gut besucht. "Aufgrund der Demonstration öffnet die Gaststätte einige Minuten später", steht am Eingang zum Kabarett Academixer. Im Ticketbüro ein paar Meter weiter in der Kupfergasse haben bis 17 Uhr schon relativ viele Leute angerufen und sich danach erkundigt, ob die Veranstaltung "Oberhalb der Gürtellinie" unter anderen mit Anke Geißler auch wirklich stattfindet, erzählt Mitarbeiterin Sara Bräuer. "Wir haben allen versichert: ,Wir spielen auf jeden Fall'", so die 29-Jährige. Einige hätten aber abgesagt - aus Angst vor Tumulten. "Ein Mann meinte, mit 75 Jahren wolle er sich das nicht mehr antun, an einem solchen Tag ins Zentrum zu kommen. Wir könnten die Karten verschenken", erzählt die Mitarbeiterin.


Seit einer halben Stunde schon versuche er, mit seinem Fahrrad aus der Innenstadt herauszukommen, erzählt Dennis Lieschke (37). Da ist es ein paar Minuten nach 17 Uhr. Überall würde Polizei Ein- und Ausgänge versperren. Es spricht sich herum: Am Neuen Rathaus gibt es noch eine Schleuse auf den Ring. Kurz vor 18 Uhr füllt sich die City wieder. Die Kundgebungen beginnen.

 


 

Merbitz: "Insgesamt ist es gut gelaufen" 

 

Polizeipräsident zieht positive Zwischenbilanz


Von Andreas Debski
Es scheint, als würde jeglicher Stress an Bernd Merbitz abprallen. Der Leipziger Polizeipräsident steht mitten auf dem Augustusplatz. Lagebesprechung unter freiem Himmel. Das Innenministerium hat Staatssekretär Michael Wilhelm nach Leipzig beordert, Landespolizeipräsident Jürgen Georgi steht genauso in Rufweite der Legida-Kundgebung wie Merbitz-Stellvertreter Torsten Schulze, der den Großeinsatz koordiniert. Mehr polizeiliche Führungsriege geht kaum.


"Bis jetzt läuft es gut. Aber Legida ist noch nicht losgelaufen", erklärt Merbitz im Entscheider-Quartett. Er weiß, dass nicht wenige der Demonstranten ihn als Feind sehen. Das müsse man aushalten können, gibt der Polizeichef einen der wenigen Einblicke in sein Innenleben. Und: "Ich bin völlig ruhig." In diesem Moment beginnt der erste Legida-Redner vor der Oper mit seiner Ansprache. Merbitz beendet die Besprechung, über Funk ist er mit dem Stab in der Polizeidirektion an der Dimitroffstraße verbunden. Hier laufen alle Informationen zusammen, werden die aus der gesamten Bundesrepublik nach Leipzig entsandten Hundertschaften verteilt. Der Chef selbst bleibt überwiegend im Schatten.


Am Abend ist so viel Polizei in der Innenstadt präsent, wie seit den Montagsdemos im Herbst 1989 nicht mehr. "Wir haben eine Woche lang Tag und Nacht gearbeitet, um die Demonstrationen absichern zu können", erklärt Merbitz. Das heißt unter anderem: Gefährdungspotenziale und den Zulauf zu den Veranstaltungen analysieren, Absperrungen festlegen, Personal-Anforderungen bundesweit herausgeben und Marschbefehle erstellen. Ein Kraftakt, der nun möglicherweise jede Woche zu bewältigen ist, um das Versammlungsrecht zu gewährleisten, sagt Merbitz.


Legida bewegt sich in Richtung Hauptbahnhof. Der Polizeipräsident läuft brenzlige Punkte ab: Goethestraße, Grimmaischer Steinweg. Auf dem Weg passen ihn einige Legida-Anhänger ab, belagern und beschimpfen den 58-jährigen Familienvater. Der Polizeichef bleibt äußerlich gelassen, lässt sich auf keine Diskussionen ein. Ein ergrauter Mann will eine Eingabe schreiben, andere Legidisten halten ihm Plakate mit Parolen vor das Gesicht. Merbitz hält das alles aus, weicht nicht. Zu diesem Zeitpunkt weiß er bereits, dass am Hauptbahnhof eine Gruppe von Gegendemonstranten versucht, Legida aufzuhalten - die Polizei muss den Durchbruch verhindern. Selbst jetzt lässt sich Leipzigs oberster Polizist nichts anmerken. Erst als der letzte "Abendspazierer" vorüber ist, geht er zum Gewandhaus, wo Wasserwerfer bedrohlich aufgereiht sind, inspiziert den Roßplatz. Legida marschiert nahezu reibungslos, begleitet von lauten Protesten. Auf den Straßen bleibt es weitgehend friedlich.


Gegen 21 Uhr sitzt Merbitz im Präsidium - erste Auswertung im Einsatzstab: "Insgesamt ist es gut gelaufen." Über Funk wird der Brandanschlag auf ein Auto am Grassi-Museum gemeldet. Merbitz presst die Lippen aufeinander. "Das wird noch eine lange Nacht. Ich werde der Letzte sein, der wahrscheinlich erst morgen Früh hier rausgeht."

 


 

Schulen machen früher Schluss


Ausnahmezustand gestern Mittag auch in einigen Leipziger Schulen - speziell in denen, die in City-Nähe beheimatet sind und/oder deren Schüler auf dem Weg nach Hause über den Ring und durch die Innenstadt müssen. In diesen Bildungseinrichtungen endete der Unterricht vorfristig. Das Anton-Philipp-Reclam-Gymnasium beispielsweise schickte seine jungen Leute zwei Stunden früher gen Heimat. Die Bildungsagentur-Dependance in Leipzig hatte den Schulen der Stadt einen Ermessensspielraum zugestanden. "Ansonsten hätte die Gefahr bestanden, dass Schüler wegen des ab dem Nachmittag lahm gelegten öffentlichen Personennahverkehrs nicht rechtzeitig nach Hause kommen", sagte Bildungsagentursprecher Roman Schulz auf Anfrage.
Das Abendgymnasium in Czermaks Garten sagte seine Veranstaltungen laut Schulz gestern sogar ganz ab. dom

 


 

Tag der verschlossenen Türen 

 

Verschärfte Kontrollen im Hauptbahnhof


Von VICTORIA gRAUL
Irritiert blickten Reisende gestern auf versperrte Eingangstüren des Leipziger Hauptbahnhofes. Wegen den Demonstrationen blieben die Ausgänge der Ost- und Westhalle gesperrt. Reisende mussten die Seitenausgänge nutzen. Sicherheitskräfte zeigten sich zeitweise entgegenkommend, öffneten die Türen der Hauptausgänge. "Ich hatte Angst, dass ich nicht mehr reinkomme und den Weg nicht mehr schaffe. Alles hat bisher reibungslos funktioniert", sagte Steffen Ebermann (34), der nach Zittau unterwegs war. Für Jessica Fuchs (28) war der Reisetag weniger entspannt: "Ich finde es chaotisch. Die Straßenbahn fährt nicht und so muss ich jetzt auf den Zug umsteigen."


Am Hauptbahnhof herrschte am frühen Nachmittag reges Getümmel. Da fuhren die meisten Züge noch planmäßig. Besonders groß war da der Andrang in den City-Tunnel-Stationen, da es Einschränkungen im Nahverkehr gab. Bundespolizei und Mitarbeiter des Bahn-Sicherheitsdienstes waren verstärkt im Bahnhof sowie an den Tunnel-Haltepunkten im Einsatz. "Ich fühle mich sicher. Hier drinnen bekommt man eh nicht viel von den Demonstrationen mit," sagte Nicole Eisele, Mitarbeiterin eines Obst- und Gemüseladens. Die 32-Jährige gehörte zu den wenigen Verkäuferinnen, die am Nachmittag in den Promenaden Hauptbahnhof ihrer Arbeit nachgingen. 80 bis 90 Prozent der Geschäfte hatten ab Nachmittag geschlossen. "Wir stehen im engen Kontakt mit den Händlern und der Polizei. Dennoch können die Händler im eigenen Interesse entscheiden, ob sie ihre Läden öffnen oder schließen," erläuterte Stefan Knorr vom Center-Management.


Verkäuferin Sophie Trettner (26), Mitarbeiterin in einem Textil-Shop, blickte zu diesem Zeitpunkt gespannt auf den zu erwartenden Verkaufstag. "Falls es brenzlig wird, machen wir halt zu."

 


 

Kliniken waren gerüstet


Uniklinikum und das Klinikum St. Georg waren auf Verletzte aus den Demos vorbereitet. So war am Abend etwas mehr Personal als üblich im Einsatz, ein zusätzlicher Rufdienst für Ärzte und Pflegepersonal stand bereit, "um im Bedarfsfall schnell reagieren zu können", sagte André Gries von der zentralen Notfallaufnahme der Uniklinik. Alle Mitarbeiter seien auf ein erhöhtes Patienten-Aufkommen vorbereitet worden, sagte auch St.-Georg-Sprecher Martin Schmalz. A. Rau.

 


 

"Hoffentlich geht das nicht jede Woche so" 

 

Busse und Bahnen ausgebremst / LVB ab 14 Uhr mit vielen Umleitungen / Strom auf Ring abgestellt


Von Josephine heinze
Umleitungen, Verspätungen, Einschränkungen für alle Straßenbahn- und Buslinien der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB): Gestern kurz nach Mittag war zunächst nur klar, dass an diesem Mittwoch nichts so sein würde wie an einem normalen Werktag. "Wir wissen momentan nicht, wann die Polizei den Straßenbahnverkehr auf dem Innenstadtring unterbindet", erklärt Marc Backhaus, Sprecher der LVB, gegen 13.45 Uhr. Nur wenige Minuten später geht dann schon nichts mehr. Weder Autos noch Trams noch Busse fahren - und dieser Ausnahmezustand gilt mindestens acht Stunden lang. "Die Polizei hat angeordnet, dass der Strom auf dem Ring abgestellt wird", so Backhaus. Für die Verkehrsbetriebe heißt das: Ausweichen auf ein Umleitungskonzept.


Währenddessen warten auf der Karl-Liebknecht-Straße einige Leipziger vergeblich auf den ÖPNV. Zwar pendeln die meisten Bahnen zwischen einzelnen Stationen, zahlreiche Haltestellen werden jedoch gar nicht bedient. Doch der Ärger hält sich in Grenzen. "Es war ja damit zu rechnen, dass so was kommt", erklärt eine Passantin und zuckt mit den Schultern. Für einen Mittwochnachmittag sind ohnehin wenig Menschen unterwegs. "Ich finde es in Ordnung, für mehr Sicherheit zu Fuß zu gehen. Außerdem kann man ja auf die S-Bahn umsteigen", sagt ein Student, der aus der Innenstadt in den Süden will. Auch Backhaus bestätigt: "Die S-Bahn-Eingänge werden von der Bundespolizei kontrolliert, aber die Züge fahren."


Wegen der Sperrungen enden zahlreiche Straßenbahnen am Waldplatz - fast alle von ihnen fahren schlicht als Linie E. "Ich weiß gar nicht, welche Bahn ich nun nehmen soll, um nach Hause zu kommen", sagt eine Rentnerin. "Für uns ältere Leute ohne Internet auf dem Handy ist das alles unübersichtlich."


Am westlichen Rand der City rollen alle fünf Minuten Bahnen, die voll sind, aber nicht überfüllt. Nur ein paar Leute ärgern sich, als es an der Waldstraße nicht weitergeht. "Mir sind die Hände gebunden", versucht sich der Fahrer der Tram zu erklären. Probleme haben derweil auch die Busse: Durch das hohe Verkehrsaufkommen fahren sie am späten Nachmittag mit bis zu 30 Minuten Verspätung.


Obwohl sich viele mit den Einschränkungen arrangiert haben, wird ein Tenor deutlich: "Hoffentlich geht das jetzt nicht jede Woche so."