Leipzig. "Stille Nacht, heilige Nacht." So war es in den vergangenen Tagen vielerorten zu hören. Das ganze Gegenteil spielte sich kurz vor dem Fest des Friedens in Plagwitz ab. Ziemlich unheilig wurde mitten in der Nacht eine junge Tschetschenin - nach Aussagen von Zeugen gewaltsam - abgeschoben. Die vor gut zwei Jahren gegründete Bürgerinitiative (BI) Offene Nachbarschaft Leipzig-Südwest für Flüchtlinge hat sich nach diesem Vorfall mit einem offenen Brief an die Sächsische Staatsregierung in persona von Ministerpräsident Stanislaw Tillich und Innenminister Markus Ulbig sowie an die Stadt Leipzig gewandt.
"Direkt in unserer Nachbarschaft wurde aus der Asylsuchenden-Unterkunft
in der Markranstädter Straße 16/18 eine junge Frau gewaltsam ihrer
vertrauten Umgebung entrissen", berichtet BI-Sprecherin Julia Eckert.
Mitten in der Nacht zwischen 3 und 4 Uhr sei sie von ihrer Familie
getrennt sowie unangekündigt und vollkommen unerwartet abgeschoben
worden.
Junge Frau geriet wegen Trennung von Familie in Panik
"Tamara S.* war erst 18 Jahre alt. Sie engagierte sich in ihrem Umfeld,
übersetzte für andere mit geringeren Deutschkenntnissen, wollte nach
ihrem Schulabschluss eine Ausbildung zur Krankenpflegehelferin
beginnen", erzählt Eckert. Doch das Drama nahm seinen Lauf: Angesichts
der plötzlich bevorstehenden Trennung von ihren Eltern und ihren zwei
Brüdern sei Tamara in jener Nacht in Panik geraten, versuchte, sich aus
dem Fenster zu stürzen und Suizid zu begehen.
Feuerwehr und
Rettungsdienst wurden gerufen und stellten auf der Straße ein Sprungtuch
auf. Die zu Hilfe eilenden anderen Bewohner ließ die Polizei nicht
durch. "Tamaras Mutter flehte die Polizei an, sie auch mitzunehmen, aber
ohne Erfolg. Die Tochter wurde von der Polizei in ein Fahrzeug
gezwungen und noch am selben Tag den polnischen Behörden übergeben", so
die BI-Sprecherin. Wohl um die 20 Minuten hatte die junge Tschetschenin
Zeit, einen 20-Kilo-Koffer zu packen. Dies ist in der Regel immer so.
Bürgerinitiative kritisiert hartes Vorgehen der Polizei
Zuvor waren laut Zeugen sämtliche Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft
von der Polizei wach geklingelt und "durch lautes aggressives Auftreten
verschreckt" worden. Angst breitete sich aus. "Seit jener Nacht finden
viele keinen Schlaf mehr", sagt Eckert. Die Polizei habe mit dieser
rohen Vorgehensweise eine Re-Traumatisierung der Geflüchteten
verursacht. "Wir erheben vehement Einspruch gegen einen solchen
gewaltsamen Akt gegen unsere Nachbarn, die wir kennengelernt und mit
denen wir den Alltag im Kiez geteilt haben", so die junge Leipzigerin.
Als BI habe man sich zum Ziel gesetzt, die neuen Bewohner willkommen zu
heißen.
"Wir finden es sehr problematisch, dass sich unsere
Nachbarn der permanenten Bedrohung einer unfreiwilligen Abschiebung
ausgesetzt sehen - insbesondere im Winter und isoliert von ihren
Familienmitgliedern", erklärt Eckert. Es dürfe nicht sein, dass ein
18-jähriges Mädchen gewaltsam seiner Familie entrissen und alleine im
Winter in ein ihr vollkommen fremdes Umfeld abgeschoben wird. Der
Staatsregierung und der Stadt Leipzig sei deshalb ein Forderungskatalog
übergeben worden:
- Keine Abschiebungen im Winter - dies kann ohne richtige Unterkunft lebensbedrohlich werden!
- Keine Familientrennungen - die Famlie ist für viele nach Jahren auf der Flucht und der Perspektivlosigkeit der einzige Halt!
- Keine Abschiebungen mitten in der Nacht - Geflüchtete sind keine Kriminellen!
-
Keine gewaltsamen Methoden der Polizei, die zu einer
(Re-)Traumatisierung der Betroffenen und anderer im Haus Wohnender
führen!
Fabian: "Abschiebung hat mich traurig gemacht"
Eine erste Reaktion auf das Abschiebe-Drama erfolgte am Tag vor dem
Fest des Friedens aus dem Leipziger Rathaus: "Als ich von der
Abschiebung der jungen Frau erfahren habe, hat mich dies emotional sehr
aufgewühlt und traurig gemacht", erklärte Sozialbürgermeister Thomas
Fabian (SPD) auf LVZ-Anfrage. Nach allem, was er wisse, sei sie auf dem
besten Weg gewesen, in Leipzig anzukommen "und zu uns zu gehören". "Ich
unterstütze ganz klar die Forderungen dieser Bürgerinitiative", so
Fabian.
Epilog: Tamaras Familie ist der abgeschobenen Tochter
gen Osten hinterhergereist. Mittlerweile sitzen alle fünf
Familienmitglieder vereint in einem Zimmer in einem Abschiebelager in
Polen fest. Auf Antrag wird ihnen eine Stunde Ausgang am Tag in
Begleitung gewährt. Was weiterhin mit ihnen geschehen wird, ist bis dato
unbekannt. "Stille Nacht, heilige Nacht. Die der Welt Heil
gebracht."(*Name geändert)
Kirchliche Weihnachtskampagne: Leipziger Theologen starten Online-Petition gegen Winterabschiebungen im Freistaat
Keine Winterabschiebung in Sachsen: Asyl ist eine Frage der
Menschlichkeit! - unter diesem Motto haben Thomaskirchenpfarrerin Britta
Taddiken sowie der Arbeiterpriester und Schriftsteller Andreas Knapp
eine Weihnachtskampagne gestartet sowie eine Online-Petition auf der
Plattform "Open Petition" initiiert. Die Sächsische Landesregierung soll
damit aufgefordert werden, dem Beispiel von Schleswig-Holstein und
Thüringen zu folgen, auf Winterabschiebungen zu verzichten. Die
Initiative soll zivilgesellschaftlichen Druck für eine ausstehende
Entscheidungssitzung im Innenausschuss am 15. Januar mobilisieren. Das
einst CDU-regierte Thüringen hat beispielsweise seit dem Winter 2012/13
auf Abschiebungen in der kalten Jahreszeit verzichtet.
"Auch in
diesem Winter werden wieder Asylsuchende aus Sachsen eiskalt abgeschoben
- ohne Rücksicht auf die harten winterlichen Bedingungen ihrer
Herkunftsländer, in denen die Abgeschobenen keine behagliche
Weihnachtsstimmung erwartet. Besonders betroffen sind Roma aus dem
Westbalkan (Serbien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien)", so die
Initiatoren. Alarmierend sei diese Praxis auch deshalb, weil Sachsen den
traurigen Rekord hält, im Vergleich mit den anderen Bundesländern die
meisten Abschiebungen durchzuführen.
Unterstützung für die
Kampagne gibt es unter anderem von der katholischen Pfarrei St. Martin
in Grünau. "Wenn wir Roma in Slums abschieben, nehmen wir ihnen sehenden
Auges den Mantel weg", so Pfarrer Eberhard Thieme in Anspielung auf den
Namenspatron der Gemeinde.