Rodney Reed: wird Texas einen Unschuldigen hinrichten?

Rodney Reed, Death Row, Texas

Der Fall Rodney Reed – ein Dossier der Campaign to End the Death Penalty Rodney Reed soll am 14. Januar 2015 in Texas hingerichtet werden. Das Beweismaterial, das auf seine Unschuld im Fall des Mordes an Stacey Stites 1996 in Bastrop, Texas, hindeutet, wird im folgenden Artikel der ehemaligen Austin-Chronicle-Reporterin Jordan Smith in der Zeitung Intercept klar dargelegt.

 

Es folgt eine Übersetzung des Artikels, dessen Original sich hier befindet:

https://firstlook.org/theintercept/2014/11/17/is-texas-getting-ready-kill-innocent-man/

 

Übersetzung: Michael Schiffmann

 

Tatsächlich war es wahrscheinlich so, dass Stacey von ihrem damaligen Verlobten und örtlichen Polizeibeamten Jimmy Fennell Jr. getötet wurde. Fennell verbüßt derzeit eine Haftstrafe wegen sexueller Nötigung einer Frau, die sich in seinem Gewahrsam befand, während er Polizist im texanischen Georgetown war. Hier offenbart sein Opfer, Connie Lear, erstmals ihre Identität, um zugunsten Rodney Reeds auszusagen. Der Artikel weist außerdem auf mehrere Mitglieder der Familie von Stacey Sites hin, die ebenfalls der Ansicht sind, dass Rodney Reed unschuldig und Jimmy Fennell der wahre Mörder ihrer Angehörigen ist.

 

Wir bitten um weite Verbreitung dieses Artikels; weitere Informationen über den Fall und die gegenwärtige Situation finden sich unter hxxps://www.facebook.com/texasinjustice

 

Triggerwarnung: im Folgenden werden mehrfach schwere sexuelle Gewalttaten angesprochen werden, die  mit den Details des Falls zusammenhängen.

 

PlAnt TEXAS DEN Tod EINES UNSCHULDIGEN?

von Jordan Smith

The Intercept

https://firstlook.org/theintercept/2014/11/17/is-texas-getting-ready-kill-innocent-man/

 

Spät abends an einem Oktobertag im Jahr 2007 war die 20-jährige Connie Lear mit Freunden zusammen, mit denen sie trank und Karten spielte. Dabei sie erwischte ihren Verlobten, wie er und eine andere Frau sich unter dem Tisch gegenseitig mit den Füßen streichelten. Lear rannte aus dem Haus; ihr Verlobter folgte ihr auf einen Parkplatz, wo sie eine lautstarke Auseinandersetzung hatten. Nachbarn riefen die Polizei.

 

Unter den Polizisten, die am Schauplatz eintrafen, befand sich auch Jimmy Lewis Fennell Jr., ein 34 Jahre alter Polizeiobermeister, bei der Polizei von Georgetown in Texas. Andere Beamte legten Lears Verlobtem Handschellen an und nahmen ihn in Gewahrsam, so dass sie nun mit Fennell allein war. „Ich fragte, wo gehen die hin?“ erinnert sich Lear. „Und an dem Punkt brach ich in Tränen aus.“ Fennell versicherte ihr, ihr Verlobter sei nicht festgenommen, sondern man bringe ihn nur zur Ausnüchterung in ein Hotel in der Nähe. Aber „ich wütete weiter herum und schlug Krach“, sagt Lear heute, „und am Ende sagte Fennell, ‚Dann bringen wir Sie eben zu ihm.‘“

 

Aber sie gingen nicht in das Hotel. Stattdessen fuhr Fennell zu einem gut beleuchteten Freizeitpark. Sie stiegen aus dem Wagen, und Fennell schleuderte Lear gegen das Heck seines Streifenwagens und drückte sie nach unten. Er nahm seinen Dienstgürtel ab und legte ihn auf die Haube, wobei er ganz ruhig auf jede der Waffen und Utensilien hinwies, die er mit sich führte. „Dann nahm er seine Waffe, zog sie aus dem Gürtel … [und] legte sie auf den Kofferraum direkt neben meinen Kopf“, sagt sie. „Und er vergewaltigte mich.“

 

Als er fertig war, bedrohte Fennell sein Opfer: Sollte sie je wagen, über die Geschehnisse zu berichten, und sollte er je deshalb ins Gefängnis müssen, werde er sie nach seiner Entlassung erst finden und dann töten. Dann fuhr er Lear zurück zu ihrem Apartment-Komplex, wo er ihr seine Visitenkarte gab und ankündigte, er werde wiederkommen, um sie wieder zu treffen – und zwar schon am nächsten Abend, nach dem Fußballspiel seines Sohnes.

 

Lear war in Panik. Dennoch rief sie beim Notruf an und berichtete über den Vorfall. Aber noch bevor die Ambulanz eintraf, kehrte Fennell zusammen mit den anderen Beamten zurück. Sie rannte weg, aber sie holten sie ein, nahmen ihr ihr Telefon weg und zwangen sie, in einen Polizeiwagen einzusteigen. Dort, sagte sie später, habe man ihr befohlen, in die Kamera im Wagen zu sehen und zu behaupten, sie habe die Geschichte über Fennells Angriff erfunden. Das tat sie. Dann wurde sie wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit in Gefängnis gebracht.

 

Trotz seines Versuchs, sein Verbrechen zu vertuschen, wurde Fennell schließlich verhaftet und bekannte sich am Ende schuldig wegen Entführung und unzulässigen sexuellen Kontakts mit einer Person in Gewahrsam. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt und soll nach heutigem Stand im September 2018 entlassen werden. Lear reichte außerdem eine Zivilklage gegen Fennell und die Stadt Georgetown ein, bei der sich die Beteiligten auf eine Entschädigung von $ 100.000 einigten. Aber für sie hört die Geschichte dort nicht auf. Fennells Festnahme veranlasste mehrere andere Frauen, sich zu melden und von ähnlichen Drohungen und Angriffen zu berichten, darunter eine weitere Vergewaltigung. Diese Vorfälle waren entweder zuvor nicht gemeldet oder von den örtlichen Strafverfolgungsbehörden unter den Teppich gekehrt worden. Zusammengenommen ergab sich aus diesen Zwischenfällen ein Bild von Fennell als das eines gefährlichen Mannes, der seine Legitimation als Polizeibeamter straflos missbrauchte.

 

BEINAH EIN DUTZEND VERWANDTE UND FREUNDE VON STITES; VON DENEN VIELE SCHON SEIT JAHREN ZWEIFEL HINSICHTLICH DES FALLS HATTEN, BRECHEN JETZT IHR SCHWEIGEN UND FORDERN, REED NICHT HINZURICHTEN.

 

Unterdessen hielt Lear ihre Identität geheim, vor allem aus Angst vor Fennell und seinen Kollegen von der Polizei. Obwohl Lear ihre Geschichte dann doch anonym erzählte, beschloss sie kürzlich, es sei an der Zeit, sie ganz öffentlich zu machen, und sie legte gegenüber The Intercept das erste Mal ihre Identität offen. Sie tat das, weil sie glaubt, damit dazu beitragen zu können, die Wahrheit über ein entsetzliches und noch ernsteres Verbrechen an einer anderen Frau in Texas ans Licht zu bringen. Elf Jahre, bevor er Lear vergewaltigte und drohte, sie zu töten, wurde Fennells eigene Verlobte, die 19-jährige Stacey Sites, brutal ermordet am Rand einer Landstraße in Bastrop, Texas aufgefunden. Wegen dieses Verbrechens wurde ein Mann zum Tode verurteilt. Sein Name ist Rodney Reed – und er soll nächsten Januar sterben. Lear glaubt, wie viele Menschen in Texas, die den Fall verfolgt haben, dass Reed unschuldig ist. Und sie glauben, dass der wirkliche Mörder Jimmy Fennell ist.

 

Connie Lear ist nicht die einzige, die die jetzt, wo ein Hinrichtungsdatum angesetzt ist, an die Öffentlichkeit geht. Fast ein Dutzend Leute, die in Beziehung zu Stites standen und von denen viele seit Jahren Zweifel hinsichtlich dieses Falles geäußert hatten, brechen jetzt ebenfalls ihr Schweigen und fordern, dass Reed am Leben gelassen wird. Eine davon ist Stites Kusine, Judy Mitchell, die davon überzeugt ist, dass Fennell der wahre Mörder ist. „Ich weiß einfach, dass er [es] getan hat“, sagte sie The Intercept. „Wir müssen etwas tun, um diese Hinrichtung zu verhindern.“

 


Ein brutales Verbrechen und das Geheimnis einer Kleinstadt

 

Am 23. April 1996 kurz vor 3 Uhr nachmittags fand eine in Landvermesser, der auf der Suche nach Wildblumen war, Stacey Stiles Leiche am Straßenrand.

 

Neben der Straße bemerkte er ein Stück geflochtenen Gürtels. Einige Schritte weiter fand sich ein zusammengeknülltes weißes T-Shirt. Dahinter lag Stites Leiche, in der Hüfte verdreht, die Arme überm Kopf ausgestreckt. Sie trug einen schwarzen BH, aber kein Hemd. Ihre Hosen, deren Reißverschluss kaputt war, waren offen, so dass man ihren Slip sehen konnte, der merkwürdig nach oben gezogen war. Ihr Hals wies seilartige Druckstellen auf, dort, wo sie mit ihrem eigenen Gürtel erdrosselt worden war.

 

Stites war an jenem Morgen gegen 7 Uhr vermisst gemeldet worden, nachdem sie nicht zu ihrer um 3 Uhr 30 beginnenden Schicht als Auffüllerin in einem Lebensmittelgeschäft in Bastrop erschienen war. Der Pickup-Laster, mit dem sie angeblich an diesem Morgen das Haus verlassen hatte – ein roter Chevrolet, der Fennell gehörte – wurde auf dem Parkplatz einer High School etwa zehn Meilen von ihrer Leiche entfernt aufgefunden.

 

Stites hatte erst kurz zuvor begonnen, in der Frühschicht zu arbeiten, offenbar, um etwas zusätzliches Geld zur Finanzierung ihrer bevorstehenden Hochzeit mit Fennell zu verdienen. Das Paar lebte in einer Wohnung über dem Apartment von Stites Mutter, Carol, in der nahe gelegenen Stadt Giddings, wo Fennell gerade als Polizist angefangen hatte. Carol bezeugte 1998, als sie von Stites Arbeitskollegin erfahren habe, dass ihre Tochter nicht zur Arbeit gekommen war, habe sie Fennell angerufen, der in der Wohnung über ihr zu Hause war, und dieser habe sich rasch auf den Weg gemacht, um nach ihr zu suchen. Carol sagte ebenfalls aus, Fennell habe vorgehabt, ihre Tochter an diesem Tag zur Arbeit zu fahren. Aber Fennell sagte der Polizei, Stites sei selbst in seinem Wagen gefahren, und er habe noch geschlafen, als sie das Haus verließ.

 

Es war diese Behauptung Fennells,  Stites sei morgens gegen 3 Uhr allein zur Arbeit gefahren, die am Ende die offizielle Chronik des Verbrechens und den Verlauf der Ermittlungen bestimmte. Die Ermittler fragten nie nach einem detaillierten Nachweis über die Aktivitäten des Paars am Tag vor Stites Verschwinden. Noch merkwürdiger war, dass sie sich nicht die Mühe machten, die Wohnung des Paars zu durchsuchen, obwohl sie ja offensichtlich der letzte Ort war, an dem Stites lebend gesehen worden waren. Der rote Chevrolet wurde weniger als eine Woche nach dem Mord an Fennell zurückgegeben. Er verkaufte ihn unmittelbar danach.

 

Fennell konnte nicht beweisen, wo er in den frühen Morgenstunden des  23. April gewesen war. Die Kriminalbeamten unterzogen Fennell zwei separaten Lügendetektor-Tests, und seine Antworten enthielten dem Gerät zufolge beide Male Lügen – so auch bei der Antwort auf die direkte Frage, ob er Stites erwürgt hatte. Und doch schlossen die Ermittler – darunter Beamte aus einem unmittelbaren Nachbarbezirk – ihren Kollegen am Ende als Verdächtigen aus, und das Verbrechen blieb beinah ein Jahr lang ungelöst.

 

Aber schließlich wandte sich ihre Aufmerksamkeit einem 29 Jahre alten Schwarzen namens Rodney Reed zu. Reed war einer Reihe von Sexualverbrechen bezichtigt worden. In einem davon wurde er angeklagt, aber am Ende freigesprochen. Einer Vermutung folgend, verglich die Polizei im April 1996 DNA von in Stites Vagina gefundenem Samen mit DNA, die in einem anderen Fall sichergestellt worden war, in dem man Reed des Angriffs auf eine Frau bezichtigt hatte. Die Proben stimmten überein.

 

Mehr als die DNA benötigte die Anklage nicht. Danach wurde die Theorie über die Ereignisse rasch – wenn auch auf unlogische Art – zusammengebastelt. Irgendwann nach 3 Uhr morgens, so die Behörden, überholte Reed (der laut Anklage allein und zu Fuß unterwegs war) Stites, die gerade zur Arbeit fuhr und dazu Fennels Pickup benutzte. Er entführte, vergewaltigte und erdrosselte sie, und dann warf er ihre Leiche an den Straßenrand. Danach ließ er den Pickup auf dem Schulparkplatz zurück und rannte zu der Wohnung in der Nähe, die er sich mit seinen Eltern teilte, ohne eine auf ihn verweisende physische Spur zurückzulassen – bis auf seinen Samen.

 

Diese Version der Anklage klang zwar weit hergeholt, aber andererseits weigerte Reed sich zu Beginn zu erklären, wieso seine DNA im Körper von Stites gefunden wurde. Von der Polizei befragt, betritt er, Stites abgesehen von „dem, was in den Nachrichten kam“, überhaupt zu kennen. Aber als sein Fall im Mai 1998 vor Gericht kam, hatte Reed bereits zugegeben, dass das gelogen war: Er hatte Stites gekannt. Tatsächlich, so sagt er nun, hatte er eine Affäre mit ihr und danach nur Angst gehabt, das zuzugeben. In einer südlichen Kleinstadt wie Bastrop war eine Affäre zwischen einem Schwarzen und einer mit einem weißen Polizeibeamten verlobten jungen weißen Frau nicht nur ein potentieller Skandal, sondern konnte auch sehr gefährlich werden, wenn sie herauskam.

 


IN EINER SÜDLICHEN KLEINSTADT WIE BASTROP KONNTE EINE AFFÄRE ZWISCHEN EINEM SCHWARZEN UND EINER MIT EINEM POLIZEIBEAMTEN VERLOBTEN JUNGEN WEISSEN FRAU … SEHR GEFÄHRLICH WERDEN, WENN SIE HERAUSKAM.

 

Reeds Verteidigung bei seinem Verfahren besagte, der in Stites Vagina gefundene Samen sei das Ergebnis einer längeren, verbotenen, geheimen und freiwilligen sexuellen Beziehung gewesen. Die letzte Begegnung des Pärchens habe fast zwei Tage vor Auffindung der ermordeten Stites stattgefunden, so Reed. Während das wie eine bequeme, aber absurde Behauptung klingen könnte, die nur erfunden wurde, um die Präsenz von Reeds DNA zu erklären, haben zahlreiche Zeugen bestätigt, auch sie hätten von der Beziehung gewusst. So sagten ein ortsansässiger Kautionsagent, ein Barbesitzer und ein Nachbar der Reed-Familie allesamt, sie hätten das Paar an verschiedenen Orten der kleinen Stadt gesehen. Außerdem gab es da noch Reeds Freunde und Verwandte, die ganz ähnlich behaupteten, sie hätten Stites und Reed zusammen gesehen und ihr liebevolles Verhalten zueinander beobachtet. Aber diese Beobachtungen waren der einzige Beweis für die Affäre, und es gab nichts Konkreteres zu ihrer Unterstützung – wie zum Beispiel Akten über Telefonverbindungen, denn die Reed-Familie hatte damals kein Telefon.

 

Außer dem Barbesitzer und einem Freund der Familie Reed lud die Verteidigung keinen der anderen Zeugen vor Gericht. Einer seiner vom Gericht bestellten Verteidiger sagte später, das sei in der Absicht geschehen, scharfe Kreuzverhöre zu vermeiden, die ihre Voreingenommenheit oder andere Komplikationen wie zum Beispiel diverse Gesetzesverstöße hätten zum Vorschein bringen können.

 

Unter denen, die bereit waren, auszusagen, war ein Vetter Reeds namens Chris Aldridge. Dieser hatte nicht nur Reed und Stites zusammen gesehen, sondern lieferte Reed auch noch ein Alibi für die frühen Morgenstunden des 23. April. Er und Reed, so Aldridge in einer eiddesstattlichen Erklärung von 2000, hätten sich an jenem Tag bis fast 5 Uhr morgens auf einem Parkplatz in der Nähe des Hauses der Reeds herumgetrieben und seien später gemeinsam zur Arbeit gegangen. Aldridge sagte außerdem, Jimmy Fennell habe die Affäre zwischen Reed und seiner Verlobten herausgefunden. In einer weiteren eidesstattlichen Erklärung von 1999 berichtete er über eine Begebenheit von Anfang 1996, bei der er und Reed die Straße heruntergegangen und von einem Streifenwagen des Scherriff-Büros von Bastrop County angehalten worden seien. In dem Wagen hätten sich zwei Männer befunden, von denen einer der in Zivil gekleidete Fennell gewesen sei. „Fennell sagte Rodney, er wisse über ihn und Stites Bescheid, und Rodney werde dafür bezahlen“, erinnerte sich Aldridge. Dieser Bericht wurde von einem anderen Mann, James Robertson, bestätigt, der in einer eidesstattlichen Erklärung von 2000 aussagte, er habe Aldridge und Reed am selben Tag zufällig getroffen, und sie hätten ihm diverse Einzelheiten ihrer vorigen Begegnung berichtet. „Jimmy Fennell … hatte zusammen mit einem anderen Beamten angehalten und Rodney bedroht“, so Robertson. „Er sagte, wer wisse von Rodney und Staceys Beziehung, und dafür würde Rodney noch irgendwie zahlen.“ Bei Reeds Verfahren stritt er ab, Reed vor der Ermordung Stites gekannt zu haben.

 

Aber selbst wenn Reeds Anwälte sämtliche verfügbaren Zeugen vorgeladen hätten, steht nicht fest, ob das die Jury überzeugt hätte. Beim Prozess bezeugte der Gerichtsmediziner von Travis County, Roberto Bayardo, der in Stites Vagina gefundene Samen sei erst „vor ganz kurzem“ dorthin gelangt, und die Aussage eines Tatort-Analysten besagte, der Samen sei zum Zeitpunkt von Stites Tod nicht älter als 26 Stunden gewesen, da die Spermien noch Köpfe und Schwänze besessen hätten. Bayardo sagte außerdem aus, Stites sei wahrscheinlich um den Todeszeitpunkt herum, der auf ungefähr 3 Uhr morgens geschätzt wurde, sodomisiert worden. Das stand in klarem Widerspruch zu Reeds Aussage, laut der sein letzter Sexualverkehr mit Sites am 21. April stattfand. Obwohl es schon damals viele wissenschaftliche Beweise dafür gab, dass Sperma in der Vagina länger als 26 Stunden intakt bleiben kann, luden Reeds Verteidiger keinen eigenen medizinischen Experten vor, und so blieben die Aussagen Bayardos und des staatlichen Tatort-Ermittlers unwidersprochen.

 

Dass Reeds Verteidiger auf die Anklage nicht mit einem robusten Gegenangriff antworteten, war eigentlich keine Überraschung. Seine  vom Gericht ernannten Anwälte hatten dem Verfahrensrichter vor Beginn, der Geschworenenauswahl Ende März 1998 wiederholt gesagt, sie seien noch nicht ausreichend auf den Prozess vorbereitet. Tatsächlich zeigen die Abrechnungen, dass keiner der beiden Anwälte Reeds bis ungefähr eine Woche vor Beginn der Wahl der Jury mehr als 40 Stunden an dem Fall gearbeitet hatte. Dennoch wies der Richter ihren Antrag auf einen Aufschub ab.

 

Nach einem zweiwöchigen Verfahren sprach die Jury, von der kein einziges Mitglied schwarz war, Reed schuldig.

 

Darauf folgte eine Phase der Strafzumessung. In ihrer Argumentation für die Todesstrafe riefen die Ankläger eine Reihe von Zeuginnen auf, die angaben, sie seien von Reed sexuell genötigt oder sonstwie angegriffen worden. Während Reed in keinem dieser Fälle je verurteilt worden war, erlaubt der Staat Texas, dass solche unbestätigten Anschuldigungen einer Jury in einem Todesstrafenfall vorgetragen werden. Reeds Verhalten habe ihn schon seit langem auf Konfrontationskurs mit dem System des Strafgesetzes gebracht, erklärte der Staatsanwalt den Geschworenen. „Es war unvermeidlich, dass er irgendwann hier landen würde.“

 

Am 29. Mai 1998 wurde Reed zum Tod verurteilt.


 

Die gewalttätige Vergangenheit eines Polizisten

 

Seit 18 Jahren hat Reed immer auf seiner Unschuld bestanden. Seine Angehörigen haben ebenso wie örtliche Aktivisten behaupten beharrlich, der Verdacht gegen Fennell sei nie ausreichend untersucht worden.

 

Die Ermittler entgegnen dem, es sei schwerlich vorstellbar, dass Fennell erst die 22 Meilen von Giddings bis zu der Stelle, an der Stites Leiche abgeworfen wurde, gefahren sei und noch einmal weitere 10 Meilen bis zur Bastrop High School zurückgelegt habe, wo der Pickup abgestellt wurde, um dann die 30 Meilen zurück nach Giddings zu laufen, wo er um 6 Uhr 45 den Anruf Carols entgegennahm, in dem sie berichtete, Stites werde vermisst. Der Pickup wurde bereits um 5 Uhr 30 von einem Polizisten aus Bastrop gesichtet, der bei seiner frühmorgendlichen Routinepatrouille am Parkplatz der Schule vorbei gekommen war. „Logistisch gesehen“, so der Schluss des polizeilichen Hauptermittlers Lynn „Rocky“ Wardlow, „war das gar nicht möglich“.[1]

 


SEIT 18 JAHREN HAT REED immer auf seiner UNSCHULD BESTANDEN 

 

Aber es war dieser selbe Wardlow, der die Entscheidung traf, in der Wohnung von Fennell und Stites nicht nach Beweisen zu suchen, ungeachtet der Tatsache, dass Stacey den Aussagen zufolge dort zuletzt lebend gesehen wurde. Und das war nur eine fragwürdige Entscheidung inmitten zahlloser anderer Fragen, die seine Ermittlung aufwarf. So haben die Unterstützer Reeds seit langem Zweifel an der Behandlung des Tatorts durch die Behörden geäußert und nicht nur behauptet, dass die anwesenden Beamten das Beweismaterial falsch gehandhabt und möglichweise kontaminiert hätten, sondern auch, dass die Anklage wissenschaftliche Beweise unterdrückt habe, die nicht zur ihrer Theorie des Tathergangs passten.

 

Insbesondere fanden sich an zwei leeren Bierdosen in der Nähe von Stites Leiche, die auf DNA untersucht wurden, Spuren, die eine potentielle Übereinstimmung mit dem Polizeibeamten David Hall aus Giddings aufwiesen – einem Kollegen, guten Freund und Nachbarn Fennells. Aber diese Information in einem Bericht des texanischen Ministeriums für Öffentliche Sicherheit vom 13. Mai – als der Prozess gegen Reed in vollem Gange war – wurde der Verteidigung Reeds nie mitgeteilt. Bei einer Anhörung über das die Bierdosen betreffende Beweismaterial 2001 stritt Hall ab, irgendetwas mit dem Tod von Stites zu tun zu haben.

 

Die Unterstützer Reeds insistieren seit vielen Jahren darauf, die Bierdosen seien Beweismaterial dafür, dass andere Polizeibeamte entweder Komplizen beim Mord an Stites waren oder dabei halfen, den wahren Hergang zu verschleiern. Polizei- und Gerichtsakten, die The Intercept einsehen konnte, zeigen, dass Fennell auf eine lange Geschichte von Vorwürfen wegen sexuellen Fehlverhaltens und Gewalttätigkeit im Dienst zurückblickt, und dass dieses Verhalten zeitweise von anderen Beamten begünstigt wurde – entweder direkt, wie im Fall Connie Lears, oder durch Verschweigen, das heißt, Ignorieren oder summarische Zurückweisung der Beschuldigungen. Mindestens drei dieser mutmaßlichen Vorfälle von Fehlverhalten ereigneten sich noch vor Reeds Prozess. In einem der Fälle behauptete eine Frau namens Wendy Wallace, Fennell sei ihr durch ganz Giddings gefolgt, und danach habe sie mitten in der Nacht einen bizarren Anruf von einer Polizeizentrale erhalten, in dem sie aufgefordert wurde, aus ihrem Haus zu kommen, um dort mit Fennells Freund und Kollegen Hall zusammenzutreffen.

 

In einer zweiten Episode nur zwei Monate vor dem Mord an Stites inszenierten Fennell und ein weiterer Polizist aus Giddings eine Treibjagd auf einen Mann namens Mario Murillo. In einer Zivilklage, über die es später eine Einigung gab, behauptete Murillo, die beiden Beamten hätten ihn schon zuvor schikaniert und ihm gedroht, „ihn zu schlagen und festzunehmen, wann immer sie ihn treffen“. Am fraglichen Tag, so Murillo, schlugen die beiden Polizisten ihn, und Fennell hielt ihm eine Waffe an den Kopf. Der Scherriff des Countys musste gerufen werden, um die Situation zu beruhigen.

 

Die dritte Episode ereignete sich nach Stites Tod. Eine Frau namens Pam Duncan, die nur drei Monate nach dem Mord an Stites begann, sich mit Fennell zu treffen, beschwerte sich bei der Polizei, nachdem sie versucht habe, die Beziehung abzubrechen, habe er begonnen, ihr obsessiv nachzustellen und sie zu bedrohen. Fennell sei in der Zeit, während der sie sich trafen, „besitzergreifend und eifersüchtig“ gewesen, sagte sie in einer eidesstattlichen Erklärung, und er drangsalierte Männer, von denen er meinte, sie „flirteten“ mit ihr. Nach ihrer Trennung habe er sie „monatelang gestalkt“ und sei „Nacht für Nacht“ an ihrer Wohnung vorbeigefahren und habe mit einem Scheinwerfer durch die Fenster geleuchtet, oder vorm Haus gestanden, sie angeschrien und „als ‚Hure‘ beschimpft“ oder mit anderen Schimpfnamen belegt. Sie hatte solche Angst, dass sie schließlich einen Bericht an die Polizei verfasste, woraufhin „ein anderer Beamter vorbeikam und mir versicherte, sie würden dafür sorgen, dass er mich in Ruhe lässt“. Doch als eine  Freundin später zur Polizeistation ging, um sich den Bericht zeigen zu lassen, „konnten sie ihn angeblich nicht finden“, so Duncan.

 

Diese und andere Vorfälle wurden Reeds Prozessanwälten weder mitgeteilt noch anderweitig von ihnen aufgedeckt. So konnte die Staatsanwaltschaft Fennell als stoischen, über den Verlust seiner Braut erschütterten Staatsdiener darstellen, ein Bild, das praktisch nie in Frage gestellt wurde. Selbst als Reeds eigene Zusammenstöße mit dem Gesetz ins Spiel gebracht wurden, um ein Todesurteil gegen ihn zu erreichen, blieben die dokumentierten Gewalttaten Fennells unerwähnt.

 

Tatsächlich gab es – auch wenn wenig darauf hindeutet, dass die Polizei oder Reeds Verteidiger viel taten, um diese Spur zu verfolgen – Hinweise, dass es in der Beziehung zwischen Fennell und Stites nicht zum Besten stand – und dass Fennell sich keine Mühe gab, seine Eifersucht und Paranoia zu verbergen. Ein besonders belastender Bericht kam von einem Polizeibeamten aus der Region Dallas, nachdem Reed schon verurteilt war. Dieser Beamte sagte, Fennell habe während eines Polizeikurses über Tatortermittlungen 1995 geäußert, wenn er je mitbekommen würde, dass seine Freundin ihn betrügt, werde er sie erwürgen – und dabei einen Gürtel benützen, um keine Fingerabdrücke auf ihrem Hals zu hinterlassen. Beim Prozess gegen Reed bestritt Fennell natürlich, Stites getötet zu haben.

 

Reeds Anwälte haben einige der gegen Fennell erhobenen Beschuldigungen in ihren Anträgen auf Staats- und Bundesebene erwähnt. Aber die Gerichte zeigten sich unbeeindruckt und befanden die Zeugen der Verteidigung wiederholt für unglaubwürdig. In Bezug auf das Beweismaterial zu Fennell kam das höchste Strafgericht in Texas 2009 zu dem Schluss, dass „diese Informationen, außer dass sie zeigen, dass Fennell sich als Beamter auf verächtliche und abstoßende Art verhalten hat, … Reed bezüglich des Mordes an Stacey nicht entlasten“. Die in Stites Körper vorgefundene DNA bringt trotz allem Reed mit ihrem Tod in Verbindung, so die Gerichte.

 

Aber 2012 meldete sich der Mediziner Bayardo zurück und stellte diese Verbindung in Frage. In einer für das Gericht bestimmten Erklärung sagte Bayardo, derselbe Gerichtsmediziner, der beim Prozess gegen Reed Zeuge der Anklage war, es sei falsch gewesen anzunehmen, dass „Spermien in der Vagina nicht länger“ als 26 Stunden intakt bleiben können. Die Tatsache, dass er dort „sehr wenig“ Sperma vorfand, deute darauf hin, dass sie sich schon längere Zeit dort befunden hätten. Außerdem sagte er, er sehe zwar immer noch Hinweise  darauf, dass Stites sodomisiert wurde, glaube aber jetzt, ihre Verletzungen seien „eher vereinbar mit der Penetration durch ein stabartiges Instrument wie zum Beispiel einen Polizeiknüppel“.

 

All dessen ungeachtet haben sich die texanischen und Bundesgerichte nicht bewegt und bis heute keine Beweisanhörung für dieses neue medizinische Beweismaterial gewährt. Im Juli 2014 haben acht ehemalige Staats- und Bundesrichter einen Begleitantrag an den US Supreme Court gerichtet, in dem sie das Gericht dazu aufforderten, eine Beweisanhörung über das wissenschaftliche Beweismaterial anzuordnen – eine Anhörung, zu der das Fünfte Bundesberufungsgericht lediglich auf Basis der kalten Aktenlage in diesem Fall entschieden hatte, sie sei überflüssig. „Das ist nicht die Art, wie unser Justizsystem eigentlich geplant war“, schrieben die Ex-Richter.

 

Am 3. November lehnte der Supreme Court den Antrag für Reed [2] kommentarlos ab.

 

Im Juli 2014 wurde Reeds Hinrichtungsdatum auf den 14. Januar 2015 festgesetzt. Im Augenblick kämpft sein Anwalt, Bryce Benjet, der mit dem Innocence Project zusammenarbeitet, darum, DNA-Tests zu wichtigen Beweisstücken durchzusetzen – darunter der Gürtel, der zur Erdrosselung von Stites benutzt  wurde, und ihr zerrissener Slip, von dem einige Teile nie getestet wurden. Aber die Staatsanwaltschaft kämpft gegen all diese Bemühungen und beruft sich dabei auf zahlreiche verfahrenstechnische Beschränkungen.

 

„Offen gesagt denke ich, dass das was  wir hier verlangen, ziemlich wenig ist“, sagt Benjet. „Wir wollen DNA-Prüfung von Beweismaterialien, bevor jemand hingerichtet wird.“ Die Anhörung zur Entscheidung über diesen Antrag ist für den 25. November angesetzt.[3]

 

Etliche von Stites Angehörigen hoffen auf Annahme des Antrags. Ihrer Kusine Judy zufolge haben sie und weitere Familienmitglieder lange gehofft, dass die Justiz die Probleme in diesem Fall erkennt und behebt. Weil sie  nicht zur Kernfamilie gehören, wollten sie nicht selbst im Rampenlicht stehen. Aber da das Hinrichtungsdatum naht, verfasst sie derzeit einen Sammelbrief an den scheidenden Gouverneur Rick Perry, um Reeds Hinrichtung zu verhindern. „Wir müssen aktiv werden und sagen, hier gibt es zu viele Fragen, um einen Mann hinzurichten, bevor sie beantwortet sind“, meint Judy. „Ich glaube, dass Jimmy Fennell schuldig ist und kann [nicht länger] guten Gewissens“ schweigen.

 

Connie Lear ist ebenfalls dieser Meinung. Nach Jahren, in denen sie zu vergessen suchte, was ihr zugestoßen war, sagt sie jetzt, die Verkündung des Hinrichtungsdatums habe ihr klargemacht, dass sie keine Wahl habe. Durch ihr Schweigern könne sie zur Komplizin bei einem tragischen Justizirrtum werden. „Es gibt nicht genügend Beweise, die zeigen, dass Reed es war“, sagt sie nun. „Ich glaube, sie wollen einen Unschuldigen töten – ja, das glaube ich wirklich.“

 

„Sie wollen ihn umbringen“, fügt sie hinzu. „Es hinter sich bringen und all das für immer begraben.“

 

Lear gesteht zu, dass sie keine direkten Beweise dafür hat, dass Fennell der Mann ist, der Stacey Stites getötet hat. Aber sie kennt eine Seite von ihm, von der seine Verteidiger – und die Geschworenen bei Reeds Verfahren – nichts wissen. „Die sitzen alle da und meinen, Fennell hat sie nicht getötet“, sagt sie, „und doch hat er gedroht, mich zu töten. Die Leute sagen, ‚Oh, das wird er nicht machen.‘ Aber ich sage, und was, wenn doch?‘“

 

Übersetzung: Michael Schiffmann

 

E-Mail der Autorin: jordan.smith@theintercept.com   *   Fotos 1, 2, 3, 5: Jana Birchum.

                                                                                                                                                   

SAVE RODNEY REED !

 

STOP THE EXECUTION!



[1] Zu den Lücken in dieser Argumentation s. „State vs. Reed“, https://www.youtube.com/watch?v=LLTcV664IgU. A.d.Ü.

[3] Der Antrag wurde abgelehnt. A.d.Ü.

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Der texanische Todestraktgefangene Scott Panetti hat ein Hinrichtungsdatum für den 3. Dezember 2014, obwohl unstrittig ist, dass er mental schwer erkrankt und nicht schuldfähig ist. Seine Schwester Victoria Pannetti bittet um Mithilfe, um die Hinrichtung zu stoppen:
 
Petition: Spare my brother's life, a schizophrenic man on death row 
https://www.change.org/p/gov-rick-perry-spare-my-brother-s-life-a-severe...

Sandra and Rodrick Reed react to death warrant for Rodney Reed (July 21, 2014)

https://www.youtube.com/watch?v=aRqxS62wjXA&feature=youtu.be

So, 1. März 2015 - US Botschaft - 15 Uhr
Kundgebung in Berlin - Stoppt die Hinrichtung von Rodney Reed in Texas

US Botschaft

Pariser Platz/Brandeburger Tor

Kundgebung vor US-Botschaft in Berlin: Stoppt die Hinrichtung von Rodney Reed!

https://linksunten.indymedia.org/de/node/133183