Abschiebepraxis: Polizisten zweifeln am Rechtsstaat

Erstveröffentlicht: 
18.10.2014

Seelsorger beklagen Traumatisierung von Kindern

Von Andreas Friedrich

 

Leipzig. Es ist ein Hilferuf in dramatischen Worten. Ein Brief der Polizeiseelsorge, der der LVZ vorliegt, beschreibt "furchtbare Szenen" bei der Abschiebung von Familien und Müttern mit Kindern. "Gestandene, kräftige" Polizeibeamte erleben ihren Einsatz als "schwerste Stunde ihres Berufslebens".

 

Dabei geht es nicht um Verhaftungen von Gewalttätern, Dealern oder Extremisten sondern um den Umgang mit Kindern bei der Abschiebung von Ausländern. Wenn Familien ohne Aufenthaltserlaubnis nachts in ihren Wohnungen aus dem Schlaf gerissen und außer Landes gebracht würden, spielten sich dramatische Szenen ab. Die könnten viele Beamte nur schwer mit ihrem Gewissen vereinbaren.

 

Kinder würden verängstigt und traumatisiert, wenn sie von Uniformierten geweckt und abtransportiert würden. Die Polizisten fühlten sich "an der Berufsehre gekratzt" und bekämen "Selbstzweifel an ihrem Beruf", heißt es. "Junge Beamte zweifelten am Rechtsstaat, sprachen von drohender Kälte im Innersten, um den Beruf weiter ausüben zu können", heißt es im Brief eines Polizeiseelsorgers an den Superintendenten. Das Schreiben gelangte auf Vermittlung von Landesbischof Jochen Bohl ans Innenministerium und den Landtag.

 

Allen fünf Seelsorgern in Sachsen wurde ein Gespräch angeboten, um über die geschilderten Vorgänge zu reden, heißt es aus dem Ministerium. Christian Mendt, Sprecher der Polizeiseelsorger beim Landeskirchenamt und Polizeipfarrer für Dresden und das Landeskriminalamt bestätigte, dass es solch ein Gespräch geben soll. Die Polizeipfarrer haben zwei Anliegen: Zum einen wollen sie klären, ob Kinder tatsächlich nachts abgeschoben werden müssen. Wenn doch, dann sollten sich auch dann Sozialpädagogen von Ausländerbehörde und Jugendamt um die Kinder kümmern.

 

Zum anderen solle den Beamten ein Weg gezeigt werden, wie mit Minderjährigen umgegangen werden könne, ohne dass humanitäre Grundsätze verletzt werden müssten. Die Seelsorger kennen die Belastungen, denen Beamte bei solchen Vollstreckungen ausgesetzt sind, so Mendt. Er bestätigt: "Es gibt eine ganze Reihe von Polizisten, die unter diesen Einsätzen leiden. Es sind mehrere und nicht einzelne Fälle."

 

Der Hilferuf der Seelsorge beklagt die Verletzung biblischer Gebote wie dem Schutz der Fremden und der Fürsorge Jesu an den Kindern. Und er kritisiert die Inkaufnahme von Grundgesetzverstößen wie dem Recht auf körperliche Unversehrtheit bei Kindern. Ein solcher Verstoß sei die verursachte Traumatisierung. Was Kinder erleben, wird mit zwei Einzelfällen geschildert. Sie "weinen durchgängig" und seien voller Angst, heißt es. Manche hätten ihren Eltern die Polizeianweisungen zu dolmetschen, was sie völlig überfordere. Kinder mussten ansehen, wie ihre Mutter "mit Helm und gefesselt im Tragetuch" ins Auto gehievt und gemeinsam mit den Kindern im selben Fahrzeug zur Grenze gebracht wurde.

 

Der Anblick der gefesselten, sich trotz medikamentöser Ruhigstellung wehrenden Mutter ließ die Beamten vermuten, dass die Kinder seelisch schwer geschädigt würden. Die Kleinen weinten heftig, auch für den großen Sohn gab es trotz Beschwichtigungen der Polizisten "kein Halten". Weil die Behörden des Ziellandes die Annahme der Familie verweigerten, kam die Mutter ins Krankenhaus und die Kinder ins Heim. Später wurde die Familie wieder in ihre alte Wohnung gebracht.

 

Es war nicht ihre erste Abschiebung und wohl nicht die letzte. Polizeiseelsorger fordern im Namen der Beamten, dass wenigstens die organisatorischen Belange verbessert werden. Doch auch die Frage nach dem Sinn der Abschiebung klingt durch. Denn oft stelle sich heraus, dass die Kinder in ihren Schulen bestens integriert seien, gut Deutsch sprechen würden und eine neue Heimat gefunden hätten.

 

Aus dem Innenministerium heißt es, eine Abschiebung sei ultima ratio, wenn der angeordneten Ausreisepflicht nicht freiwillig nachgekommen worden sei. Den Beamten stehe nach dem Einsatz seelsorgerische Hilfe zur Verfügung. Im übrigen seien sie in ihrer Ausbildung auf solche Situationen vorbereitet worden.