Suizidversuch einer Flüchtlingsfrau in Annaburg, Landkreis Wittenberg

Abschiebeflieger stoppen!

Stellungnahme des Antirassistischen Netzwerk Sachsen-Anhalt und der Gruppe no lager halle zu dem Suizidversuch in Annaburg, Landkreis Wittenberg Eine junge Frau aus Nigeria versucht sich aus Verzweiflung und Angst vor einer drohenden Abschiebung gewaltsam das Leben zu nehmen. Auch zwei ihrer vier Kinder sollten dabei sterben. Der Ehemann kann den Suizid und den Tod der Kinder verhindern.

 

Die Frau muss im Nachgang intensiv medizinisch betreut werden. Der gesamten Familie droht eine erneute Abschiebung nach Italien. In Deutschland wird ihnen aufgrund der Dublin-Verordnung1 ein Asylverfahren verwehrt. Während die ein oder andere Stelle Betroffenheit über die Drastik der Tragödie äußert, wird von den Behörden nach deutscher, bürokratischer Manier die Verantwortung für das Schicksal der Familie von sich gewiesen.

 

Zu der Tragödie kam es am Sonntag, den 7. September in Annaburg im Landkreis Wittenberg2. Sie ist nicht die einzige, die das Antirassistische Netzwerk in Sachsen-Anhalt allein in den letzten Monaten registriert und veröffentlicht hat. Vor nicht einmal einem Monat beging ein junger Flüchtling aus dem Senegal im Lager in Haldensleben (Landkreises Börde) Suizid. Im Februar diesen Jahres kam es außerdem zu einem Selbstmordversuch im Lager in Burg (Landkreises Jerichower Land). Und im August 2013 nahm sich ein Flüchtling im Lager in Harbke (Landkreis Börde) das Leben.

 

Bei allen Fällen handelte es sich um Menschen, die vor dem Hintergrund völliger Perspektivlosigkeit, damit einhergehenden Depressionen u.ä. sowie fehlender therapeutischer Begleitung den einzigen Ausweg im Selbstmord sahen. Auffällig aber ist, dass das Schicksal der drei sogenannten „alleinreisenden“ Männer bei Weitem nicht in dem selben Maß am Gewissen der bürgerlichen Mitte gerüttelt hat, wie es nun das Schicksal der Frau und Mutter in Annaburg tut. Auch das eine Spielart von Ausgrenzung und rassistischer Denke.

 

All diese Menschen waren bzw. sind auf der Suche nach Schutz vor Verfolgung und einem menschenwürdigen Leben nach Europa, nach Deutschland gekommen. Hier angekommen als Flüchtlinge, im deutschen Sprech als Asylbewerber und Asylbewerberinnen tituliert, sind sie konfrontiert mit einem rassistischen und menschenverachtendem Grenz- und Migrationsregime, das darauf aus ist, die ankommenden Menschen im Sinne der kapitalistischen Verwertungslogik nach „nützlichen“ und „unbrauchbaren“ MigrantInnen zu sortieren. Wer Kapital und Wissen mitbringt, darf bleiben. Alle anderen werden abgewiesen, illegalisiert oder abgeschoben. Hinzu kommt, dass die in Europa ankommenden Flüchtlinge seit dem Inkrafttreten der Dublin-Verordnung nicht mehr das Recht haben, das Land, in dem sie ihren Asylantrag stellen wollen, frei wählen zu können. Allein 2013 hat Deutschland über 35.000 Mensch nach Italien, Ungarn, Spanien etc. „rückgeführt“.3

Doch Menschen lassen sich nicht wie eine fehlgeleitete Postsendung zurückschicken. Dies zeigt einmal mehr der tragische und dramatische Fall aus Annaburg.

 

Und wie so oft weisen auch diesmal die zuständigen Behörden die Verantwortung von sich, wie mit der Äußerung des stellvertretenden Landrates von Wittenberg, Jörg Hartmann (CDU) in der MZ deutlich wird: „Die Situation bei Abschiebungen ist ‚emotional und schwierig‘, betonte Hartmann, allerdings setze die Ausländerbehörde des Kreises nur um, was die Bundesbehörden, die die Fälle prüfen, entscheiden.“4

 

Erstaunlich auch die Wortmeldungen der Kreisvorsitzende der Grünen, Reinhild Hugenroth und des Superintendenten Christian Beuchels im selbigen MZ-Artikel: „Inwieweit ist die Familie beraten worden. Wir haben auch in der Kirche Menschen, die sich da auskennen.“

Seit Jahren kämpfen Flüchtlinge im Landkreis Wittenberg für ihre Rechte und haben wiederholt öffentlich auf die eklatanten Mängel bei der Unterbringung, Beratung und der sozialen und psychischen Betreuung von Flüchtlingen hingewiesen. Seit ihrem Umzug von Möhlau nach Vockerode haben die Flüchtlinge aber bis auf Ausnahmen kaum eine nennenswerte Unterstützung für ihre Anliegen aus der Zivilgesellschaft oder der Kirche bekommen.

 

Oberflächlich betrachtet hat der Landkreis mit der Abschaffung der Gutscheine und seinem „dezentralen Unterbringungskonzept“ die Lebenssituation für Flüchtlinge verbessert. Doch bei einem genaueren Blick auf das Konzept und vor allem auf die realen Wohn- und Lebensverhältnisse zeigt sich ein anderes Bild:

Die in Annaburg untergebrachten Familien erhalten trotz der Abschaffung aktuell zum Einkaufen Gutscheine statt Bargeld. Einige der Kinder gehen seit Monaten weder zur Schule noch in den Kindergarten. Im Ort selbst gibt es keine öffentlichen Freizeit- oder Spielmöglichkeit. Eine kompetente und unabhängige Beratungsstelle haben all diese Menschen noch nie aufgesucht, weil es sie im Landkreis schlicht und einfach nicht gibt. Neben der fehlenden Beratung bleibt es auch weiterhin ein Rätsel, wieso es dem Landkreis nicht möglich ist Wohnungen in einem angemessenen Umfeld in der Stadt Wittenberg zur Verfügung zu stellen oder noch besser, den Menschen eine ganz normale selbstbestimmte Wohnungssuche zu zutrauen. An Leerstand mangelt es in Wittenberg immer noch nicht. Stattdessen werden die betroffenen Menschen ohne Kompromisse auf Dörfer wie Vockerode, Annaburg oder Zahna verteilt.

 

Allein ein angemessenes Wohnumfeld und eine Beratungsstelle ändern nichts an dem Problem der geringen Anerkennung von Asylgesuchen oder dem Dublin-System. Und doch sind sie Teil eines komplexen Ensembles von Ausgrenzungsmechanismen und rassistischen Praktiken und Gesetzen.

Im Fall der Familie aus Annaburg wird mehr als deutlich, wie stark der Druck des deutschen Grenzregimes auf Flüchtlinge sein muss, wenn eine Mutter keinen anderen Ausweg mehr sieht als ihrem und dem Leben ihrer Kinder ein Ende zu setzen. Inwieweit das verzweifelte Handeln der Mutter nun auch strafrechtliche und damit letztlich auch aufenthaltsrechtliche Konsequenzen haben wird, ist noch offen.5

 

Klare Worte zur Situation findet Michael Marquardt, Geschäftsführer der Auslandsgesellschaft Sachsen-Anhalt im bereits zitiertem MZ-Artikel: „‚Die Regeln sind so, wir können nichts machen‘ - diesen Satz höre er immer wieder, (...) ‚Wenn das so ist, dann sind die Regeln falsch‘, bekräftigt Marquardt.“

 

Diesem Statement können wir uns anschließen und fordern eine Aufhebung der Dublin-Reglung und ein Bleiberecht für die Familie in Annaburg!

Bleiberecht statt Abschiebungen! Dublin-Abkommen kippen!6