Brief aus dem Knast von Mahienour el-Masry: „Lasst uns dieses Klassensystem niederreißen!“

Mahienour el-Masry

"Ich habe nicht viel mit­be­kom­men, was drau­ßen pas­siert, seit ich hier ein­sit­ze und meine Haft­stra­fe be­stä­tigt wurde. Wenn je­mand aus un­se­ren Rei­hen ein­ge­sperrt wird, kann ich mir aber gut vor­stel­len, dass die vir­tu­el­le Welt sehr schnell voll ist mit Slo­gans wie „Frei­heit für So­und­so“ oder „Die Mu­tigs­ten sit­zen im Ge­fäng­nis“ und so wei­ter.

 

Seit ich al­ler­dings das Da­man­hour Frau­en­gefäng­nis be­tre­ten habe und mit den an­de­ren In­sas­sen im Zel­len­block 1 zu­sam­men­ge­kom­men bin, kann ich nur an eins den­ken: Lasst uns die­ses Klas­sen­sys­tem nie­der­rei­ßen!

 

Die meis­ten in die­sem Block sind im Ge­fäng­nis, weil sie ihre Schul­den nicht mehr be­zah­len konn­ten. Da ist die Mut­ter, die Geld ge­borgt hat, um ihre Toch­ter zu ver­hei­ra­ten, die Frau, die Geld für ihren kran­ken Mann brauch­te, und die Frau, die sich 2000 Ägyp­ti­sche Pfund (205 Euro) ge­borgt hat um zum Ga­rant eines Mark­lers zu wer­den und jetzt zur Zah­lung von 3 Mil­lio­nen Ägyp­ti­schen Pfund (308240 Euro) ver­ur­teilt wurde.

 

Der Zel­len­block ist ein Mi­kro­kos­mos der Ge­sell­schaft. Die Rei­chen be­kom­men, was sie wol­len, die Armen müs­sen sogar hier ihre Ar­beits­kraft ver­kau­fen. Die In­sas­sen dis­ku­tie­ren die Er­eig­nis­se im Land. Ich habe Frau­en ken­nen­ge­lernt, die al-​Si­si un­ter­stüt­zen, weil sie glau­ben, dass die Be­trugs­fäl­le eine Ge­ne­ral­am­nes­tie be­kom­men, wenn er zum Prä­si­den­ten ge­wählt wird.

 

Dann gibt es jene, die für al-​Si­si sind, weil er an­ge­kün­digt hat die ter­ro­ris­ti­schen De­mons­tra­tio­nen mit ei­ser­ner Faust zu zer­schla­gen – trotz aller Sym­pa­thie für mich und ihrem Emp­fin­den, dass ich mög­li­cher­wei­se zu Un­recht ein­ge­sperrt bin.

 

Es gibt eine Frau, die Ham­de­en Sa­bahi un­ter­stützt [ein­zi­ger Ge­gen­kan­di­dat zu el-​Si­si in den Prä­si­dent­schafts­wah­len im Juni 2014, Anm.], weil er wie sie aus der glei­chen un­ter­schro­cke­nen Ecke kommt und er ver­spro­chen hat, alle Ge­fan­ge­nen zu be­frei­en. Sie wie­der­holt das, nur um von ihren Mit­häft­lin­gen nie­der­ge­schrien zu wer­den, da die­ses Ver­spre­chen nur für die po­li­ti­schen Häft­lin­ge gilt.

 

Und dann gibt es noch jene Frau­en die den­ken, dass die Wah­len oh­ne­hin eine Farce sind und sie sie boy­kot­tie­ren wür­den,wären sie nicht in Haft.

 

Der Zel­len­block ist ein Mi­kro­kos­mos der Ge­sell­schaft. Ich fühle mich, als hätte ich meine Fa­mi­lie di­rekt um mich. Sie alle er­mun­tern mich, mir Ge­dan­ken über meine Zu­kunft für die Zeit nach dem Ge­fäng­nis zu ma­chen. Ich sage, dass die Men­schen hier Bes­se­res ver­dient haben und dass wir noch keine Ge­rech­tig­keit er­langt haben – al­ler­dings wer­den wir es wei­ter ver­su­chen nicht und nicht auf­hö­ren, ehe wir eine bes­se­re Ge­sell­schaft er­rich­tet haben.

 

Ich sage das und lese dann von der Nach­richt, dass Hosni Mu­ba­rak wegen Kor­rup­ti­on im „Fall der Prä­si­den­ten­pa­läs­te“ drei Jahre hin­ter Git­ter muss (Ver­un­treu­ung bei Re­no­vie­rungs­ar­bei­ten, Anm.). Da muss ich la­chen und ihnen er­zäh­len, das Re­gime glau­be of­fen­sicht­lich, dass Um Ahmed,die­für die Aus­stel­lung von un­ge­deck­ten Schecks die den Wert von50000 Ägyp­ti­schen Pfund(5137 Euro) be­reits seit acht Jah­ren im Ge­fäng­nis sitzt und noch wei­te­re sechs vor sich hat, ge­fähr­li­cher sei, als Mu­ba­rak. Wel­che Zu­kunft soll ich bauen in so einer un­ge­rech­ten Ge­sell­schaft?

 

Die Ge­fan­ge­nen bil­den sich ein, al-​Si­si wäre ihr Ret­ter. Den­noch spre­chen sie immer noch über so­zia­le Ge­rech­tig­keit und das Klas­sen­sys­tem.

 

Wir dür­fen nie ver­ges­sen, wofür wir wirk­lich kämp­fen, die Ziele für die wir Ge­nos­s_in­nen und Freun­de ver­lie­ren. Wir dür­fen nicht zu einer Kam­pa­gne für die Frei­las­sung einer ein­zel­nen Per­son wer­den und dabei die Be­dürf­nis­se der ägyp­ti­schen Be­völ­ke­rung ver­ges­sen, die Brot auf dem Tisch braucht. Wäh­rend wir Slo­gans gegen die An­ti-​Pro­test-​Ge­set­ze sin­gen, müs­sen wir gleich­zei­tig dafür kämp­fen, die Klas­sen­ge­sell­schaft zu stür­zen. Wir müs­sen uns or­ga­ni­sie­ren, mit Leu­ten zu­sam­men­kom­men, mit ihnen über die Rech­te der Armen spre­chen und über un­se­re Lö­sun­gen für die wach­sen­de Un­ge­rech­tig­keit und für ihre Frei­heit kämp­fen damit sie sich nicht von uns dis­tan­ziert füh­len.

 

Wenn wir die For­de­rung nach Frei­heit für alle er­he­ben, lasst es Frei­heit sein für Say­y­ida, Heba und Fatma, drei Mäd­chen, die ich im Si­cher­heits­bü­ro von Alex­an­dria ge­trof­fen habe Sie wer­den be­schul­digt, zur Mus­lim­bru­der­schaft zu ge­hö­ren, ihre An­kla­gen kön­nen zur To­des­stra­fe füh­ren. Sie wur­den zu­fäl­lig ver­haf­tet und ihre Haft wird seit Ja­nu­ar ver­län­gert ohne das sie vor einem Ge­richt ste­hen.– Frei­heit für Um Ahmad, die ihre Kin­der seit acht Jah­ren nicht mehr ge­se­hen hat, Frei­heit für Um Dina, die ihre Fa­mi­lie al­lei­ne ver­sorgt, Frei­heit für Na’amat, die sich ver­schul­det hat um ihre Kin­der er­näh­ren zu kön­nen. Frei­heit für Farha, Wafaa, Kaw­t­har, Sanaa, Da­walt, Sa­miaI­man, Amal und Mer­vat! Unser Schmerz ist nichts gegen ihren.

 

Nie­der mit der Klas­sen­ge­sell­schaft, die wir nicht stür­zen kön­nen wenn wir die wahr­lich Un­ter­drück­ten ver­ges­sen."

 

Ma­hi­enour el-​Mass­ry

 

Zelle 8, Block 1

Da­man­hour Frau­en­gefäng­nis, 22. Mai 2014

 

 

An­mer­kung re­cher­che­grup­pe auf­stand:

 

Ma­hi­enour el-​Mass­ry ist eine von zahl­rei­chen ägyp­ti­schen op­po­si­tio­nel­len Ak­ti­vis­tIn­nen, die der­zeit mit einer mas­si­ven Re­pres­si­ons­wel­le aus­ge­schal­tet wer­den sol­len. Diese deut­sche Über­set­zung ihres Brie­fes aus dem Knast er­schien am

28.​06.​2014 auf der web­site der Re­vo­lu­tio­nä­ren So­zia­lis­ten 

 

Ma­hi­enour el-​Mass­ry wurde ges­tern er­neut vor Ge­richt vor­ge­führt, bis zu einem neuem Ter­min Mitte Juli muss sie auf jeden Fall im Knast blei­ben.

 

http://www.youtube.com/watch?v=l6mIrYFdjh4&feature=player_embedded

 

Video vom gest­ri­gen Tag, Kurz­be­richt auf eng­lisch dazu hier

 

 

In­for­ma­tio­nen auf eng­lisch zur Si­tua­ti­on der in­haf­tier­ten Ge­fähr­tIn­nen in Ägyp­ten fin­den sich u.a. hier:

 

egypt so­li­da­ri­ty in­itia­ti­ve

 

mena so­li­da­ri­ty net­work

 

Mada Masr