«Die Türkei könnte einen kurdischen Staat akzeptieren»

Erstveröffentlicht: 
17.06.2014

Das ölreiche Kirkuk unter kurdischer Kontrolle stellte bisher eine rote Linie Ankaras dar. Nun ist genau dieser Fall eingetreten – und die Türkei hält sich zurück. Weshalb? Dazu Politologin Gülistan Gürbey. In früheren Jahren wollte die Türkei unbedingt eine kurdische Kontrolle über das ölreiche Kirkuk verhindern und hat auch mit dem Einmarsch gedroht. Weshalb ist nun nichts aus Ankara zu hören?

 

Die Bedrohung durch Isis umfasst nicht nur den Irak oder die Kurden im Irak, sondern alle Staaten in der Region, natürlich auch die Türkei. Isis ist der gemeinsame Feind, den man bekämpfen muss. Die Frage des Einmarschs der Kurden in Kirkuk ist dabei zunächst einmal sekundär.

 

Die Türkei könnte also nach einem allfälligen Zurückdrängen von Isis den Abzug der Kurden verlangen?

Das bleibt abzuwarten. Fakt ist, dass sich die Kurden in den Augen Washingtons, aber auch Ankaras und anderer Regierungen in der Region, über die Jahre und gerade jetzt wieder als Ordnungs- und Stabilitätsfaktor gezeigt haben. Die Haltung Ankaras wird auch davon abhängen, wie sich die Situation insgesamt entwickelt. Die Herausforderung könnte bald anstehen, die Kurdenfrage im Nahen Osten neu zu überdenken und dabei die Stabilisierungsrolle der Kurden stärker in den Vordergrund zu rücken.

 

Könnte es sein, dass sich die türkische Regierung mit einem unabhängigen oder quasi unabhängigen Kurdistan im Nordirak abgefunden hat?

Damit hat sie sich wohl noch nicht abschliessend abgefunden. Das Ziel der Türkei ist es, einen solchen Staat möglichst zu verhindern aus Angst vor den Auswirkungen auf die eigenen Kurden und die Kurden in der Region insgesamt. Allerdings ist der Anpassungsdruck aufgrund des syrischen Bürgerkrieges, der erfolgreichen Rolle der syrischen Kurden und aufgrund der irakisch-kurdischen Autonomie, aber auch aufgrund der inneren Kurdenfrage angestiegen. Die Türkei könnte damit möglicherweise nicht nur eine Ordnungsrolle der Kurden akzeptieren, sondern auch einen kurdischen Staat im Nordirak, der in den Schutz der Türkei gelangen könnte. Ankara könnte so die Rolle einer Schutzmacht übernehmen, zumal die Beziehungen zwischen der Türkei und den irakischen Kurden in letzter Zeit strategisch, wirtschaftlich und energiepolitisch sehr intensiviert wurden.

 

Wie verhalten sich dabei die nordirakischen Turkmenen, die in Ankara eine Schutzmacht ihrer eigenen Ansprüche auf Kirkuk sehen?

Die Turkmenen kooperieren im Nordirak mit den Kurden. Ankara hat die turkmenische Karte in letzter Zeit nicht mehr so intensiv eingesetzt wie zuvor. Stattdessen hat man darauf hingewirkt, dass die Turkmenen in die kurdische Politik eingebunden werden und so ihren Einfluss ausüben können.

 

Könnten die Kurden die Türkei als Schutzmacht überhaupt akzeptieren?

Zum jetzigen Zeitpunkt kann man sagen, dass diese Frage sicher wieder einmal eine innerkurdische Diskussion auslösen wird. Die ist aber nicht neu. Viele Kurden sehen das durchaus kritisch. Aufgrund ihrer geografischen Lage und der regionalen Konstellation – die Kurden sind umzingelt und auf mehrere Nationalstaaten verteilt – ist es kaum zu umgehen, sich an eine Regionalmacht anzulehnen. Und hier scheint Ankara in einer besseren Position zu sein als Teheran, Bagdad oder Damaskus.

 

Die Peshmerga gelten als motivierte und relativ gut ausgerüstete Truppe. Könnten sie den Kampf gegen Isis entscheiden?

Sie sind in der Lage, einen Sieg an ihren Grenzen herbeizuführen. Denn es geht um ihre Existenz.

 

Könnte bei anhaltendem Erfolg von Isis auch die Türkei im Irak und allenfalls in Syrien einmarschieren, um die Organisation zu zerschlagen?

Die Türkei würde mit den Kurden kooperieren. Einen Einmarsch zu erwägen, wäre innenpolitisch nicht durchzusetzen, und auch aussenpolitisch wäre ein isoliertes Vorgehen sicherlich nicht im Interesse der USA und der Regionalstaaten.

 

Was fordern die Kurden von der irakischen Zentralregierung für ihren Einsatz gegen Isis?

Die Interessen der Kurden sind klar: Sie wollen die Hoheit beziehungsweise die Souveränität über das eigene Erdöl und Erdgas auf ihrem Territorium, die Einverleibung Kirkuks und weiterer umstrittener Gebiete in den Provinzen Ninawa, Salah al-Din und Diyala. Diese Streitfragen sind nicht erst heute entstanden, sondern sie existierten bereits lange zuvor, spätestens seit dem Autonomieabkommen mit dem Saddam-Regime vom März 1970, das aufgrund des diktatorischen Regimes nicht umgesetzt werden konnte. Es sind also Streitfragen mit historischer Verwurzelung und Kontinuität.

 

Welche Rolle spielen die USA und allenfalls europäische Kräfte?

Die USA setzen auf die Kurden und auf die Türkei. Dennoch will die USA kein Auseinanderdriften des Irak. Mit der Türkei sind sie strategische Partner, was von beiden Seiten nicht infrage gestellt wird. Ein gemeinsames Agieren vor dem Hintergrund des gemeinsamen Feindes Isis darf überhaupt nicht überraschen. Selbst wenn Isis besiegt ist, wird der Irak weiterhin ein failed state sein. Diesen Umstand mit aller Härte aufrechtzuerhalten, wird nicht die nationale Einheit des Irak herbeiführen. Die Kurdenfrage sollte neu überdacht werden und als Ordnungs- und Stabilitätsfaktor stärker als bisher in Betracht gezogen werden, das bedeutet, auch die Errichtung eines kurdischen Staates im Nordirak sollte in die Überlegungen einbezogen werden.