Die Mordlust der deutschen Rechtsextremen

Erstveröffentlicht: 
06.12.2013

Vermutlich gehen noch weit mehr Morde als bisher angenommen aufs Konto deutscher Neonazis. Das Bundeskriminalamt nimmt 746 Fälle unter die Lupe.

 

In gewissen Milieus gehört es zum guten Ton, Rechts- und Linksextreme in einem Atemzug zu nennen. Das kann man, wenn es um Dinge wie die Dürftigkeit und die potenzielle Gefährlichkeit des ideologischen Ansatzes, um Antisemitismus, Antikapitalismus, Antiamerikanismus oder um militante Demokratiefeindlichkeit geht. Man kann es nicht, wenn es um die Bereitschaft zum Morden geht. Was Rechtsextreme tun, unterscheidet sich in dieser Hinsicht sowohl qualitativ als auch quantitativ markant von dem, was Linksextreme tun, wie eben eine neue interne Untersuchung des Bundeskriminalamts ergeben hat. Die Zahl rechtsextremistisch motivierter Morde, so die Kurzfassung, könnte noch bedeutend höher liegen als bisher angenommen.

 

Falsch abgelegt


Laut Angaben des Innenministeriums haben Rechtsextreme seit 1990 mindestens 63 Menschen ermordet. Diese Zahl haben Medien, Migrantenverbände und Nichtregierungsorganisationen stets als zu niedrig betrachtet. Der Hauptgrund für die behauptete Verzerrung ist das problematische gesetzliche Raster der «politisch motivierten Straftat». Was von den Behörden nicht zweifelsfrei als «politisch motiviert» erkannt wurde, wurde auch nicht gezählt. Der Berliner «Tagesspiegel» und die «Zeit» haben errechnet, dass seit der Wende 152 Menschen Opfer rechtsextremer Gewalt wurden; die Amadeu-Antonio-Stiftung spricht gar von bis zu 184 Toten in diesem Zeitraum. Der Politikwissenschafter Richard Stöss von der Freien Universität Berlin berichtet von einem Fall in Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2002, der diese Schwierigkeit belegt. Da erschoss ein Rechtsextremer bei einer Fahrzeugkontrolle zuerst einen und dann auf der Flucht zwei weitere Polizisten. Eingestuft wurde der Fall allerdings bloss als einfache Kriminalität, da kein unmittelbarer rechtsextremistischer Hintergrund festzustellen war.

 

Nun hat das Bundeskriminalamt noch einmal 3300 Tötungsdelikte, sowohl vollendete als auch versuchte, die zwischen 1990 und 2011 geschahen, unter die Lupe genommen. Untersucht wurde beispielsweise, ob die Opfer einen Migrationshintergrund hatten oder ob sie obdachlos waren. Dabei kam das Kriminalamt zum Schluss, dass es in 746 Fällen Anhaltspunkte dafür gibt, dass auch diese Taten rechtsextremistisch motiviert gewesen sein könnten. Insgesamt wurden in diesen Fällen 849 Menschen umgebracht.

 

Überschrittener Zenit


Natürlich sind diese Zahlen mit Vorsicht zu geniessen. Anfang Januar sollen sie an die Landeskriminalämter gehen, die für die Endabklärung zuständig sind, und es ist durchaus möglich, dass sich der Anfangsverdacht in vielen Fällen nicht erhärtet. Doch selbst wenn dies so sein sollte, deutet die neue Selbstbefragung der Behörden ein Umdenken an. Richard Stöss glaubt, dass sich die politische Kultur der Bundesrepublik seit den Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) grundlegend geändert hat. Was da ans Tageslicht gekommen sei, so Stöss, habe in Behörden und Parlamenten einen «heilsamen Schock» ausgelöst und die Einsicht gebracht, dass es so nicht weitergehen könne. Stöss glaubt allerdings auch, dass der rechtsextreme Terror seinen Zenit in Deutschland überschritten hat. Von nun an werde die Aufmerksamkeit der Polizei grösser sein. Zudem werde die NPD, die weiterhin als legale Partei agieren wolle, alles daransetzen, die rechtsextreme Szene zu beruhigen und allfällige Verbindungen zu kappen.

 

Für Fachleute werden die Abklärungen der kommenden Monate nur wenige neue Erkenntnisse bringen. Schon lange ist klar, dass Neonazis gewissermassen «nach unten» morden – die Taten des Nationalsozialistischen Untergrundes haben es einmal mehr gezeigt. Ins Visier genommen werden die Schwächsten, meist Ausländer, oft Menschen dunkler Hautfarbe. Seit den Zeiten der Rote-Armee-Fraktion (RAF) sind dagegen offiziell keine Morde mit linksextremistischem Hintergrund mehr bekanntgeworden. Mordende Linksextreme wie einst die RAF nahmen zwar die Tötung von Fahrern, Leibwächtern oder Polizisten in Kauf. Doch sie zielten in den meisten Fällen «nach oben». Nicht anonyme Schwache sollten ermordet werden, sondern Mitglieder der gesellschaftlichen Elite, «Verantwortliche» in der Optik der Täter. Ausgesucht wurden sie nach strategischen Gesichtspunkten. Oft wurde über Monate hinweg minuziös recherchiert. Rechtsextremen Gewalttätern genügt es dagegen, wenn das Opfer in eine ihnen nicht genehme Kategorie fällt. Sie scheinen zudem primär dann zu morden, wenn sie feststellen, dass die Opfer möglichst gefahrlos liquidiert werden können.